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Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 1. Pesth, 1857.

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ob man mich beobachtet habe. Ich sah, daß alle An¬
gesichter auf die Bühne blickten, und daß sie in starker
Erregung gleichsam auf den Schauplaz hingeheftet
seien. Nur in einer ebenerdigen Loge sehr nahe bei mir
saß ein Mädchen, welches nicht auf die Darstellung
merkte, sie war schneebleich, und die Ihrigen waren
um sie beschäftigt. Sie kam mir unbeschreiblich schön
vor. Das Angesicht war von Thränen übergossen,
und ich richtete meinen Blick unverwandt auf sie. Da
die bei ihr Anwesenden sich um und vor sie stellten,
gleichsam um sie vor der Betrachtung zu decken,
empfand ich mein Unrecht, und wendete die Au¬
gen weg.

Das Stück war indessen aus geworden, und um
mich entstand die Unruhe, die immer mit dem Fort¬
gehen aus einem Schauspielhause verbunden ist. Ich
nahm mein Taschentuch heraus, wischte mir die Stirne
und die Augen ab, und richtete mich zum Fortgehen.
Ich ging in das Kleiderzimmer, holte mir meinen
Überrock, und zog ihn an. Als ich in den Vorsaal
kam, war dort ein sehr starkes Gedränge, und da er
mehrere Ausgänge hatte, wogten die Menschen viel¬
fach hin und her. Ich gab mich einem größeren Zuge
hin, der langsam bei dem Hauptausgange ausmün¬

Stifter, Nachsommer. I. 20

ob man mich beobachtet habe. Ich ſah, daß alle An¬
geſichter auf die Bühne blickten, und daß ſie in ſtarker
Erregung gleichſam auf den Schauplaz hingeheftet
ſeien. Nur in einer ebenerdigen Loge ſehr nahe bei mir
ſaß ein Mädchen, welches nicht auf die Darſtellung
merkte, ſie war ſchneebleich, und die Ihrigen waren
um ſie beſchäftigt. Sie kam mir unbeſchreiblich ſchön
vor. Das Angeſicht war von Thränen übergoſſen,
und ich richtete meinen Blick unverwandt auf ſie. Da
die bei ihr Anweſenden ſich um und vor ſie ſtellten,
gleichſam um ſie vor der Betrachtung zu decken,
empfand ich mein Unrecht, und wendete die Au¬
gen weg.

Das Stück war indeſſen aus geworden, und um
mich entſtand die Unruhe, die immer mit dem Fort¬
gehen aus einem Schauſpielhauſe verbunden iſt. Ich
nahm mein Taſchentuch heraus, wiſchte mir die Stirne
und die Augen ab, und richtete mich zum Fortgehen.
Ich ging in das Kleiderzimmer, holte mir meinen
Überrock, und zog ihn an. Als ich in den Vorſaal
kam, war dort ein ſehr ſtarkes Gedränge, und da er
mehrere Ausgänge hatte, wogten die Menſchen viel¬
fach hin und her. Ich gab mich einem größeren Zuge
hin, der langſam bei dem Hauptausgange ausmün¬

Stifter, Nachſommer. I. 20
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[305/0319] ob man mich beobachtet habe. Ich ſah, daß alle An¬ geſichter auf die Bühne blickten, und daß ſie in ſtarker Erregung gleichſam auf den Schauplaz hingeheftet ſeien. Nur in einer ebenerdigen Loge ſehr nahe bei mir ſaß ein Mädchen, welches nicht auf die Darſtellung merkte, ſie war ſchneebleich, und die Ihrigen waren um ſie beſchäftigt. Sie kam mir unbeſchreiblich ſchön vor. Das Angeſicht war von Thränen übergoſſen, und ich richtete meinen Blick unverwandt auf ſie. Da die bei ihr Anweſenden ſich um und vor ſie ſtellten, gleichſam um ſie vor der Betrachtung zu decken, empfand ich mein Unrecht, und wendete die Au¬ gen weg. Das Stück war indeſſen aus geworden, und um mich entſtand die Unruhe, die immer mit dem Fort¬ gehen aus einem Schauſpielhauſe verbunden iſt. Ich nahm mein Taſchentuch heraus, wiſchte mir die Stirne und die Augen ab, und richtete mich zum Fortgehen. Ich ging in das Kleiderzimmer, holte mir meinen Überrock, und zog ihn an. Als ich in den Vorſaal kam, war dort ein ſehr ſtarkes Gedränge, und da er mehrere Ausgänge hatte, wogten die Menſchen viel¬ fach hin und her. Ich gab mich einem größeren Zuge hin, der langſam bei dem Hauptausgange ausmün¬ Stifter, Nachſommer. I. 20

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Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 1. Pesth, 1857, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer01_1857/319>, abgerufen am 17.06.2024.