sie wird gebildet durch das Wort, welches immer allgemein ist. Denn der innere Gehalt des Wortes, die Anschauung einer An- schauung, gehört nicht dieser und nicht jener einzelnen An- schauung allein; sondern sie findet sich in allen Anschauungen derselben Art wieder. Sie ist ja, wie oben bemerkt wurde, nicht auf Veranlassung einer einfachen gegenwärtigen Anschauung ge- bildet, sondern durch Vereinigung der gegenwärtigen Anschauung mit der ganzen Masse der gleichartigen Anschauungen, die man schon gehabt hat, und die als eine unklare Masse durch die gegenwärtige Anschauung aus dem Gedächtnisse hervorgerufen werden. Durch die Anschauung der Anschauung aber, oder durch das Wort, wird nicht bloß eine Anschauungssumme zu einer Einheit verbunden, sondern es werden damit zugleich auch alle ähnlichen Einheiten (d. h. alle Anschauungssummen, denen dasselbe einheitliche Ding als Band angelegt wird, welche unter derselben Anschauung vom instinctiven Selbstbewußtsein ange- schaut werden), zur Einheit einer Art zusammengefaßt. Der Mensch hat viele Anschauungen vom Wolfe; sie werden sämmtlich unter derselben Anschauung des Zerreissenden ange- schaut oder vorgestellt. Es giebt also nur Eine Vorstellung vom Wolfe und von jeder Anschauung; und sie ist das Allge- meine, und das Wort bezeichnet die Art.
Weiter können wir zunächst die Sache noch nicht verfol- gen. Man sieht aber schon hier, wie sich die Seele, indem sie in der Sprache eine Welt von Dingen an sich und eine Welt von Allgemeinheiten schuf, ein wahrhaftes neues Organ gewon- nen hat, das zugleich die größte Gefügigkeit zeigt, weil es, von der Seele selbst geschaffen, von wenig Sinnlichkeit belastet ist. Nur die Natur dieses Organs konnten wir hier darlegen, woraus schon auf seinen Werth zu schließen ist. Um seine volle Lei- stung zu erkennen, müssen wir es wirken sehen. Die Wirkung der Sprache aber enthält ihre eigene Entwickelung, d. h. die Ausbreitung und dabei Gestaltung und Gliederung ihrer Ele- mente. Und so haben wir uns zuerst diese klar zu machen, wodurch wir die nähere Betrachtung der Grammatik vorbe- reiten.
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sie wird gebildet durch das Wort, welches immer allgemein ist. Denn der innere Gehalt des Wortes, die Anschauung einer An- schauung, gehört nicht dieser und nicht jener einzelnen An- schauung allein; sondern sie findet sich in allen Anschauungen derselben Art wieder. Sie ist ja, wie oben bemerkt wurde, nicht auf Veranlassung einer einfachen gegenwärtigen Anschauung ge- bildet, sondern durch Vereinigung der gegenwärtigen Anschauung mit der ganzen Masse der gleichartigen Anschauungen, die man schon gehabt hat, und die als eine unklare Masse durch die gegenwärtige Anschauung aus dem Gedächtnisse hervorgerufen werden. Durch die Anschauung der Anschauung aber, oder durch das Wort, wird nicht bloß eine Anschauungssumme zu einer Einheit verbunden, sondern es werden damit zugleich auch alle ähnlichen Einheiten (d. h. alle Anschauungssummen, denen dasselbe einheitliche Ding als Band angelegt wird, welche unter derselben Anschauung vom instinctiven Selbstbewußtsein ange- schaut werden), zur Einheit einer Art zusammengefaßt. Der Mensch hat viele Anschauungen vom Wolfe; sie werden sämmtlich unter derselben Anschauung des Zerreiſsenden ange- schaut oder vorgestellt. Es giebt also nur Eine Vorstellung vom Wolfe und von jeder Anschauung; und sie ist das Allge- meine, und das Wort bezeichnet die Art.
Weiter können wir zunächst die Sache noch nicht verfol- gen. Man sieht aber schon hier, wie sich die Seele, indem sie in der Sprache eine Welt von Dingen an sich und eine Welt von Allgemeinheiten schuf, ein wahrhaftes neues Organ gewon- nen hat, das zugleich die größte Gefügigkeit zeigt, weil es, von der Seele selbst geschaffen, von wenig Sinnlichkeit belastet ist. Nur die Natur dieses Organs konnten wir hier darlegen, woraus schon auf seinen Werth zu schließen ist. Um seine volle Lei- stung zu erkennen, müssen wir es wirken sehen. Die Wirkung der Sprache aber enthält ihre eigene Entwickelung, d. h. die Ausbreitung und dabei Gestaltung und Gliederung ihrer Ele- mente. Und so haben wir uns zuerst diese klar zu machen, wodurch wir die nähere Betrachtung der Grammatik vorbe- reiten.
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sie wird gebildet durch das Wort, welches immer allgemein ist.
Denn der innere Gehalt des Wortes, die Anschauung einer An-
schauung, gehört nicht dieser und nicht jener einzelnen An-
schauung allein; sondern sie findet sich in allen Anschauungen
derselben Art wieder. Sie ist ja, wie oben bemerkt wurde, nicht
auf Veranlassung einer einfachen gegenwärtigen Anschauung ge-
bildet, sondern durch Vereinigung der gegenwärtigen Anschauung
mit der ganzen Masse der gleichartigen Anschauungen, die man
schon gehabt hat, und die als eine unklare Masse durch die
gegenwärtige Anschauung aus dem Gedächtnisse hervorgerufen
werden. Durch die Anschauung der Anschauung aber, oder
durch das Wort, wird nicht bloß eine Anschauungssumme zu
einer Einheit verbunden, sondern es werden damit zugleich auch
alle ähnlichen Einheiten (d. h. alle Anschauungssummen, denen
dasselbe einheitliche Ding als Band angelegt wird, welche unter
derselben Anschauung vom instinctiven Selbstbewußtsein ange-
schaut werden), zur Einheit einer Art zusammengefaßt. Der
Mensch hat viele Anschauungen vom Wolfe; sie werden
sämmtlich unter derselben Anschauung des Zerreiſsenden ange-
schaut oder vorgestellt. Es giebt also nur Eine Vorstellung
vom Wolfe und von jeder Anschauung; und sie ist das Allge-
meine, und das Wort bezeichnet die Art.
Weiter können wir zunächst die Sache noch nicht verfol-
gen. Man sieht aber schon hier, wie sich die Seele, indem sie
in der Sprache eine Welt von Dingen an sich und eine Welt
von Allgemeinheiten schuf, ein wahrhaftes neues Organ gewon-
nen hat, das zugleich die größte Gefügigkeit zeigt, weil es, von
der Seele selbst geschaffen, von wenig Sinnlichkeit belastet ist.
Nur die Natur dieses Organs konnten wir hier darlegen, woraus
schon auf seinen Werth zu schließen ist. Um seine volle Lei-
stung zu erkennen, müssen wir es wirken sehen. Die Wirkung
der Sprache aber enthält ihre eigene Entwickelung, d. h. die
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 321. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/359>, abgerufen am 22.11.2024.
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