tern Erkenntniß. Die menschliche Seele, weniger der Natur hingegeben, mehr bei sich bleibend, entwickelt sich zum Geiste, während die thierische im Leibe erstarrt.
Der ganze menschliche Leib ist schwächer, als der thieri- sche; darum ist die menschliche Seele stärker, als die thierische. Betrachtet man Natur oder Leib überhaupt im Gegensatze zur Seele: so mag man sagen, die Seele sei der Parasit des Leibes. Dieser Ausdruck ist uns aber zu schwach. Dabei wird der Mensch als eine Art Thier betrachtet. Das Verhältniß zwischen Leib und Seele ist aber im Menschen völlig umgestaltet. Wäh- rend beim Thier die Seele des Körpers wegen da ist, der Leib Herr, die Seele ihm dienend: so ist umgekehrt beim Menschen der Leib nur der Seele wegen da; sie nur ist, und der Leib ist ihre Stütze.
In der That, der Erfolg aller thierischen Seelenthätigkeit geht auf im Dienste für den Leib; alle Sinne dienen dem Ma- gen oder dem Ausweichen der Gefahr. Noch etwas mehr wol- len wir zugestehen: das Thier spielt; und wenn man dies, und wir meinen mit Recht, als bloße Nervenerregung ansieht, so ist ferner daran zu erinnern, daß das Thier es freudig fühlt, wenn man es freundlich streichelt, ihm wohlwollend schmeichelt, und mancher Hund Eifersucht zu zeigen scheint, wenn er Liebes- beweise seines Herrn gegen andere bemerkt. Das Thier hat also mehr als bloß sinnliches Gefühl; natürlich! denn es hat An- schauungen, und folglich hat es auch Affecte. Es beweist Liebe, Treue, Dankbarkeit, Haß, Rache. Man kann nicht sagen, es sei durchaus egoistisch; aber es ist durchaus praktisch oder vielmehr utilistisch, und ist nicht theoretisch, liberal. Es bezieht alles auf sich oder den es liebt, auf seinen Nutzen; was ihm nicht nützt, ist nicht für das Thier, und was für dasselbe ist, ist dies nur, insofern es ihm nützt. Abgesehen von den Spiel- bewegungen, zu denen es erregt wird, ergötzt sich das Thier nicht, nicht am Wohlgeruch, nicht am Anschauen, nicht am Hören. Der Mensch, auch der Wilde, hat ein vielfältigeres In- teresse an den Dingen; er verzehrt sie nicht bloß, sondern ge- nießt sie, indem er sie gewähren läßt. Das ist ein Anfang rein theoretischer Beobachtung. Das Thier genießt wesentlich nur mit dem Leibe, dem die Seele dient; der Mensch mit der Seele, welcher der Leib dient.
Nun ist aber auch die umgekehrte Betrachtung anzustellen.
tern Erkenntniß. Die menschliche Seele, weniger der Natur hingegeben, mehr bei sich bleibend, entwickelt sich zum Geiste, während die thierische im Leibe erstarrt.
Der ganze menschliche Leib ist schwächer, als der thieri- sche; darum ist die menschliche Seele stärker, als die thierische. Betrachtet man Natur oder Leib überhaupt im Gegensatze zur Seele: so mag man sagen, die Seele sei der Parasit des Leibes. Dieser Ausdruck ist uns aber zu schwach. Dabei wird der Mensch als eine Art Thier betrachtet. Das Verhältniß zwischen Leib und Seele ist aber im Menschen völlig umgestaltet. Wäh- rend beim Thier die Seele des Körpers wegen da ist, der Leib Herr, die Seele ihm dienend: so ist umgekehrt beim Menschen der Leib nur der Seele wegen da; sie nur ist, und der Leib ist ihre Stütze.
In der That, der Erfolg aller thierischen Seelenthätigkeit geht auf im Dienste für den Leib; alle Sinne dienen dem Ma- gen oder dem Ausweichen der Gefahr. Noch etwas mehr wol- len wir zugestehen: das Thier spielt; und wenn man dies, und wir meinen mit Recht, als bloße Nervenerregung ansieht, so ist ferner daran zu erinnern, daß das Thier es freudig fühlt, wenn man es freundlich streichelt, ihm wohlwollend schmeichelt, und mancher Hund Eifersucht zu zeigen scheint, wenn er Liebes- beweise seines Herrn gegen andere bemerkt. Das Thier hat also mehr als bloß sinnliches Gefühl; natürlich! denn es hat An- schauungen, und folglich hat es auch Affecte. Es beweist Liebe, Treue, Dankbarkeit, Haß, Rache. Man kann nicht sagen, es sei durchaus egoistisch; aber es ist durchaus praktisch oder vielmehr utilistisch, und ist nicht theoretisch, liberal. Es bezieht alles auf sich oder den es liebt, auf seinen Nutzen; was ihm nicht nützt, ist nicht für das Thier, und was für dasselbe ist, ist dies nur, insofern es ihm nützt. Abgesehen von den Spiel- bewegungen, zu denen es erregt wird, ergötzt sich das Thier nicht, nicht am Wohlgeruch, nicht am Anschauen, nicht am Hören. Der Mensch, auch der Wilde, hat ein vielfältigeres In- teresse an den Dingen; er verzehrt sie nicht bloß, sondern ge- nießt sie, indem er sie gewähren läßt. Das ist ein Anfang rein theoretischer Beobachtung. Das Thier genießt wesentlich nur mit dem Leibe, dem die Seele dient; der Mensch mit der Seele, welcher der Leib dient.
Nun ist aber auch die umgekehrte Betrachtung anzustellen.
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tern Erkenntniß. Die menschliche Seele, weniger der Natur
hingegeben, mehr bei sich bleibend, entwickelt sich zum Geiste,
während die thierische im Leibe erstarrt.
Der ganze menschliche Leib ist schwächer, als der thieri-
sche; darum ist die menschliche Seele stärker, als die thierische.
Betrachtet man Natur oder Leib überhaupt im Gegensatze zur
Seele: so mag man sagen, die Seele sei der Parasit des Leibes.
Dieser Ausdruck ist uns aber zu schwach. Dabei wird der
Mensch als eine Art Thier betrachtet. Das Verhältniß zwischen
Leib und Seele ist aber im Menschen völlig umgestaltet. Wäh-
rend beim Thier die Seele des Körpers wegen da ist, der Leib
Herr, die Seele ihm dienend: so ist umgekehrt beim Menschen
der Leib nur der Seele wegen da; sie nur ist, und der Leib
ist ihre Stütze.
In der That, der Erfolg aller thierischen Seelenthätigkeit
geht auf im Dienste für den Leib; alle Sinne dienen dem Ma-
gen oder dem Ausweichen der Gefahr. Noch etwas mehr wol-
len wir zugestehen: das Thier spielt; und wenn man dies, und
wir meinen mit Recht, als bloße Nervenerregung ansieht, so ist
ferner daran zu erinnern, daß das Thier es freudig fühlt, wenn
man es freundlich streichelt, ihm wohlwollend schmeichelt, und
mancher Hund Eifersucht zu zeigen scheint, wenn er Liebes-
beweise seines Herrn gegen andere bemerkt. Das Thier hat also
mehr als bloß sinnliches Gefühl; natürlich! denn es hat An-
schauungen, und folglich hat es auch Affecte. Es beweist Liebe,
Treue, Dankbarkeit, Haß, Rache. Man kann nicht sagen, es
sei durchaus egoistisch; aber es ist durchaus praktisch oder
vielmehr utilistisch, und ist nicht theoretisch, liberal. Es bezieht
alles auf sich oder den es liebt, auf seinen Nutzen; was ihm
nicht nützt, ist nicht für das Thier, und was für dasselbe ist,
ist dies nur, insofern es ihm nützt. Abgesehen von den Spiel-
bewegungen, zu denen es erregt wird, ergötzt sich das Thier
nicht, nicht am Wohlgeruch, nicht am Anschauen, nicht am
Hören. Der Mensch, auch der Wilde, hat ein vielfältigeres In-
teresse an den Dingen; er verzehrt sie nicht bloß, sondern ge-
nießt sie, indem er sie gewähren läßt. Das ist ein Anfang rein
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mit dem Leibe, dem die Seele dient; der Mensch mit der Seele,
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/324>, abgerufen am 25.11.2024.
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