lebenden Mädchen, mit denen ich zusammentraf, sah ich die Angesichter an, ja ich ging an trockenen Win¬ tertagen auf öffentliche Spaziergänge, und sah die Angesichter der Mädchen an, die ich traf. Aber unter allen Köpfen sowohl den gemalten als auch den wirk¬ lichen war kein einziger, der ein Angesicht gehabt hätte, welches sich an Schönheit nur entfernt mit dem hätte vergleichen können, welches ich an dem Mäd¬ chen in der Loge gesehen hatte. Dieses Eine wußte ich, obwohl ich mir das Angesicht eigentlich gar nicht mehr vorstellen konnte, und obwohl ich es, wenn ich es wieder gesehen hätte, nicht erkannt hätte. Ich hatte es in einer Ausnahmsstellung gesehen, und im ruhi¬ gen Leben mußte es gewiß ganz anders sein.
Mein Vater hatte ein Bild, auf welchem ein le¬ sendes Kind gemalt war. Es hatte eine so ein¬ fache Miene, nichts war in derselben als die Aufmerk¬ samkeit des Lesens, man sah auch nur die eine Seite des Angesichtes, und doch war alles so hold. Ich ver¬ suchte das Angesicht zu zeichnen; allein ich vermochte durchaus nicht die einfachen Züge, von denen noch dazu das Auge nicht zu sehen war, sondern durch das Lid beschattet wurde, auch nur entfernt mit Linien wieder zu geben. Ich durfte mir das Bild herabneh¬
lebenden Mädchen, mit denen ich zuſammentraf, ſah ich die Angeſichter an, ja ich ging an trockenen Win¬ tertagen auf öffentliche Spaziergänge, und ſah die Angeſichter der Mädchen an, die ich traf. Aber unter allen Köpfen ſowohl den gemalten als auch den wirk¬ lichen war kein einziger, der ein Angeſicht gehabt hätte, welches ſich an Schönheit nur entfernt mit dem hätte vergleichen können, welches ich an dem Mäd¬ chen in der Loge geſehen hatte. Dieſes Eine wußte ich, obwohl ich mir das Angeſicht eigentlich gar nicht mehr vorſtellen konnte, und obwohl ich es, wenn ich es wieder geſehen hätte, nicht erkannt hätte. Ich hatte es in einer Ausnahmsſtellung geſehen, und im ruhi¬ gen Leben mußte es gewiß ganz anders ſein.
Mein Vater hatte ein Bild, auf welchem ein le¬ ſendes Kind gemalt war. Es hatte eine ſo ein¬ fache Miene, nichts war in derſelben als die Aufmerk¬ ſamkeit des Leſens, man ſah auch nur die eine Seite des Angeſichtes, und doch war alles ſo hold. Ich ver¬ ſuchte das Angeſicht zu zeichnen; allein ich vermochte durchaus nicht die einfachen Züge, von denen noch dazu das Auge nicht zu ſehen war, ſondern durch das Lid beſchattet wurde, auch nur entfernt mit Linien wieder zu geben. Ich durfte mir das Bild herabneh¬
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0323"n="309"/>
lebenden Mädchen, mit denen ich zuſammentraf, ſah<lb/>
ich die Angeſichter an, ja ich ging an trockenen Win¬<lb/>
tertagen auf öffentliche Spaziergänge, und ſah die<lb/>
Angeſichter der Mädchen an, die ich traf. Aber unter<lb/>
allen Köpfen ſowohl den gemalten als auch den wirk¬<lb/>
lichen war kein einziger, der ein Angeſicht gehabt<lb/>
hätte, welches ſich an Schönheit nur entfernt mit dem<lb/>
hätte vergleichen können, welches ich an dem Mäd¬<lb/>
chen in der Loge geſehen hatte. Dieſes Eine wußte<lb/>
ich, obwohl ich mir das Angeſicht eigentlich gar nicht<lb/>
mehr vorſtellen konnte, und obwohl ich es, wenn ich<lb/>
es wieder geſehen hätte, nicht erkannt hätte. Ich hatte<lb/>
es in einer Ausnahmsſtellung geſehen, und im ruhi¬<lb/>
gen Leben mußte es gewiß ganz anders ſein.</p><lb/><p>Mein Vater hatte ein Bild, auf welchem ein le¬<lb/>ſendes Kind gemalt war. Es hatte eine ſo ein¬<lb/>
fache Miene, nichts war in derſelben als die Aufmerk¬<lb/>ſamkeit des Leſens, man ſah auch nur die eine Seite<lb/>
des Angeſichtes, und doch war alles ſo hold. Ich ver¬<lb/>ſuchte das Angeſicht zu zeichnen; allein ich vermochte<lb/>
durchaus nicht die einfachen Züge, von denen noch<lb/>
dazu das Auge nicht zu ſehen war, ſondern durch das<lb/>
Lid beſchattet wurde, auch nur entfernt mit Linien<lb/>
wieder zu geben. Ich durfte mir das Bild herabneh¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[309/0323]
lebenden Mädchen, mit denen ich zuſammentraf, ſah
ich die Angeſichter an, ja ich ging an trockenen Win¬
tertagen auf öffentliche Spaziergänge, und ſah die
Angeſichter der Mädchen an, die ich traf. Aber unter
allen Köpfen ſowohl den gemalten als auch den wirk¬
lichen war kein einziger, der ein Angeſicht gehabt
hätte, welches ſich an Schönheit nur entfernt mit dem
hätte vergleichen können, welches ich an dem Mäd¬
chen in der Loge geſehen hatte. Dieſes Eine wußte
ich, obwohl ich mir das Angeſicht eigentlich gar nicht
mehr vorſtellen konnte, und obwohl ich es, wenn ich
es wieder geſehen hätte, nicht erkannt hätte. Ich hatte
es in einer Ausnahmsſtellung geſehen, und im ruhi¬
gen Leben mußte es gewiß ganz anders ſein.
Mein Vater hatte ein Bild, auf welchem ein le¬
ſendes Kind gemalt war. Es hatte eine ſo ein¬
fache Miene, nichts war in derſelben als die Aufmerk¬
ſamkeit des Leſens, man ſah auch nur die eine Seite
des Angeſichtes, und doch war alles ſo hold. Ich ver¬
ſuchte das Angeſicht zu zeichnen; allein ich vermochte
durchaus nicht die einfachen Züge, von denen noch
dazu das Auge nicht zu ſehen war, ſondern durch das
Lid beſchattet wurde, auch nur entfernt mit Linien
wieder zu geben. Ich durfte mir das Bild herabneh¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 1. Pesth, 1857, S. 309. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer01_1857/323>, abgerufen am 22.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.