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Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 1. Pesth, 1857.

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lebenden Mädchen, mit denen ich zusammentraf, sah
ich die Angesichter an, ja ich ging an trockenen Win¬
tertagen auf öffentliche Spaziergänge, und sah die
Angesichter der Mädchen an, die ich traf. Aber unter
allen Köpfen sowohl den gemalten als auch den wirk¬
lichen war kein einziger, der ein Angesicht gehabt
hätte, welches sich an Schönheit nur entfernt mit dem
hätte vergleichen können, welches ich an dem Mäd¬
chen in der Loge gesehen hatte. Dieses Eine wußte
ich, obwohl ich mir das Angesicht eigentlich gar nicht
mehr vorstellen konnte, und obwohl ich es, wenn ich
es wieder gesehen hätte, nicht erkannt hätte. Ich hatte
es in einer Ausnahmsstellung gesehen, und im ruhi¬
gen Leben mußte es gewiß ganz anders sein.

Mein Vater hatte ein Bild, auf welchem ein le¬
sendes Kind gemalt war. Es hatte eine so ein¬
fache Miene, nichts war in derselben als die Aufmerk¬
samkeit des Lesens, man sah auch nur die eine Seite
des Angesichtes, und doch war alles so hold. Ich ver¬
suchte das Angesicht zu zeichnen; allein ich vermochte
durchaus nicht die einfachen Züge, von denen noch
dazu das Auge nicht zu sehen war, sondern durch das
Lid beschattet wurde, auch nur entfernt mit Linien
wieder zu geben. Ich durfte mir das Bild herabneh¬

lebenden Mädchen, mit denen ich zuſammentraf, ſah
ich die Angeſichter an, ja ich ging an trockenen Win¬
tertagen auf öffentliche Spaziergänge, und ſah die
Angeſichter der Mädchen an, die ich traf. Aber unter
allen Köpfen ſowohl den gemalten als auch den wirk¬
lichen war kein einziger, der ein Angeſicht gehabt
hätte, welches ſich an Schönheit nur entfernt mit dem
hätte vergleichen können, welches ich an dem Mäd¬
chen in der Loge geſehen hatte. Dieſes Eine wußte
ich, obwohl ich mir das Angeſicht eigentlich gar nicht
mehr vorſtellen konnte, und obwohl ich es, wenn ich
es wieder geſehen hätte, nicht erkannt hätte. Ich hatte
es in einer Ausnahmsſtellung geſehen, und im ruhi¬
gen Leben mußte es gewiß ganz anders ſein.

Mein Vater hatte ein Bild, auf welchem ein le¬
ſendes Kind gemalt war. Es hatte eine ſo ein¬
fache Miene, nichts war in derſelben als die Aufmerk¬
ſamkeit des Leſens, man ſah auch nur die eine Seite
des Angeſichtes, und doch war alles ſo hold. Ich ver¬
ſuchte das Angeſicht zu zeichnen; allein ich vermochte
durchaus nicht die einfachen Züge, von denen noch
dazu das Auge nicht zu ſehen war, ſondern durch das
Lid beſchattet wurde, auch nur entfernt mit Linien
wieder zu geben. Ich durfte mir das Bild herabneh¬

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[309/0323] lebenden Mädchen, mit denen ich zuſammentraf, ſah ich die Angeſichter an, ja ich ging an trockenen Win¬ tertagen auf öffentliche Spaziergänge, und ſah die Angeſichter der Mädchen an, die ich traf. Aber unter allen Köpfen ſowohl den gemalten als auch den wirk¬ lichen war kein einziger, der ein Angeſicht gehabt hätte, welches ſich an Schönheit nur entfernt mit dem hätte vergleichen können, welches ich an dem Mäd¬ chen in der Loge geſehen hatte. Dieſes Eine wußte ich, obwohl ich mir das Angeſicht eigentlich gar nicht mehr vorſtellen konnte, und obwohl ich es, wenn ich es wieder geſehen hätte, nicht erkannt hätte. Ich hatte es in einer Ausnahmsſtellung geſehen, und im ruhi¬ gen Leben mußte es gewiß ganz anders ſein. Mein Vater hatte ein Bild, auf welchem ein le¬ ſendes Kind gemalt war. Es hatte eine ſo ein¬ fache Miene, nichts war in derſelben als die Aufmerk¬ ſamkeit des Leſens, man ſah auch nur die eine Seite des Angeſichtes, und doch war alles ſo hold. Ich ver¬ ſuchte das Angeſicht zu zeichnen; allein ich vermochte durchaus nicht die einfachen Züge, von denen noch dazu das Auge nicht zu ſehen war, ſondern durch das Lid beſchattet wurde, auch nur entfernt mit Linien wieder zu geben. Ich durfte mir das Bild herabneh¬

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Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 1. Pesth, 1857, S. 309. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer01_1857/323>, abgerufen am 22.07.2024.