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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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mindesten Unterschied. Wenn zur Bildung und Entwickelung
des thierischen Ei's die mannigfaltigsten Kräfte in den mannig-
faltigsten Beziehungen zusammenwirken, so werden sie in der
reifen thierischen Frucht abermals vorhanden sein, aber ganz
ebenso wie sie in den Eltern waren, in der einen Frucht, wie
in der anderen, und um kein Haar anders, wenn anders jene
Gesetze der Kräfte und die Beziehungen der Kräfte unwandel-
bar sind. Becker aber hat trüglich die Mannigfaltigkeit der
Gliederung der Frucht in mannigfaltig unterschiedene Indivi-
duen umgewandelt. Die ganze weitere Darlegung Beckers hat
damit ihren Werth für uns verloren; doch wollen wir sie ver-
folgen. "Diese Mannigfaltigkeit der Erscheinungen bei Dingen
derselben Art hat zwar ebenfalls ihren letzten Grund in den in-
neren Verhältnissen der Kräfte und in den äußeren Wechsel-
wirkungen der Dinge" (wie elend wird hier ein Unterschied ge-
macht zwischen inneren und äußeren! als wenn die Dinge an-
ders als durch innere Kräfte in Wechselwirkung treten könn-
ten!), "und sie ist daher ebenfalls eigentlich nothwendig: weil
hier aber eins und dasselbe in der Erscheinung als ein Mannig-
faltiges hervortritt und die mannigfaltigen Formen der Erschei-
nung gleichsam spielend unter einander wechseln, ohne daß wir
einen Grund dieses Wechsels in den Formen der Erscheinung
erkennen; so bezeichnen wir diese Mannigfaltigkeit der Erschei-
nung bei der Einheit der organischen Kräfte als.." Der Leser
wird vielleicht die hier folgende Bezeichnung des Formspiels der
organischen Dinge noch nicht errathen. Er wird es aber, wenn
wir fortfahren: "So wechselt, um die Sache an einem Beispiele
anschaulich zu machen, die Form der Epheublätter in mannig-
faltigen Abstufungen zwischen der Pfeilform und der fast run-
den Form, obgleich sie Blätter einer und derselben Pflanze sind,
und die eigentliche Structur des Blattes, z. B. die Anzahl und
die Stellung der Blattrippen eine und dieselbe bleibt." Jetzt,
denken wir, wird mit uns jeder diesen völlig gleichgültigen Wech-
sel der bedeutungslosen Form als Zufall bezeichnen! Becker
aber bezeichnet ihn als "organische Freiheit!" Becker
fährt fort: "Je höher die Stufe des organischen Lebens ist, auf
welche ein Ding gestellt ist," oder "der die Function angehört,"
"desto mehr vervielfältigen sich in ihm die Gegensätze und Be-
ziehungen und desto mehr tritt die organische Freiheit hervor."
"So findet sich bei dem Menschen die hier als organische Frei-

mindesten Unterschied. Wenn zur Bildung und Entwickelung
des thierischen Ei’s die mannigfaltigsten Kräfte in den mannig-
faltigsten Beziehungen zusammenwirken, so werden sie in der
reifen thierischen Frucht abermals vorhanden sein, aber ganz
ebenso wie sie in den Eltern waren, in der einen Frucht, wie
in der anderen, und um kein Haar anders, wenn anders jene
Gesetze der Kräfte und die Beziehungen der Kräfte unwandel-
bar sind. Becker aber hat trüglich die Mannigfaltigkeit der
Gliederung der Frucht in mannigfaltig unterschiedene Indivi-
duen umgewandelt. Die ganze weitere Darlegung Beckers hat
damit ihren Werth für uns verloren; doch wollen wir sie ver-
folgen. „Diese Mannigfaltigkeit der Erscheinungen bei Dingen
derselben Art hat zwar ebenfalls ihren letzten Grund in den in-
neren Verhältnissen der Kräfte und in den äußeren Wechsel-
wirkungen der Dinge” (wie elend wird hier ein Unterschied ge-
macht zwischen inneren und äußeren! als wenn die Dinge an-
ders als durch innere Kräfte in Wechselwirkung treten könn-
ten!), „und sie ist daher ebenfalls eigentlich nothwendig: weil
hier aber eins und dasselbe in der Erscheinung als ein Mannig-
faltiges hervortritt und die mannigfaltigen Formen der Erschei-
nung gleichsam spielend unter einander wechseln, ohne daß wir
einen Grund dieses Wechsels in den Formen der Erscheinung
erkennen; so bezeichnen wir diese Mannigfaltigkeit der Erschei-
nung bei der Einheit der organischen Kräfte als..” Der Leser
wird vielleicht die hier folgende Bezeichnung des Formspiels der
organischen Dinge noch nicht errathen. Er wird es aber, wenn
wir fortfahren: „So wechselt, um die Sache an einem Beispiele
anschaulich zu machen, die Form der Epheublätter in mannig-
faltigen Abstufungen zwischen der Pfeilform und der fast run-
den Form, obgleich sie Blätter einer und derselben Pflanze sind,
und die eigentliche Structur des Blattes, z. B. die Anzahl und
die Stellung der Blattrippen eine und dieselbe bleibt.” Jetzt,
denken wir, wird mit uns jeder diesen völlig gleichgültigen Wech-
sel der bedeutungslosen Form als Zufall bezeichnen! Becker
aber bezeichnet ihn als „organische Freiheit!” Becker
fährt fort: „Je höher die Stufe des organischen Lebens ist, auf
welche ein Ding gestellt ist,” oder „der die Function angehört,”
„desto mehr vervielfältigen sich in ihm die Gegensätze und Be-
ziehungen und desto mehr tritt die organische Freiheit hervor.”
„So findet sich bei dem Menschen die hier als organische Frei-

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[9/0047] mindesten Unterschied. Wenn zur Bildung und Entwickelung des thierischen Ei’s die mannigfaltigsten Kräfte in den mannig- faltigsten Beziehungen zusammenwirken, so werden sie in der reifen thierischen Frucht abermals vorhanden sein, aber ganz ebenso wie sie in den Eltern waren, in der einen Frucht, wie in der anderen, und um kein Haar anders, wenn anders jene Gesetze der Kräfte und die Beziehungen der Kräfte unwandel- bar sind. Becker aber hat trüglich die Mannigfaltigkeit der Gliederung der Frucht in mannigfaltig unterschiedene Indivi- duen umgewandelt. Die ganze weitere Darlegung Beckers hat damit ihren Werth für uns verloren; doch wollen wir sie ver- folgen. „Diese Mannigfaltigkeit der Erscheinungen bei Dingen derselben Art hat zwar ebenfalls ihren letzten Grund in den in- neren Verhältnissen der Kräfte und in den äußeren Wechsel- wirkungen der Dinge” (wie elend wird hier ein Unterschied ge- macht zwischen inneren und äußeren! als wenn die Dinge an- ders als durch innere Kräfte in Wechselwirkung treten könn- ten!), „und sie ist daher ebenfalls eigentlich nothwendig: weil hier aber eins und dasselbe in der Erscheinung als ein Mannig- faltiges hervortritt und die mannigfaltigen Formen der Erschei- nung gleichsam spielend unter einander wechseln, ohne daß wir einen Grund dieses Wechsels in den Formen der Erscheinung erkennen; so bezeichnen wir diese Mannigfaltigkeit der Erschei- nung bei der Einheit der organischen Kräfte als..” Der Leser wird vielleicht die hier folgende Bezeichnung des Formspiels der organischen Dinge noch nicht errathen. Er wird es aber, wenn wir fortfahren: „So wechselt, um die Sache an einem Beispiele anschaulich zu machen, die Form der Epheublätter in mannig- faltigen Abstufungen zwischen der Pfeilform und der fast run- den Form, obgleich sie Blätter einer und derselben Pflanze sind, und die eigentliche Structur des Blattes, z. B. die Anzahl und die Stellung der Blattrippen eine und dieselbe bleibt.” Jetzt, denken wir, wird mit uns jeder diesen völlig gleichgültigen Wech- sel der bedeutungslosen Form als Zufall bezeichnen! Becker aber bezeichnet ihn als „organische Freiheit!” Becker fährt fort: „Je höher die Stufe des organischen Lebens ist, auf welche ein Ding gestellt ist,” oder „der die Function angehört,” „desto mehr vervielfältigen sich in ihm die Gegensätze und Be- ziehungen und desto mehr tritt die organische Freiheit hervor.” „So findet sich bei dem Menschen die hier als organische Frei-

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/47>, abgerufen am 28.03.2024.