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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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Auf dem Standpunkte der Anschauung wird nicht geur-
theilt; denn ihr Wesen ist Einheit. Urtheilt denn nun also das
Thier nicht? Sicherlich nicht, insofern dadurch die Einheit der
Anschauung aufgehoben würde. Es läßt sich aber urtheilen,
ohne die Anschauung in einzelne Qualitäten zu zertheilen --
Urtheile, welche sich auf das Ganze der Anschauung erstrecken.
Wenn ein Thier eine Anschauung gehabt hat, die ihm von neuem
dargeboten wird, so wird es das wohl wissen und gewisserma-
ßen urtheilen: dieses A = einem alten A. Ebenso wird es ge-
schehen, wenn zwei Anschauungen A und B mit einander in der
Seele des Thieres verbunden sind. Jetzt wiederhole sich A;
das Thier wird nicht bloß die Identität des A urtheilen, son-
dern auch B erwarten, und tritt B wirklich auf, von neuem ein
Identitäts-Urtheil bilden -- natürlich alles dies nur in sehr un-
eigentlichem Sinne. Solche Identitäts-Urtheile, in denen Subject
und Prädicat identisch sind, zusammenfallen, können keine
wirklichen Urtheile erwecken. Es kommt hinzu, daß hier
das Subject immer noch die Seele selbst ist, die alte Anschau-
ung A. Die Identität des alten und neuen A ist also ein Ver-
schmelzen der Seele mit der neuen Anschauung, kein Urtheilen,
kein Unterscheiden. Diese Verschmelzung geht ruhig vor sich,
sie erregt keine weitere Seelenthätigkeit, sondern giebt im Ge-
gentheil das Gefühl der Befriedigung, in welcher die Seele ru-
hig beharrt, bis sie von neuem gestört wird.

Dieses gewissermaßen so anzusehende Identitätsurtheil war
affirmativ; wie sollte aber das Thier nicht auch, in gleichem
Sinne, wie das affirmirende, das die Identität negirende Urtheil
kennen? Die Kuh vor dem neuen Thore urtheilt negirend. Sie
sieht die alte Straße, das alte Haus und erwartet nun die mit
jenen beiden Anschauungen associirte Anschauung des alten
Thores; sie findet aber dieses nicht. Die neue Wahrnehmung
verschmilzt nicht mit der Seele: das ist ihre Negation. War
Behaglichkeit und Zufriedenheit Ausdruck der thierischen Affir-
mation, so ist der Ausdruck der thierischen Negation stumpfes
Staunen. Es kommt auch hier zu keinem Urtheil, auch beim
Menschen in ähnlichem Falle nicht; man weiß eben nicht, was
man dazu sagen solle. Die ganze Erkenntniß des Thiers be-
steht im Anerkennen und Verschmähen; beides geht nicht in
der Form des Urtheils vor sich.

Ein Thier schließt auch und hat praktische Absichten.

Auf dem Standpunkte der Anschauung wird nicht geur-
theilt; denn ihr Wesen ist Einheit. Urtheilt denn nun also das
Thier nicht? Sicherlich nicht, insofern dadurch die Einheit der
Anschauung aufgehoben würde. Es läßt sich aber urtheilen,
ohne die Anschauung in einzelne Qualitäten zu zertheilen —
Urtheile, welche sich auf das Ganze der Anschauung erstrecken.
Wenn ein Thier eine Anschauung gehabt hat, die ihm von neuem
dargeboten wird, so wird es das wohl wissen und gewisserma-
ßen urtheilen: dieses A = einem alten A. Ebenso wird es ge-
schehen, wenn zwei Anschauungen A und B mit einander in der
Seele des Thieres verbunden sind. Jetzt wiederhole sich A;
das Thier wird nicht bloß die Identität des A urtheilen, son-
dern auch B erwarten, und tritt B wirklich auf, von neuem ein
Identitäts-Urtheil bilden — natürlich alles dies nur in sehr un-
eigentlichem Sinne. Solche Identitäts-Urtheile, in denen Subject
und Prädicat identisch sind, zusammenfallen, können keine
wirklichen Urtheile erwecken. Es kommt hinzu, daß hier
das Subject immer noch die Seele selbst ist, die alte Anschau-
ung A. Die Identität des alten und neuen A ist also ein Ver-
schmelzen der Seele mit der neuen Anschauung, kein Urtheilen,
kein Unterscheiden. Diese Verschmelzung geht ruhig vor sich,
sie erregt keine weitere Seelenthätigkeit, sondern giebt im Ge-
gentheil das Gefühl der Befriedigung, in welcher die Seele ru-
hig beharrt, bis sie von neuem gestört wird.

Dieses gewissermaßen so anzusehende Identitätsurtheil war
affirmativ; wie sollte aber das Thier nicht auch, in gleichem
Sinne, wie das affirmirende, das die Identität negirende Urtheil
kennen? Die Kuh vor dem neuen Thore urtheilt negirend. Sie
sieht die alte Straße, das alte Haus und erwartet nun die mit
jenen beiden Anschauungen associirte Anschauung des alten
Thores; sie findet aber dieses nicht. Die neue Wahrnehmung
verschmilzt nicht mit der Seele: das ist ihre Negation. War
Behaglichkeit und Zufriedenheit Ausdruck der thierischen Affir-
mation, so ist der Ausdruck der thierischen Negation stumpfes
Staunen. Es kommt auch hier zu keinem Urtheil, auch beim
Menschen in ähnlichem Falle nicht; man weiß eben nicht, was
man dazu sagen solle. Die ganze Erkenntniß des Thiers be-
steht im Anerkennen und Verschmähen; beides geht nicht in
der Form des Urtheils vor sich.

Ein Thier schließt auch und hat praktische Absichten.

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[268/0306] Auf dem Standpunkte der Anschauung wird nicht geur- theilt; denn ihr Wesen ist Einheit. Urtheilt denn nun also das Thier nicht? Sicherlich nicht, insofern dadurch die Einheit der Anschauung aufgehoben würde. Es läßt sich aber urtheilen, ohne die Anschauung in einzelne Qualitäten zu zertheilen — Urtheile, welche sich auf das Ganze der Anschauung erstrecken. Wenn ein Thier eine Anschauung gehabt hat, die ihm von neuem dargeboten wird, so wird es das wohl wissen und gewisserma- ßen urtheilen: dieses A = einem alten A. Ebenso wird es ge- schehen, wenn zwei Anschauungen A und B mit einander in der Seele des Thieres verbunden sind. Jetzt wiederhole sich A; das Thier wird nicht bloß die Identität des A urtheilen, son- dern auch B erwarten, und tritt B wirklich auf, von neuem ein Identitäts-Urtheil bilden — natürlich alles dies nur in sehr un- eigentlichem Sinne. Solche Identitäts-Urtheile, in denen Subject und Prädicat identisch sind, zusammenfallen, können keine wirklichen Urtheile erwecken. Es kommt hinzu, daß hier das Subject immer noch die Seele selbst ist, die alte Anschau- ung A. Die Identität des alten und neuen A ist also ein Ver- schmelzen der Seele mit der neuen Anschauung, kein Urtheilen, kein Unterscheiden. Diese Verschmelzung geht ruhig vor sich, sie erregt keine weitere Seelenthätigkeit, sondern giebt im Ge- gentheil das Gefühl der Befriedigung, in welcher die Seele ru- hig beharrt, bis sie von neuem gestört wird. Dieses gewissermaßen so anzusehende Identitätsurtheil war affirmativ; wie sollte aber das Thier nicht auch, in gleichem Sinne, wie das affirmirende, das die Identität negirende Urtheil kennen? Die Kuh vor dem neuen Thore urtheilt negirend. Sie sieht die alte Straße, das alte Haus und erwartet nun die mit jenen beiden Anschauungen associirte Anschauung des alten Thores; sie findet aber dieses nicht. Die neue Wahrnehmung verschmilzt nicht mit der Seele: das ist ihre Negation. War Behaglichkeit und Zufriedenheit Ausdruck der thierischen Affir- mation, so ist der Ausdruck der thierischen Negation stumpfes Staunen. Es kommt auch hier zu keinem Urtheil, auch beim Menschen in ähnlichem Falle nicht; man weiß eben nicht, was man dazu sagen solle. Die ganze Erkenntniß des Thiers be- steht im Anerkennen und Verschmähen; beides geht nicht in der Form des Urtheils vor sich. Ein Thier schließt auch und hat praktische Absichten.

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 268. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/306>, abgerufen am 22.11.2024.