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Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 1. Pesth, 1857.

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Die Gebirge seien gar nicht entstanden, meinte
einer, sondern seien seit Erschaffung der Welt schon
dagewesen.

"Sie wachsen auch," sagte ein anderer, "jeder
Stein wächst, jeder Berg wächst wie die anderen
Geschöpfe. Nur," sezte er hinzu, weil er gerne ein
wenig schalkhaft war, "wachsen sie nicht so schnell wie
die Schwämme."

So stritten sie länger und öfter über diesen Ge¬
genstand, und so besprachen wir uns über unsere Ar¬
beiten. Sie lernten durch den bloßen Umgang mit
den Dingen des Gebirges und durch das öftere An¬
schauen derselben nach und nach ein Weiteres und
Richtigeres, und lächelten oft über eine irrige Ansicht
und Meinung, die sie früher gehabt hatten.

Mein Tagebuch der Aufzeichnungen zur Festhal¬
tung der Ordnung dehnte sich aus, die Blätter mehr¬
ten sich, und gaben Aussicht zu einer umfassenden und
regelmäßigen Zusammenstellung des Stoffes, wenn
die Wintertage oder sonst Tage der Muße gekommen
sein würden.

An Sonntagen oder zu anderen Zeiten, wo die
Arbeit minder drängte, gab es noch Gelegenheit zu

Die Gebirge ſeien gar nicht entſtanden, meinte
einer, ſondern ſeien ſeit Erſchaffung der Welt ſchon
dageweſen.

„Sie wachſen auch,“ ſagte ein anderer, „jeder
Stein wächſt, jeder Berg wächſt wie die anderen
Geſchöpfe. Nur,“ ſezte er hinzu, weil er gerne ein
wenig ſchalkhaft war, „wachſen ſie nicht ſo ſchnell wie
die Schwämme.“

So ſtritten ſie länger und öfter über dieſen Ge¬
genſtand, und ſo beſprachen wir uns über unſere Ar¬
beiten. Sie lernten durch den bloßen Umgang mit
den Dingen des Gebirges und durch das öftere An¬
ſchauen derſelben nach und nach ein Weiteres und
Richtigeres, und lächelten oft über eine irrige Anſicht
und Meinung, die ſie früher gehabt hatten.

Mein Tagebuch der Aufzeichnungen zur Feſthal¬
tung der Ordnung dehnte ſich aus, die Blätter mehr¬
ten ſich, und gaben Ausſicht zu einer umfaſſenden und
regelmäßigen Zuſammenſtellung des Stoffes, wenn
die Wintertage oder ſonſt Tage der Muße gekommen
ſein würden.

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[360/0374] Die Gebirge ſeien gar nicht entſtanden, meinte einer, ſondern ſeien ſeit Erſchaffung der Welt ſchon dageweſen. „Sie wachſen auch,“ ſagte ein anderer, „jeder Stein wächſt, jeder Berg wächſt wie die anderen Geſchöpfe. Nur,“ ſezte er hinzu, weil er gerne ein wenig ſchalkhaft war, „wachſen ſie nicht ſo ſchnell wie die Schwämme.“ So ſtritten ſie länger und öfter über dieſen Ge¬ genſtand, und ſo beſprachen wir uns über unſere Ar¬ beiten. Sie lernten durch den bloßen Umgang mit den Dingen des Gebirges und durch das öftere An¬ ſchauen derſelben nach und nach ein Weiteres und Richtigeres, und lächelten oft über eine irrige Anſicht und Meinung, die ſie früher gehabt hatten. Mein Tagebuch der Aufzeichnungen zur Feſthal¬ tung der Ordnung dehnte ſich aus, die Blätter mehr¬ ten ſich, und gaben Ausſicht zu einer umfaſſenden und regelmäßigen Zuſammenſtellung des Stoffes, wenn die Wintertage oder ſonſt Tage der Muße gekommen ſein würden. An Sonntagen oder zu anderen Zeiten, wo die Arbeit minder drängte, gab es noch Gelegenheit zu

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Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 1. Pesth, 1857, S. 360. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer01_1857/374>, abgerufen am 22.11.2024.