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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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organischen Leben, indem es in seinen Besonderheiten in die
Erscheinung tritt: jedes organische Ding ist als eine leiblich
gewordene Besonderheit des allgemeinen Lebens, gleichsam als
ein leiblich gewordener Gedanke der Natur anzusehen." In bei-
den Sätzen ist offenbar dasselbe gesagt, mit dem Unterschiede,
daß was im ersten Satze als Gesetz innerhalb der Natur gilt,
im anderen von der ganzen Natur als einer Einheit ausgesprochen
wird. Becker denkt sich die Natur, das All vielmehr, als ein
lebendes Wesen. Wir haben es also hier mit der Anschauung
von einem All-Leben zu thun, welches auch den Geist, das
geistige Leben in sich schließt. Es will uns aber scheinen, als
wenn Becker seine Ansicht nicht recht scharf ausgedrückt habe.
Wir nehmen Anstoß an den Worten: "das allgemeine Leben
wird zu einem organischen Leben." Ist denn das allgemeine
Leben nicht schon an sich organisch? muß es das erst werden?
ist etwa ein nicht oder noch nicht organisches Leben, ein Gei-
stiges, eine Thätigkeit außerhalb eines Leiblichen, eines Stoffes,
bevor sie in diese eingegangen sind, wirklich annehmbar? Be-
ckers Ansicht ist das schwerlich; und wir fürchten kaum zu
irren, wenn wir ihn folgendermaßen verstehen. Wie aus dem
Parallelismus der beiden angeführten Sätze und auch aus den
Worten des letztern: "jedes organische Ding ist als eine leiblich
gewordene Besonderheit des allgemeinen Lebens, gleichsam als
ein leiblich gewordener Gedanke der Natur anzusehen" -- wie
hieraus, sage ich, hervorgeht, ist nach Becker unter dem all-
gemeinen Leben der Natur der bloß für unsere erkennende Auf-
fassung geltende Gedanke der Natur, als vor ihrer Verwirkli-
chung seiend, zu verstehen; oder die Natur, wie wir sie uns als
vor ihrer Schöpfung sich selbst denkend vorstellen. Denn wenn
Becker das allgemeine Leben der Natur organisch nennt, so
meint er damit sicherlich, dasselbe sei eben nur und an sich or-
ganisch, also nur in seiner Besonderung und diese nur in der
Verleiblichung. Um aber die Natur zu begreifen, haben wir
eben den Vorgang der Verleiblichung zu betrachten und stellen
uns diesen vor als gegenwärtig zu Stande kommend, und vor
ihm also das Leben der Natur nur erst als noch bloßes Sich-
Denken, als Gedanken der Natur. Das Organische dieses vor
der Schöpfung der Natur angenommenen Denkens derselben be-
steht eben darin, daß ein allgemeiner Gedanke Natur sich in
einzelne Gedanken sondert. Diese Besonderung aber ist zugleich

organischen Leben, indem es in seinen Besonderheiten in die
Erscheinung tritt: jedes organische Ding ist als eine leiblich
gewordene Besonderheit des allgemeinen Lebens, gleichsam als
ein leiblich gewordener Gedanke der Natur anzusehen.“ In bei-
den Sätzen ist offenbar dasselbe gesagt, mit dem Unterschiede,
daß was im ersten Satze als Gesetz innerhalb der Natur gilt,
im anderen von der ganzen Natur als einer Einheit ausgesprochen
wird. Becker denkt sich die Natur, das All vielmehr, als ein
lebendes Wesen. Wir haben es also hier mit der Anschauung
von einem All-Leben zu thun, welches auch den Geist, das
geistige Leben in sich schließt. Es will uns aber scheinen, als
wenn Becker seine Ansicht nicht recht scharf ausgedrückt habe.
Wir nehmen Anstoß an den Worten: „das allgemeine Leben
wird zu einem organischen Leben.“ Ist denn das allgemeine
Leben nicht schon an sich organisch? muß es das erst werden?
ist etwa ein nicht oder noch nicht organisches Leben, ein Gei-
stiges, eine Thätigkeit außerhalb eines Leiblichen, eines Stoffes,
bevor sie in diese eingegangen sind, wirklich annehmbar? Be-
ckers Ansicht ist das schwerlich; und wir fürchten kaum zu
irren, wenn wir ihn folgendermaßen verstehen. Wie aus dem
Parallelismus der beiden angeführten Sätze und auch aus den
Worten des letztern: „jedes organische Ding ist als eine leiblich
gewordene Besonderheit des allgemeinen Lebens, gleichsam als
ein leiblich gewordener Gedanke der Natur anzusehen“ — wie
hieraus, sage ich, hervorgeht, ist nach Becker unter dem all-
gemeinen Leben der Natur der bloß für unsere erkennende Auf-
fassung geltende Gedanke der Natur, als vor ihrer Verwirkli-
chung seiend, zu verstehen; oder die Natur, wie wir sie uns als
vor ihrer Schöpfung sich selbst denkend vorstellen. Denn wenn
Becker das allgemeine Leben der Natur organisch nennt, so
meint er damit sicherlich, dasselbe sei eben nur und an sich or-
ganisch, also nur in seiner Besonderung und diese nur in der
Verleiblichung. Um aber die Natur zu begreifen, haben wir
eben den Vorgang der Verleiblichung zu betrachten und stellen
uns diesen vor als gegenwärtig zu Stande kommend, und vor
ihm also das Leben der Natur nur erst als noch bloßes Sich-
Denken, als Gedanken der Natur. Das Organische dieses vor
der Schöpfung der Natur angenommenen Denkens derselben be-
steht eben darin, daß ein allgemeiner Gedanke Natur sich in
einzelne Gedanken sondert. Diese Besonderung aber ist zugleich

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[2/0040] organischen Leben, indem es in seinen Besonderheiten in die Erscheinung tritt: jedes organische Ding ist als eine leiblich gewordene Besonderheit des allgemeinen Lebens, gleichsam als ein leiblich gewordener Gedanke der Natur anzusehen.“ In bei- den Sätzen ist offenbar dasselbe gesagt, mit dem Unterschiede, daß was im ersten Satze als Gesetz innerhalb der Natur gilt, im anderen von der ganzen Natur als einer Einheit ausgesprochen wird. Becker denkt sich die Natur, das All vielmehr, als ein lebendes Wesen. Wir haben es also hier mit der Anschauung von einem All-Leben zu thun, welches auch den Geist, das geistige Leben in sich schließt. Es will uns aber scheinen, als wenn Becker seine Ansicht nicht recht scharf ausgedrückt habe. Wir nehmen Anstoß an den Worten: „das allgemeine Leben wird zu einem organischen Leben.“ Ist denn das allgemeine Leben nicht schon an sich organisch? muß es das erst werden? ist etwa ein nicht oder noch nicht organisches Leben, ein Gei- stiges, eine Thätigkeit außerhalb eines Leiblichen, eines Stoffes, bevor sie in diese eingegangen sind, wirklich annehmbar? Be- ckers Ansicht ist das schwerlich; und wir fürchten kaum zu irren, wenn wir ihn folgendermaßen verstehen. Wie aus dem Parallelismus der beiden angeführten Sätze und auch aus den Worten des letztern: „jedes organische Ding ist als eine leiblich gewordene Besonderheit des allgemeinen Lebens, gleichsam als ein leiblich gewordener Gedanke der Natur anzusehen“ — wie hieraus, sage ich, hervorgeht, ist nach Becker unter dem all- gemeinen Leben der Natur der bloß für unsere erkennende Auf- fassung geltende Gedanke der Natur, als vor ihrer Verwirkli- chung seiend, zu verstehen; oder die Natur, wie wir sie uns als vor ihrer Schöpfung sich selbst denkend vorstellen. Denn wenn Becker das allgemeine Leben der Natur organisch nennt, so meint er damit sicherlich, dasselbe sei eben nur und an sich or- ganisch, also nur in seiner Besonderung und diese nur in der Verleiblichung. Um aber die Natur zu begreifen, haben wir eben den Vorgang der Verleiblichung zu betrachten und stellen uns diesen vor als gegenwärtig zu Stande kommend, und vor ihm also das Leben der Natur nur erst als noch bloßes Sich- Denken, als Gedanken der Natur. Das Organische dieses vor der Schöpfung der Natur angenommenen Denkens derselben be- steht eben darin, daß ein allgemeiner Gedanke Natur sich in einzelne Gedanken sondert. Diese Besonderung aber ist zugleich

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/40>, abgerufen am 18.04.2024.