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Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 1. Pesth, 1857.

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hinein gehört hatte, seltsam gewesen war, erschien mir
nun sehr lieblich ja ehrwürdig, und wenn ich einen
Vogel durch einen Baum huschen sah oder über einen
Sandweg laufen, so erfüllte es mich mit einer Gat¬
tung Freude. Mein Begleiter führte mich zu einer
Hecke, wies mit dem Finger hinein und sagte:
"Seht."

Ich antwortete, daß ich nichts sähe.

"Schaut nur genauer," sagte er, indem er mit dem
Finger neuerdings die Richtung wies.

Ich sah nun unter einem äußerst dichten Dornen¬
geflechte, welches in die Hecke gemacht worden war,
ein Nest. In dem Neste saß ein Rothkehlchen, we¬
nigstens dem Rücken nach zu urtheilen. Es flog nicht
auf, sondern wendete nur ein wenig den Kopf gegen
uns, und sah mit den schwarzen glänzenden Augen
unerschrocken und vertraulich zu uns herauf.

"Dieses Rothkehlchen sizt auf seinen Eiern," sagte
mein Begleiter, "es ist eine Spätehe, wie sie öfter
vorkommen. Ich besuche es schon mehrere Tage, und
lege ihm die Larve des Mehlkäfers in die Nähe. Das
weiß der Schelm, darum frägt er mich schon darnach,
und fürchtet den Fremden nicht, der bei mir ist."

In der That, das Thierchen blieb ruhig in seinem

hinein gehört hatte, ſeltſam geweſen war, erſchien mir
nun ſehr lieblich ja ehrwürdig, und wenn ich einen
Vogel durch einen Baum huſchen ſah oder über einen
Sandweg laufen, ſo erfüllte es mich mit einer Gat¬
tung Freude. Mein Begleiter führte mich zu einer
Hecke, wies mit dem Finger hinein und ſagte:
„Seht.“

Ich antwortete, daß ich nichts ſähe.

„Schaut nur genauer,“ ſagte er, indem er mit dem
Finger neuerdings die Richtung wies.

Ich ſah nun unter einem äußerſt dichten Dornen¬
geflechte, welches in die Hecke gemacht worden war,
ein Neſt. In dem Neſte ſaß ein Rothkehlchen, we¬
nigſtens dem Rücken nach zu urtheilen. Es flog nicht
auf, ſondern wendete nur ein wenig den Kopf gegen
uns, und ſah mit den ſchwarzen glänzenden Augen
unerſchrocken und vertraulich zu uns herauf.

„Dieſes Rothkehlchen ſizt auf ſeinen Eiern,“ ſagte
mein Begleiter, „es iſt eine Spätehe, wie ſie öfter
vorkommen. Ich beſuche es ſchon mehrere Tage, und
lege ihm die Larve des Mehlkäfers in die Nähe. Das
weiß der Schelm, darum frägt er mich ſchon darnach,
und fürchtet den Fremden nicht, der bei mir iſt.“

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[249/0263] hinein gehört hatte, ſeltſam geweſen war, erſchien mir nun ſehr lieblich ja ehrwürdig, und wenn ich einen Vogel durch einen Baum huſchen ſah oder über einen Sandweg laufen, ſo erfüllte es mich mit einer Gat¬ tung Freude. Mein Begleiter führte mich zu einer Hecke, wies mit dem Finger hinein und ſagte: „Seht.“ Ich antwortete, daß ich nichts ſähe. „Schaut nur genauer,“ ſagte er, indem er mit dem Finger neuerdings die Richtung wies. Ich ſah nun unter einem äußerſt dichten Dornen¬ geflechte, welches in die Hecke gemacht worden war, ein Neſt. In dem Neſte ſaß ein Rothkehlchen, we¬ nigſtens dem Rücken nach zu urtheilen. Es flog nicht auf, ſondern wendete nur ein wenig den Kopf gegen uns, und ſah mit den ſchwarzen glänzenden Augen unerſchrocken und vertraulich zu uns herauf. „Dieſes Rothkehlchen ſizt auf ſeinen Eiern,“ ſagte mein Begleiter, „es iſt eine Spätehe, wie ſie öfter vorkommen. Ich beſuche es ſchon mehrere Tage, und lege ihm die Larve des Mehlkäfers in die Nähe. Das weiß der Schelm, darum frägt er mich ſchon darnach, und fürchtet den Fremden nicht, der bei mir iſt.“ In der That, das Thierchen blieb ruhig in ſeinem

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Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 1. Pesth, 1857, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer01_1857/263>, abgerufen am 25.11.2024.