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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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scheidet und bloß die natürliche Maschine Organismus nennt,
das geistig Organische aber als unorganisch ansieht.

Hierdurch ist etwas an Bestimmtheit gewonnen, doch nicht
viel. Becker hätte uns auch noch sollen die Grenze zwischen
Natur und Kunst ziehen. Wir stehen vor einem blühenden Korn-
felde -- sehen wir Natur oder Kunst? Organisches oder Unor-
ganisches? Dabei vergesse man dann auch nicht, daß vielleicht
vor hundert, vor zehn Jahren noch dieser Boden wirklich un-
fruchtbar, unfähig war, den ihm vertrauten Saamen reifen zu
lassen. Hier hat, wie in vielen Fällen, die Cultur erst die Na-
tur erzeugt. Ist es denn aber mit jener Bildsäule, die Becker
für unorganisch hält, so durchaus anders? Abgesehen von dem
schon Gesagten, daß auch hier ein verkörperter Gedanke, alles
in Einheit ist, jeder Theil aus dem Ganzen fließt, so daß un-
sere Künstler die fehlenden Glieder eines antiken Standbil-
des aus dem Gegebenen ableitend ergänzen, welche Ableitung
Becker und Trendelenburg nach Cuvier für ein wesentliches
Merkmal des Organischen halten, -- abgesehen, sage ich, hier-
von, trägt nicht auch der Marmorblock den Apollo "vorgebil-
det" in sich? Könnte der Künstler auch aus Flugsand, aus
morschem Holze bilden? Wirken nicht Stein, Hammer und Mei-
ßel nach nothwendigen ihnen innewohnenden Gesetzen? also mit
innerer Nothwendigkeit? Kurz kann die Cultur, die Kunst, um
mich des Baconschen Ausdruckes zu bedienen, die Natur an-
ders beherrschen, als indem sie ihr folgt? kann sie dieselbe zwin-
gen, oder muß sie sie nach ihrer inneren Gesetzmäßigkeit wir-
ken lassen?

Jedoch Becker meint wohl, organisch sei das natürliche
Ding auch nur, insoweit und insofern es ohne Hinzuthun
von menschlicher Absichtlichkeit entstanden ist und lebt. Die
Wälder, Brennesseln und Dorngesträuch sind durchaus orga-
nisch; das Kornfeld ist es nicht, insofern der Mensch gepflügt,
gedüngt, gesäet hat, aber insofern danach der Saame durch Re-
gen und Sonnenschein wächst. Die Bildsäule ist organisch ge-
worden, indem der Meißel u. s. w. nach nothwendigen natürli-
chen Gesetzen gewirkt hat, aber nicht insofern die Hand des
Künstlers das Leitende war. So würden denn die Begriffe or-
ganisch und natürlich dem Umfange und Inhalte nach zusam-
menfallen und als das Nothwendige und Gesetzmäßige der Frei-

scheidet und bloß die natürliche Maschine Organismus nennt,
das geistig Organische aber als unorganisch ansieht.

Hierdurch ist etwas an Bestimmtheit gewonnen, doch nicht
viel. Becker hätte uns auch noch sollen die Grenze zwischen
Natur und Kunst ziehen. Wir stehen vor einem blühenden Korn-
felde — sehen wir Natur oder Kunst? Organisches oder Unor-
ganisches? Dabei vergesse man dann auch nicht, daß vielleicht
vor hundert, vor zehn Jahren noch dieser Boden wirklich un-
fruchtbar, unfähig war, den ihm vertrauten Saamen reifen zu
lassen. Hier hat, wie in vielen Fällen, die Cultur erst die Na-
tur erzeugt. Ist es denn aber mit jener Bildsäule, die Becker
für unorganisch hält, so durchaus anders? Abgesehen von dem
schon Gesagten, daß auch hier ein verkörperter Gedanke, alles
in Einheit ist, jeder Theil aus dem Ganzen fließt, so daß un-
sere Künstler die fehlenden Glieder eines antiken Standbil-
des aus dem Gegebenen ableitend ergänzen, welche Ableitung
Becker und Trendelenburg nach Cuvier für ein wesentliches
Merkmal des Organischen halten, — abgesehen, sage ich, hier-
von, trägt nicht auch der Marmorblock den Apollo „vorgebil-
det“ in sich? Könnte der Künstler auch aus Flugsand, aus
morschem Holze bilden? Wirken nicht Stein, Hammer und Mei-
ßel nach nothwendigen ihnen innewohnenden Gesetzen? also mit
innerer Nothwendigkeit? Kurz kann die Cultur, die Kunst, um
mich des Baconschen Ausdruckes zu bedienen, die Natur an-
ders beherrschen, als indem sie ihr folgt? kann sie dieselbe zwin-
gen, oder muß sie sie nach ihrer inneren Gesetzmäßigkeit wir-
ken lassen?

Jedoch Becker meint wohl, organisch sei das natürliche
Ding auch nur, insoweit und insofern es ohne Hinzuthun
von menschlicher Absichtlichkeit entstanden ist und lebt. Die
Wälder, Brennesseln und Dorngesträuch sind durchaus orga-
nisch; das Kornfeld ist es nicht, insofern der Mensch gepflügt,
gedüngt, gesäet hat, aber insofern danach der Saame durch Re-
gen und Sonnenschein wächst. Die Bildsäule ist organisch ge-
worden, indem der Meißel u. s. w. nach nothwendigen natürli-
chen Gesetzen gewirkt hat, aber nicht insofern die Hand des
Künstlers das Leitende war. So würden denn die Begriffe or-
ganisch und natürlich dem Umfange und Inhalte nach zusam-
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[7/0045] scheidet und bloß die natürliche Maschine Organismus nennt, das geistig Organische aber als unorganisch ansieht. Hierdurch ist etwas an Bestimmtheit gewonnen, doch nicht viel. Becker hätte uns auch noch sollen die Grenze zwischen Natur und Kunst ziehen. Wir stehen vor einem blühenden Korn- felde — sehen wir Natur oder Kunst? Organisches oder Unor- ganisches? Dabei vergesse man dann auch nicht, daß vielleicht vor hundert, vor zehn Jahren noch dieser Boden wirklich un- fruchtbar, unfähig war, den ihm vertrauten Saamen reifen zu lassen. Hier hat, wie in vielen Fällen, die Cultur erst die Na- tur erzeugt. Ist es denn aber mit jener Bildsäule, die Becker für unorganisch hält, so durchaus anders? Abgesehen von dem schon Gesagten, daß auch hier ein verkörperter Gedanke, alles in Einheit ist, jeder Theil aus dem Ganzen fließt, so daß un- sere Künstler die fehlenden Glieder eines antiken Standbil- des aus dem Gegebenen ableitend ergänzen, welche Ableitung Becker und Trendelenburg nach Cuvier für ein wesentliches Merkmal des Organischen halten, — abgesehen, sage ich, hier- von, trägt nicht auch der Marmorblock den Apollo „vorgebil- det“ in sich? Könnte der Künstler auch aus Flugsand, aus morschem Holze bilden? Wirken nicht Stein, Hammer und Mei- ßel nach nothwendigen ihnen innewohnenden Gesetzen? also mit innerer Nothwendigkeit? Kurz kann die Cultur, die Kunst, um mich des Baconschen Ausdruckes zu bedienen, die Natur an- ders beherrschen, als indem sie ihr folgt? kann sie dieselbe zwin- gen, oder muß sie sie nach ihrer inneren Gesetzmäßigkeit wir- ken lassen? Jedoch Becker meint wohl, organisch sei das natürliche Ding auch nur, insoweit und insofern es ohne Hinzuthun von menschlicher Absichtlichkeit entstanden ist und lebt. Die Wälder, Brennesseln und Dorngesträuch sind durchaus orga- nisch; das Kornfeld ist es nicht, insofern der Mensch gepflügt, gedüngt, gesäet hat, aber insofern danach der Saame durch Re- gen und Sonnenschein wächst. Die Bildsäule ist organisch ge- worden, indem der Meißel u. s. w. nach nothwendigen natürli- chen Gesetzen gewirkt hat, aber nicht insofern die Hand des Künstlers das Leitende war. So würden denn die Begriffe or- ganisch und natürlich dem Umfange und Inhalte nach zusam- menfallen und als das Nothwendige und Gesetzmäßige der Frei-

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/45>, abgerufen am 29.03.2024.