der Kuh. Wird er Hündinn, Kuh und Weib zusammenfassen als weiblichen Geschlechts; Hund, Stier und Mann als männli- lichen? Wodurch bewiese er denn, daß er das thäte? Gerade rücksichtlich der Begattungsverhältnisse entwickelt das Thier ganz wunderbare Seelenfähigkeiten. Aber wir dürfen auch an- nehmen, daß, so oft es hier den gewöhnlichen Kreis seiner Kraft überschreitet, ein bewußtloser Instinct wirksam war. Weiß der Hund, indem er sich begattet, von Zeugung und Geburt? von Erhaltung seiner Art? weiß die Hündinn, sie werde befruchtet, werde schwanger werden und Junge werfen, die sie dann zu säugen habe? Weiß sie von alle dem in seinem causalen Zu- sammenhange, oder auch nur als zeitliche Reihenfolge von Thä- tigkeiten und Zuständen und Ereignissen? Das dürfte wohl Nie- mand behaupten. Dann weiß aber auch der Hund nichts von Geschlechtern. Er folgt in jedem Augenblicke dem unbewuß- ten Instinct, jetzt in der Begattung, später im Säugen, ohne Be- wußtsein vom Zusammenhange beider, ohne Nachdenken, warum nicht auch der Nachbar säuge, warum er sich bei der Begat- tung anders benehme -- kurz ohne Unterscheidung der Geschlech- ter, als eines Artbegriffs oder einer Artanschauung. In seinem instinctiven Drange sucht der Hund ein Individuum, das geeig- net ist, seinen Drang zu stillen. Daß dieses oder jenes Indivi- duum dazu geeignet sei, ein anderes nicht: das weiß er, wie er weiß, was er zu essen hat, und was liegen zu lassen. -- Er sieht eine fest gewurzelte Pflanze, ein sich bewegendes Thier, einen bewegten Stein: er scheidet sie von einander, wie dieses Indi- viduum von andern; er scheidet sie als verschiedene Etwas; er scheidet sie nicht als artverschieden, als Pflanze, Thier und Stein.
Wir haben im Obigen schon die Ausdehnung der Zeit als Gegenstand des Bewußtseins berührt. Der Hund hat Gedächt- niß; denn das heißt nichts weiter, als er hat eine Seele, die klarer Sinneseindrücke fähig ist; der wiederholte Sinneseindruck muß ihm also als bekannt erscheinen. Er hat zwei Begeben- heiten hinter einander wahrgenommen; beide Anschauungen as- sociiren sich. Nimmt er die erste von neuem wahr, so steigt auch die zweite wieder in seinem Bewußtsein auf: d. h. er er- wartet sie. Er hat also eine Vergangenheit und eine Zukunft, aber gewiß nur eine sehr unbestimmte. Die Vertrautheit mit einer wiederholten Wahrnehmung, das Erwarten einer kommen sollenden, ist noch kein Bewußtsein von der Ausdehnung der
der Kuh. Wird er Hündinn, Kuh und Weib zusammenfassen als weiblichen Geschlechts; Hund, Stier und Mann als männli- lichen? Wodurch bewiese er denn, daß er das thäte? Gerade rücksichtlich der Begattungsverhältnisse entwickelt das Thier ganz wunderbare Seelenfähigkeiten. Aber wir dürfen auch an- nehmen, daß, so oft es hier den gewöhnlichen Kreis seiner Kraft überschreitet, ein bewußtloser Instinct wirksam war. Weiß der Hund, indem er sich begattet, von Zeugung und Geburt? von Erhaltung seiner Art? weiß die Hündinn, sie werde befruchtet, werde schwanger werden und Junge werfen, die sie dann zu säugen habe? Weiß sie von alle dem in seinem causalen Zu- sammenhange, oder auch nur als zeitliche Reihenfolge von Thä- tigkeiten und Zuständen und Ereignissen? Das dürfte wohl Nie- mand behaupten. Dann weiß aber auch der Hund nichts von Geschlechtern. Er folgt in jedem Augenblicke dem unbewuß- ten Instinct, jetzt in der Begattung, später im Säugen, ohne Be- wußtsein vom Zusammenhange beider, ohne Nachdenken, warum nicht auch der Nachbar säuge, warum er sich bei der Begat- tung anders benehme — kurz ohne Unterscheidung der Geschlech- ter, als eines Artbegriffs oder einer Artanschauung. In seinem instinctiven Drange sucht der Hund ein Individuum, das geeig- net ist, seinen Drang zu stillen. Daß dieses oder jenes Indivi- duum dazu geeignet sei, ein anderes nicht: das weiß er, wie er weiß, was er zu essen hat, und was liegen zu lassen. — Er sieht eine fest gewurzelte Pflanze, ein sich bewegendes Thier, einen bewegten Stein: er scheidet sie von einander, wie dieses Indi- viduum von andern; er scheidet sie als verschiedene Etwas; er scheidet sie nicht als artverschieden, als Pflanze, Thier und Stein.
Wir haben im Obigen schon die Ausdehnung der Zeit als Gegenstand des Bewußtseins berührt. Der Hund hat Gedächt- niß; denn das heißt nichts weiter, als er hat eine Seele, die klarer Sinneseindrücke fähig ist; der wiederholte Sinneseindruck muß ihm also als bekannt erscheinen. Er hat zwei Begeben- heiten hinter einander wahrgenommen; beide Anschauungen as- sociiren sich. Nimmt er die erste von neuem wahr, so steigt auch die zweite wieder in seinem Bewußtsein auf: d. h. er er- wartet sie. Er hat also eine Vergangenheit und eine Zukunft, aber gewiß nur eine sehr unbestimmte. Die Vertrautheit mit einer wiederholten Wahrnehmung, das Erwarten einer kommen sollenden, ist noch kein Bewußtsein von der Ausdehnung der
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der Kuh. Wird er Hündinn, Kuh und Weib zusammenfassen
als weiblichen Geschlechts; Hund, Stier und Mann als männli-
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rücksichtlich der Begattungsverhältnisse entwickelt das Thier
ganz wunderbare Seelenfähigkeiten. Aber wir dürfen auch an-
nehmen, daß, so oft es hier den gewöhnlichen Kreis seiner Kraft
überschreitet, ein bewußtloser Instinct wirksam war. Weiß der
Hund, indem er sich begattet, von Zeugung und Geburt? von
Erhaltung seiner Art? weiß die Hündinn, sie werde befruchtet,
werde schwanger werden und Junge werfen, die sie dann zu
säugen habe? Weiß sie von alle dem in seinem causalen Zu-
sammenhange, oder auch nur als zeitliche Reihenfolge von Thä-
tigkeiten und Zuständen und Ereignissen? Das dürfte wohl Nie-
mand behaupten. Dann weiß aber auch der Hund nichts von
Geschlechtern. Er folgt in jedem Augenblicke dem unbewuß-
ten Instinct, jetzt in der Begattung, später im Säugen, ohne Be-
wußtsein vom Zusammenhange beider, ohne Nachdenken, warum
nicht auch der Nachbar säuge, warum er sich bei der Begat-
tung anders benehme — kurz ohne Unterscheidung der Geschlech-
ter, als eines Artbegriffs oder einer Artanschauung. In seinem
instinctiven Drange sucht der Hund ein Individuum, das geeig-
net ist, seinen Drang zu stillen. Daß dieses oder jenes Indivi-
duum dazu geeignet sei, ein anderes nicht: das weiß er, wie er
weiß, was er zu essen hat, und was liegen zu lassen. — Er sieht
eine fest gewurzelte Pflanze, ein sich bewegendes Thier, einen
bewegten Stein: er scheidet sie von einander, wie dieses Indi-
viduum von andern; er scheidet sie als verschiedene Etwas; er
scheidet sie nicht als artverschieden, als Pflanze, Thier und Stein.
Wir haben im Obigen schon die Ausdehnung der Zeit als
Gegenstand des Bewußtseins berührt. Der Hund hat Gedächt-
niß; denn das heißt nichts weiter, als er hat eine Seele, die
klarer Sinneseindrücke fähig ist; der wiederholte Sinneseindruck
muß ihm also als bekannt erscheinen. Er hat zwei Begeben-
heiten hinter einander wahrgenommen; beide Anschauungen as-
sociiren sich. Nimmt er die erste von neuem wahr, so steigt
auch die zweite wieder in seinem Bewußtsein auf: d. h. er er-
wartet sie. Er hat also eine Vergangenheit und eine Zukunft,
aber gewiß nur eine sehr unbestimmte. Die Vertrautheit mit
einer wiederholten Wahrnehmung, das Erwarten einer kommen
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/303>, abgerufen am 21.11.2024.
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