Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

diese Weise der Beziehung der Seele bewirkt, welche wir Wahr-
nehmung nennen.

Wenn die Seele eine gehabte Anschauung wieder hervor-
treten läßt, so nennen wir diese Beziehung der Seele auf die
Anschauung Erinnerung. Dieser Name bezeichnet aber die
Beziehung der Seele auf jedwedes schon gehabte Seelenerzeug-
niß, also auch die Reproduction von Begriffen.

Die Vorstellung ist die Beziehung des Bewußtseins auf
die erinnerte Anschauung oder den erinnerten Begriff während
der Thätigkeit des Geistes, Anschauungen in Begriffe zu ver-
wandeln und Begriffe gemäß der Idee zu construiren. Die Vor-
stellung ist ursprünglich nicht ganz leer, sie ist die Abbreviatur
der Anschauung, wird aber endlich völlig leer. Dann wirkt sie,
wie die Null in der Arithmetik. Zwischen 3. 30. 0,3 besteht
der Unterschied, daß 3 sich an verschiedenen Orten findet. Diese
Verschiedenheit des Ortes verändert den Werth, und diese Werth-
veränderung wird bewirkt durch eine leere Stelle, eine Null.
Man denke sich den Zehner als die Anschauung und als das
Subject eines zu bildenden Urtheils, d. h. als Multiplicanden ei-
ner Multiplication. Denn durch den Proceß des Urtheilens, des
Multiplicirens, wird der Begriff, das Facit, gebildet. Das Prä-
dicat aber ist eigentlich das, was dem Subjecte den Werth leiht,
dessen Werth bestimmt, das Urtheil bildet, der Multiplicator.
Welch ein mühseliges Rechnen findet nun Statt, wenn man
den Zehner wirklich und voll auftreten läßt, also hinschreibt
X x III = XXX! Um wie viel leichter und einfacher werden
alle Operationen, wenn der Inhalt des Zehners bloß durch die
Stellung angedeutet und bloß der Multiplicator ausdrücklich
genannt wird! Dieselbe Erleichterung, welche dem Rechner die
Stellung der Zahl verschafft, gewährt dem Urtheilenden die Vor-
stellung, welche die Stelle der Anschauung im Urtheile vertritt.

Wir nannten hier immer die Vorstellung leer; dies muß
aber richtig verstanden werden. Sie ist zugleich leer und ge-
füllt; denn sie ist, wie wir oben sagten, die Anschauung selbst,
insofern sie durch die Sprache gedacht wird, also Einheit der
Anschauung und des Wortes, welches die Beziehung der Seele
auf die Anschauung enthält. Insofern sie also bloß Wort ist,
ist sie leer; insofern sie aber Anschauung ist, ist ja sie es ge-
rade, welche durch die Erkenntnisse in den Urtheilen an Inhalt
gewinnt. Ferner: die Vorstellung ist in Wahrheit der Satz;

diese Weise der Beziehung der Seele bewirkt, welche wir Wahr-
nehmung nennen.

Wenn die Seele eine gehabte Anschauung wieder hervor-
treten läßt, so nennen wir diese Beziehung der Seele auf die
Anschauung Erinnerung. Dieser Name bezeichnet aber die
Beziehung der Seele auf jedwedes schon gehabte Seelenerzeug-
niß, also auch die Reproduction von Begriffen.

Die Vorstellung ist die Beziehung des Bewußtseins auf
die erinnerte Anschauung oder den erinnerten Begriff während
der Thätigkeit des Geistes, Anschauungen in Begriffe zu ver-
wandeln und Begriffe gemäß der Idee zu construiren. Die Vor-
stellung ist ursprünglich nicht ganz leer, sie ist die Abbreviatur
der Anschauung, wird aber endlich völlig leer. Dann wirkt sie,
wie die Null in der Arithmetik. Zwischen 3. 30. 0,3 besteht
der Unterschied, daß 3 sich an verschiedenen Orten findet. Diese
Verschiedenheit des Ortes verändert den Werth, und diese Werth-
veränderung wird bewirkt durch eine leere Stelle, eine Null.
Man denke sich den Zehner als die Anschauung und als das
Subject eines zu bildenden Urtheils, d. h. als Multiplicanden ei-
ner Multiplication. Denn durch den Proceß des Urtheilens, des
Multiplicirens, wird der Begriff, das Facit, gebildet. Das Prä-
dicat aber ist eigentlich das, was dem Subjecte den Werth leiht,
dessen Werth bestimmt, das Urtheil bildet, der Multiplicator.
Welch ein mühseliges Rechnen findet nun Statt, wenn man
den Zehner wirklich und voll auftreten läßt, also hinschreibt
X x III = XXX! Um wie viel leichter und einfacher werden
alle Operationen, wenn der Inhalt des Zehners bloß durch die
Stellung angedeutet und bloß der Multiplicator ausdrücklich
genannt wird! Dieselbe Erleichterung, welche dem Rechner die
Stellung der Zahl verschafft, gewährt dem Urtheilenden die Vor-
stellung, welche die Stelle der Anschauung im Urtheile vertritt.

Wir nannten hier immer die Vorstellung leer; dies muß
aber richtig verstanden werden. Sie ist zugleich leer und ge-
füllt; denn sie ist, wie wir oben sagten, die Anschauung selbst,
insofern sie durch die Sprache gedacht wird, also Einheit der
Anschauung und des Wortes, welches die Beziehung der Seele
auf die Anschauung enthält. Insofern sie also bloß Wort ist,
ist sie leer; insofern sie aber Anschauung ist, ist ja sie es ge-
rade, welche durch die Erkenntnisse in den Urtheilen an Inhalt
gewinnt. Ferner: die Vorstellung ist in Wahrheit der Satz;

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0372" n="334"/>
diese Weise der Beziehung der Seele bewirkt, welche wir Wahr-<lb/>
nehmung nennen.</p><lb/>
                <p>Wenn die Seele eine gehabte Anschauung wieder hervor-<lb/>
treten läßt, so nennen wir diese Beziehung der Seele auf die<lb/>
Anschauung <hi rendition="#g">Erinnerung</hi>. Dieser Name bezeichnet aber die<lb/>
Beziehung der Seele auf jedwedes schon gehabte Seelenerzeug-<lb/>
niß, also auch die Reproduction von Begriffen.</p><lb/>
                <p>Die <hi rendition="#g">Vorstellung</hi> ist die Beziehung des Bewußtseins auf<lb/>
die erinnerte Anschauung oder den erinnerten Begriff während<lb/>
der Thätigkeit des Geistes, Anschauungen in Begriffe zu ver-<lb/>
wandeln und Begriffe gemäß der Idee zu construiren. Die Vor-<lb/>
stellung ist ursprünglich nicht ganz leer, sie ist die Abbreviatur<lb/>
der Anschauung, wird aber endlich völlig leer. Dann wirkt sie,<lb/>
wie die Null in der Arithmetik. Zwischen 3. 30. 0,3 besteht<lb/>
der Unterschied, daß 3 sich an verschiedenen Orten findet. Diese<lb/>
Verschiedenheit des Ortes verändert den Werth, und diese Werth-<lb/>
veränderung wird bewirkt durch eine leere Stelle, eine Null.<lb/>
Man denke sich den Zehner als die Anschauung und als das<lb/>
Subject eines zu bildenden Urtheils, d. h. als Multiplicanden ei-<lb/>
ner Multiplication. Denn durch den Proceß des Urtheilens, des<lb/>
Multiplicirens, wird der Begriff, das Facit, gebildet. Das Prä-<lb/>
dicat aber ist eigentlich das, was dem Subjecte den Werth leiht,<lb/>
dessen Werth bestimmt, das Urtheil bildet, der Multiplicator.<lb/>
Welch ein mühseliges Rechnen findet nun Statt, wenn man<lb/>
den Zehner wirklich und voll auftreten läßt, also hinschreibt<lb/>
X x III = XXX! Um wie viel leichter und einfacher werden<lb/>
alle Operationen, wenn der Inhalt des Zehners bloß durch die<lb/>
Stellung angedeutet und bloß der Multiplicator ausdrücklich<lb/>
genannt wird! Dieselbe Erleichterung, welche dem Rechner die<lb/>
Stellung der Zahl verschafft, gewährt dem Urtheilenden die Vor-<lb/>
stellung, welche die Stelle der Anschauung im Urtheile vertritt.</p><lb/>
                <p>Wir nannten hier immer die Vorstellung leer; dies muß<lb/>
aber richtig verstanden werden. Sie ist zugleich leer und ge-<lb/>
füllt; denn sie ist, wie wir oben sagten, die Anschauung selbst,<lb/>
insofern sie durch die Sprache gedacht wird, also Einheit der<lb/>
Anschauung und des Wortes, welches die Beziehung der Seele<lb/>
auf die Anschauung enthält. Insofern sie also bloß Wort ist,<lb/>
ist sie leer; insofern sie aber Anschauung ist, ist ja sie es ge-<lb/>
rade, welche durch die Erkenntnisse in den Urtheilen an Inhalt<lb/>
gewinnt. Ferner: die Vorstellung ist in Wahrheit der Satz;<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[334/0372] diese Weise der Beziehung der Seele bewirkt, welche wir Wahr- nehmung nennen. Wenn die Seele eine gehabte Anschauung wieder hervor- treten läßt, so nennen wir diese Beziehung der Seele auf die Anschauung Erinnerung. Dieser Name bezeichnet aber die Beziehung der Seele auf jedwedes schon gehabte Seelenerzeug- niß, also auch die Reproduction von Begriffen. Die Vorstellung ist die Beziehung des Bewußtseins auf die erinnerte Anschauung oder den erinnerten Begriff während der Thätigkeit des Geistes, Anschauungen in Begriffe zu ver- wandeln und Begriffe gemäß der Idee zu construiren. Die Vor- stellung ist ursprünglich nicht ganz leer, sie ist die Abbreviatur der Anschauung, wird aber endlich völlig leer. Dann wirkt sie, wie die Null in der Arithmetik. Zwischen 3. 30. 0,3 besteht der Unterschied, daß 3 sich an verschiedenen Orten findet. Diese Verschiedenheit des Ortes verändert den Werth, und diese Werth- veränderung wird bewirkt durch eine leere Stelle, eine Null. Man denke sich den Zehner als die Anschauung und als das Subject eines zu bildenden Urtheils, d. h. als Multiplicanden ei- ner Multiplication. Denn durch den Proceß des Urtheilens, des Multiplicirens, wird der Begriff, das Facit, gebildet. Das Prä- dicat aber ist eigentlich das, was dem Subjecte den Werth leiht, dessen Werth bestimmt, das Urtheil bildet, der Multiplicator. Welch ein mühseliges Rechnen findet nun Statt, wenn man den Zehner wirklich und voll auftreten läßt, also hinschreibt X x III = XXX! Um wie viel leichter und einfacher werden alle Operationen, wenn der Inhalt des Zehners bloß durch die Stellung angedeutet und bloß der Multiplicator ausdrücklich genannt wird! Dieselbe Erleichterung, welche dem Rechner die Stellung der Zahl verschafft, gewährt dem Urtheilenden die Vor- stellung, welche die Stelle der Anschauung im Urtheile vertritt. Wir nannten hier immer die Vorstellung leer; dies muß aber richtig verstanden werden. Sie ist zugleich leer und ge- füllt; denn sie ist, wie wir oben sagten, die Anschauung selbst, insofern sie durch die Sprache gedacht wird, also Einheit der Anschauung und des Wortes, welches die Beziehung der Seele auf die Anschauung enthält. Insofern sie also bloß Wort ist, ist sie leer; insofern sie aber Anschauung ist, ist ja sie es ge- rade, welche durch die Erkenntnisse in den Urtheilen an Inhalt gewinnt. Ferner: die Vorstellung ist in Wahrheit der Satz;

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/372
Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 334. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/372>, abgerufen am 22.11.2024.