Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 2. Pesth, 1857.

Bild:
<< vorherige Seite

ohne Roland wäre das Bild nicht verkauft worden,
bis es immer mehr verfallen, und einmal vernichtet
worden wäre. Oft stand ich in späteren Zeiten noch
davor, und hatte manche Freude in Betrachtung des
Werkes. Ich sah das Angesicht und die Hände der
Mutter an, und sah das theils nackte theils durch
schöne Tücher schicklich verhüllte Kind. Ein dem
Lande Italien so häufig zukommendes Zeichen ist es,
daß das Kind nicht in den Armen der Mutter gehal¬
ten wird, sondern daß es mit schönem Hinneigen zu
derselben und von ihr leicht und sanft umfaßt auf
einem erhöhten Gegenstande vor ihr steht. Der Künst¬
ler hat dadurch nicht nur Gelegenheit gefunden, den
Körper des Kindes in einer weit schöneren Stellung
zu malen, als wenn er von der Mutter an ihren Bu¬
sen gehalten gewesen wäre, sondern er hat noch den
weit höheren Vortheil erreicht, das göttliche Kind in
seiner Kraft und in seiner Freiheit zu zeigen, was die
Wirkung hat, als ehrten wir gleichsam schon die
Macht, mit welcher es einstens handeln wird. Daß
südliche Völker den Heiland als Kind in so großer
sinnlicher Schönheit malen, hat mich immer entzückt,
und wenn auf meinem Bilde das heilige Kind eher
wie ein kräftiger wunderschöner Leib des Südens aus¬

ohne Roland wäre das Bild nicht verkauft worden,
bis es immer mehr verfallen, und einmal vernichtet
worden wäre. Oft ſtand ich in ſpäteren Zeiten noch
davor, und hatte manche Freude in Betrachtung des
Werkes. Ich ſah das Angeſicht und die Hände der
Mutter an, und ſah das theils nackte theils durch
ſchöne Tücher ſchicklich verhüllte Kind. Ein dem
Lande Italien ſo häufig zukommendes Zeichen iſt es,
daß das Kind nicht in den Armen der Mutter gehal¬
ten wird, ſondern daß es mit ſchönem Hinneigen zu
derſelben und von ihr leicht und ſanft umfaßt auf
einem erhöhten Gegenſtande vor ihr ſteht. Der Künſt¬
ler hat dadurch nicht nur Gelegenheit gefunden, den
Körper des Kindes in einer weit ſchöneren Stellung
zu malen, als wenn er von der Mutter an ihren Bu¬
ſen gehalten geweſen wäre, ſondern er hat noch den
weit höheren Vortheil erreicht, das göttliche Kind in
ſeiner Kraft und in ſeiner Freiheit zu zeigen, was die
Wirkung hat, als ehrten wir gleichſam ſchon die
Macht, mit welcher es einſtens handeln wird. Daß
ſüdliche Völker den Heiland als Kind in ſo großer
ſinnlicher Schönheit malen, hat mich immer entzückt,
und wenn auf meinem Bilde das heilige Kind eher
wie ein kräftiger wunderſchöner Leib des Südens aus¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0179" n="165"/>
ohne Roland wäre das Bild nicht verkauft worden,<lb/>
bis es immer mehr verfallen, und einmal vernichtet<lb/>
worden wäre. Oft &#x017F;tand ich in &#x017F;päteren Zeiten noch<lb/>
davor, und hatte manche Freude in Betrachtung des<lb/>
Werkes. Ich &#x017F;ah das Ange&#x017F;icht und die Hände der<lb/>
Mutter an, und &#x017F;ah das theils nackte theils durch<lb/>
&#x017F;chöne Tücher &#x017F;chicklich verhüllte Kind. Ein dem<lb/>
Lande Italien &#x017F;o häufig zukommendes Zeichen i&#x017F;t es,<lb/>
daß das Kind nicht in den Armen der Mutter gehal¬<lb/>
ten wird, &#x017F;ondern daß es mit &#x017F;chönem Hinneigen zu<lb/>
der&#x017F;elben und von ihr leicht und &#x017F;anft umfaßt auf<lb/>
einem erhöhten Gegen&#x017F;tande vor ihr &#x017F;teht. Der Kün&#x017F;<lb/>
ler hat dadurch nicht nur Gelegenheit gefunden, den<lb/>
Körper des Kindes in einer weit &#x017F;chöneren Stellung<lb/>
zu malen, als wenn er von der Mutter an ihren Bu¬<lb/>
&#x017F;en gehalten gewe&#x017F;en wäre, &#x017F;ondern er hat noch den<lb/>
weit höheren Vortheil erreicht, das göttliche Kind in<lb/>
&#x017F;einer Kraft und in &#x017F;einer Freiheit zu zeigen, was die<lb/>
Wirkung hat, als ehrten wir gleich&#x017F;am &#x017F;chon die<lb/>
Macht, mit welcher es ein&#x017F;tens handeln wird. Daß<lb/>
&#x017F;üdliche Völker den Heiland als Kind in &#x017F;o großer<lb/>
&#x017F;innlicher Schönheit malen, hat mich immer entzückt,<lb/>
und wenn auf meinem Bilde das heilige Kind eher<lb/>
wie ein kräftiger wunder&#x017F;chöner Leib des Südens aus¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[165/0179] ohne Roland wäre das Bild nicht verkauft worden, bis es immer mehr verfallen, und einmal vernichtet worden wäre. Oft ſtand ich in ſpäteren Zeiten noch davor, und hatte manche Freude in Betrachtung des Werkes. Ich ſah das Angeſicht und die Hände der Mutter an, und ſah das theils nackte theils durch ſchöne Tücher ſchicklich verhüllte Kind. Ein dem Lande Italien ſo häufig zukommendes Zeichen iſt es, daß das Kind nicht in den Armen der Mutter gehal¬ ten wird, ſondern daß es mit ſchönem Hinneigen zu derſelben und von ihr leicht und ſanft umfaßt auf einem erhöhten Gegenſtande vor ihr ſteht. Der Künſt¬ ler hat dadurch nicht nur Gelegenheit gefunden, den Körper des Kindes in einer weit ſchöneren Stellung zu malen, als wenn er von der Mutter an ihren Bu¬ ſen gehalten geweſen wäre, ſondern er hat noch den weit höheren Vortheil erreicht, das göttliche Kind in ſeiner Kraft und in ſeiner Freiheit zu zeigen, was die Wirkung hat, als ehrten wir gleichſam ſchon die Macht, mit welcher es einſtens handeln wird. Daß ſüdliche Völker den Heiland als Kind in ſo großer ſinnlicher Schönheit malen, hat mich immer entzückt, und wenn auf meinem Bilde das heilige Kind eher wie ein kräftiger wunderſchöner Leib des Südens aus¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer02_1857
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer02_1857/179
Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 2. Pesth, 1857, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer02_1857/179>, abgerufen am 25.11.2024.