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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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Das Thier sieht und hört besser; das heißt: es sieht in einer
Entfernung, hört aus einer Entfernung, in und aus welcher der
Mensch nicht sieht und hört; aber was der Mensch sieht und
hört, das erkennt er besser, d. h. mit mehr und mit feinern Un-
terschieden. Es fehlt erstlich dem Gesichtssinn des Thieres die
so lebendige Unterstützung des Tast- oder Gefühlssinnes; das
kann nicht ohne schwächenden Einfluß auf die Gesichtserkennt-
niß bleiben. Ferner fragt es sich, ob wohl die Thiere Farben-
unterschiede erkennen? Herbart bemerkt hierüber (Psych. §. 129.
Werke VI. S. 207): "Da es sogar Menschen giebt, die nach
Kants Ausdruck alles gleichsam in Kupferstich sehen *), so ist
leicht zu erwarten, daß wenigstens vielen Thiergattungen keine
vollkommnere Sinnesempfindung zugetheilt sein möge; wodurch
wiederum der ursprüngliche Vorrath an Elementarvorstellungen
eine sehr bedeutende Verminderung erleidet." Nun weiß man
freilich, wie gewisse Farben auf gewisse Thiere, wie z. B. das
Roth auf die Stiere, einen unbegreiflich bedeutenden Eindruck
machen. Dies scheint jedoch darauf hinzudeuten, daß die Far-
ben dem Thiere weniger Empfindungserkenntnisse geben, als
Gefühlsaufregungen verursachen mögen. Wir machen vielleicht
Kants eben angeführten Ausdruck noch treffender, wenn wir
sagen, das Thier sehe alles in Photographie; die objectiven Ver-
hältnisse, die uns als Farben erscheinen, mögen sich in das thie-
rische Sehen theils gar nicht einmischen, theils mögen sie in
ganz anderer Form gefühlt werden, aber dann sicherlich in ei-
ner der theoretischen Entwicklung nachtheiligen Form. -- Und
ebenso endlich mag es sich mit dem Gehör verhalten: das thie-
rische, dem menschlichen quantitativ überlegen, steht ihm den-
noch qualitativ nach. Das Pferd spitzt die Ohren, lange bevor
der Reiter etwas merkt. Aber Sinn für wohllautende Töne, für
Harmonie und Rhythmik haben die Thiere nicht. Das Pferd
scheint vom Blasen der Hörner angenehm berührt zu werden;
der Hund heult die Musik an. Es giebt bekanntlich auch Men-
schen, welche für Musik keinen Sinn haben, denen Musik blo-
ßer Lärm ist. Wilhelm von Humboldt ist ein solches Beispiel,
er, der in den übrigen Künsten den gebildetsten Geschmack
hatte. Was unter den Menschen Ausnahme ist, kann leicht beim
Thier Regel sein. Ebenso mag dem Thiere der Unterschied der
Articulation völlig entgehen.

*) Kant, Anthropologie S. 55 (Werke, X. S. 161).

Das Thier sieht und hört besser; das heißt: es sieht in einer
Entfernung, hört aus einer Entfernung, in und aus welcher der
Mensch nicht sieht und hört; aber was der Mensch sieht und
hört, das erkennt er besser, d. h. mit mehr und mit feinern Un-
terschieden. Es fehlt erstlich dem Gesichtssinn des Thieres die
so lebendige Unterstützung des Tast- oder Gefühlssinnes; das
kann nicht ohne schwächenden Einfluß auf die Gesichtserkennt-
niß bleiben. Ferner fragt es sich, ob wohl die Thiere Farben-
unterschiede erkennen? Herbart bemerkt hierüber (Psych. §. 129.
Werke VI. S. 207): „Da es sogar Menschen giebt, die nach
Kants Ausdruck alles gleichsam in Kupferstich sehen *), so ist
leicht zu erwarten, daß wenigstens vielen Thiergattungen keine
vollkommnere Sinnesempfindung zugetheilt sein möge; wodurch
wiederum der ursprüngliche Vorrath an Elementarvorstellungen
eine sehr bedeutende Verminderung erleidet.“ Nun weiß man
freilich, wie gewisse Farben auf gewisse Thiere, wie z. B. das
Roth auf die Stiere, einen unbegreiflich bedeutenden Eindruck
machen. Dies scheint jedoch darauf hinzudeuten, daß die Far-
ben dem Thiere weniger Empfindungserkenntnisse geben, als
Gefühlsaufregungen verursachen mögen. Wir machen vielleicht
Kants eben angeführten Ausdruck noch treffender, wenn wir
sagen, das Thier sehe alles in Photographie; die objectiven Ver-
hältnisse, die uns als Farben erscheinen, mögen sich in das thie-
rische Sehen theils gar nicht einmischen, theils mögen sie in
ganz anderer Form gefühlt werden, aber dann sicherlich in ei-
ner der theoretischen Entwicklung nachtheiligen Form. — Und
ebenso endlich mag es sich mit dem Gehör verhalten: das thie-
rische, dem menschlichen quantitativ überlegen, steht ihm den-
noch qualitativ nach. Das Pferd spitzt die Ohren, lange bevor
der Reiter etwas merkt. Aber Sinn für wohllautende Töne, für
Harmonie und Rhythmik haben die Thiere nicht. Das Pferd
scheint vom Blasen der Hörner angenehm berührt zu werden;
der Hund heult die Musik an. Es giebt bekanntlich auch Men-
schen, welche für Musik keinen Sinn haben, denen Musik blo-
ßer Lärm ist. Wilhelm von Humboldt ist ein solches Beispiel,
er, der in den übrigen Künsten den gebildetsten Geschmack
hatte. Was unter den Menschen Ausnahme ist, kann leicht beim
Thier Regel sein. Ebenso mag dem Thiere der Unterschied der
Articulation völlig entgehen.

*) Kant, Anthropologie S. 55 (Werke, X. S. 161).
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[283/0321] Das Thier sieht und hört besser; das heißt: es sieht in einer Entfernung, hört aus einer Entfernung, in und aus welcher der Mensch nicht sieht und hört; aber was der Mensch sieht und hört, das erkennt er besser, d. h. mit mehr und mit feinern Un- terschieden. Es fehlt erstlich dem Gesichtssinn des Thieres die so lebendige Unterstützung des Tast- oder Gefühlssinnes; das kann nicht ohne schwächenden Einfluß auf die Gesichtserkennt- niß bleiben. Ferner fragt es sich, ob wohl die Thiere Farben- unterschiede erkennen? Herbart bemerkt hierüber (Psych. §. 129. Werke VI. S. 207): „Da es sogar Menschen giebt, die nach Kants Ausdruck alles gleichsam in Kupferstich sehen *), so ist leicht zu erwarten, daß wenigstens vielen Thiergattungen keine vollkommnere Sinnesempfindung zugetheilt sein möge; wodurch wiederum der ursprüngliche Vorrath an Elementarvorstellungen eine sehr bedeutende Verminderung erleidet.“ Nun weiß man freilich, wie gewisse Farben auf gewisse Thiere, wie z. B. das Roth auf die Stiere, einen unbegreiflich bedeutenden Eindruck machen. Dies scheint jedoch darauf hinzudeuten, daß die Far- ben dem Thiere weniger Empfindungserkenntnisse geben, als Gefühlsaufregungen verursachen mögen. Wir machen vielleicht Kants eben angeführten Ausdruck noch treffender, wenn wir sagen, das Thier sehe alles in Photographie; die objectiven Ver- hältnisse, die uns als Farben erscheinen, mögen sich in das thie- rische Sehen theils gar nicht einmischen, theils mögen sie in ganz anderer Form gefühlt werden, aber dann sicherlich in ei- ner der theoretischen Entwicklung nachtheiligen Form. — Und ebenso endlich mag es sich mit dem Gehör verhalten: das thie- rische, dem menschlichen quantitativ überlegen, steht ihm den- noch qualitativ nach. Das Pferd spitzt die Ohren, lange bevor der Reiter etwas merkt. Aber Sinn für wohllautende Töne, für Harmonie und Rhythmik haben die Thiere nicht. Das Pferd scheint vom Blasen der Hörner angenehm berührt zu werden; der Hund heult die Musik an. Es giebt bekanntlich auch Men- schen, welche für Musik keinen Sinn haben, denen Musik blo- ßer Lärm ist. Wilhelm von Humboldt ist ein solches Beispiel, er, der in den übrigen Künsten den gebildetsten Geschmack hatte. Was unter den Menschen Ausnahme ist, kann leicht beim Thier Regel sein. Ebenso mag dem Thiere der Unterschied der Articulation völlig entgehen. *) Kant, Anthropologie S. 55 (Werke, X. S. 161).

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/321>, abgerufen am 12.05.2024.