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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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Was ist aber Wahrnehmung? Wir haben eine Stufen-
reihe von Gefühl, Empfindung, Anschauung gebildet. Wir könn-
ten dieser Reihe noch ein Glied ganz vorn anfügen, indem wir
vor das Gefühl das noch unbestimmtere, durchaus einheitliche,
sinnliche Gemeingefühl setzen, welches sich weder auf ein
äußeres Object, noch auf bestimmte Theile des Körpers bezieht,
sondern welches (nach Lotze, Medicinische Psychologie S. 281.)
"dem Bewußtsein die ganze Summe und Elasticität der vorhan-
denen disponibeln Lebenskraft zur Wahrnehmung bringt;" jenes
Gefühl allgemeiner Anspannung oder Erschlaffung, der Leich-
tigkeit oder Schwere des gesammten Körpers; kurz die allge-
meine Weise, wie die Seele den Gesammtzustand ihres Leibes
als unzerlegte Einheit fühlt. Das bestimmte Gefühl wäre also
im Verhältnisse zu diesem Gemeingefühle schon eine Specifici-
rung desselben, schon ein Bruch der Einheit. Wo werden wir
nun aber der Wahrnehmung in der obigen Reihe den Platz
anweisen? Nirgends, weil überall! Wahrnehmung ist kein den
obigen Begriffen beizuordnender Begriff; er liegt seinem Inhalte
nach in einer ganz andern Reihe. Wahrnehmung bezeichnet
für den ganzen Entwickelungsgang der Seele durch die sinnli-
chen Erkenntnisse hindurch nichts anderes, als daß die leibliche
Erregung vermittelst der Nerven und des Centralorgans zur Seele
gelangt, von ihr aufgenommen ist. Alles, was die Sinnlichkeit
der Seele an Erkenntniß giebt, alles Sinnliche, dessen die Seele
bewußt wird, wird wahrgenommen, es sei als Gefühl oder Em-
pfindung. In der Anschauung ist schon keine Wahrnehmung
mehr, weil die Anschauung, obwohl auf Empfindungen gegrün-

lichung und Lebendigkeit. -- In einem noch andern Sinne nimmt Herbart die
Anschauung. Er definirt (Lehrbuch zur Psychologie §. 204. Psychologie II,
§. 147.): "Anschauen heißt, ein Object, gegenüber dem Subjecte, als ein sol-
ches und kein anderes auffassen." Dies verlangt freilich schon ein sehr ent-
wickeltes Selbstbewußtsein; es ist aber vielmehr Beobachtung, welche die
Qualitäten des Objects aufsucht, "indem wir mit Besonnenheit etwas besehen
und betrachten." Wie sehr hier die Bedeutung des Wortes Anschauung er-
höht ist, geht aus der widerspruchsvollen Bemerkung Herbarts hervor: "Daß
in der Anschauung, als Grundbestandtheil derselben, Empfindung liege: ver-
steht sich zwar von selbst. Allein je stärker diese Empfindung, desto mehr
wird sie hemmend einwirken sowohl auf die Vorstellung des Subjects, als auf
die der andern, davon zu unterscheidenden Objecte. Das heißt: die An-
schauung wird verlieren an dem, was an ihr charakteristisch ist
."
Darum aber, meinen wir. vernichtet sich hier die Anschauung und wird Beob-
achtung.

Was ist aber Wahrnehmung? Wir haben eine Stufen-
reihe von Gefühl, Empfindung, Anschauung gebildet. Wir könn-
ten dieser Reihe noch ein Glied ganz vorn anfügen, indem wir
vor das Gefühl das noch unbestimmtere, durchaus einheitliche,
sinnliche Gemeingefühl setzen, welches sich weder auf ein
äußeres Object, noch auf bestimmte Theile des Körpers bezieht,
sondern welches (nach Lotze, Medicinische Psychologie S. 281.)
„dem Bewußtsein die ganze Summe und Elasticität der vorhan-
denen disponibeln Lebenskraft zur Wahrnehmung bringt;“ jenes
Gefühl allgemeiner Anspannung oder Erschlaffung, der Leich-
tigkeit oder Schwere des gesammten Körpers; kurz die allge-
meine Weise, wie die Seele den Gesammtzustand ihres Leibes
als unzerlegte Einheit fühlt. Das bestimmte Gefühl wäre also
im Verhältnisse zu diesem Gemeingefühle schon eine Specifici-
rung desselben, schon ein Bruch der Einheit. Wo werden wir
nun aber der Wahrnehmung in der obigen Reihe den Platz
anweisen? Nirgends, weil überall! Wahrnehmung ist kein den
obigen Begriffen beizuordnender Begriff; er liegt seinem Inhalte
nach in einer ganz andern Reihe. Wahrnehmung bezeichnet
für den ganzen Entwickelungsgang der Seele durch die sinnli-
chen Erkenntnisse hindurch nichts anderes, als daß die leibliche
Erregung vermittelst der Nerven und des Centralorgans zur Seele
gelangt, von ihr aufgenommen ist. Alles, was die Sinnlichkeit
der Seele an Erkenntniß giebt, alles Sinnliche, dessen die Seele
bewußt wird, wird wahrgenommen, es sei als Gefühl oder Em-
pfindung. In der Anschauung ist schon keine Wahrnehmung
mehr, weil die Anschauung, obwohl auf Empfindungen gegrün-

lichung und Lebendigkeit. — In einem noch andern Sinne nimmt Herbart die
Anschauung. Er definirt (Lehrbuch zur Psychologie §. 204. Psychologie II,
§. 147.): „Anschauen heißt, ein Object, gegenüber dem Subjecte, als ein sol-
ches und kein anderes auffassen.“ Dies verlangt freilich schon ein sehr ent-
wickeltes Selbstbewußtsein; es ist aber vielmehr Beobachtung, welche die
Qualitäten des Objects aufsucht, „indem wir mit Besonnenheit etwas besehen
und betrachten.“ Wie sehr hier die Bedeutung des Wortes Anschauung er-
höht ist, geht aus der widerspruchsvollen Bemerkung Herbarts hervor: „Daß
in der Anschauung, als Grundbestandtheil derselben, Empfindung liege: ver-
steht sich zwar von selbst. Allein je stärker diese Empfindung, desto mehr
wird sie hemmend einwirken sowohl auf die Vorstellung des Subjects, als auf
die der andern, davon zu unterscheidenden Objecte. Das heißt: die An-
schauung wird verlieren an dem, was an ihr charakteristisch ist
.“
Darum aber, meinen wir. vernichtet sich hier die Anschauung und wird Beob-
achtung.
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[261/0299] Was ist aber Wahrnehmung? Wir haben eine Stufen- reihe von Gefühl, Empfindung, Anschauung gebildet. Wir könn- ten dieser Reihe noch ein Glied ganz vorn anfügen, indem wir vor das Gefühl das noch unbestimmtere, durchaus einheitliche, sinnliche Gemeingefühl setzen, welches sich weder auf ein äußeres Object, noch auf bestimmte Theile des Körpers bezieht, sondern welches (nach Lotze, Medicinische Psychologie S. 281.) „dem Bewußtsein die ganze Summe und Elasticität der vorhan- denen disponibeln Lebenskraft zur Wahrnehmung bringt;“ jenes Gefühl allgemeiner Anspannung oder Erschlaffung, der Leich- tigkeit oder Schwere des gesammten Körpers; kurz die allge- meine Weise, wie die Seele den Gesammtzustand ihres Leibes als unzerlegte Einheit fühlt. Das bestimmte Gefühl wäre also im Verhältnisse zu diesem Gemeingefühle schon eine Specifici- rung desselben, schon ein Bruch der Einheit. Wo werden wir nun aber der Wahrnehmung in der obigen Reihe den Platz anweisen? Nirgends, weil überall! Wahrnehmung ist kein den obigen Begriffen beizuordnender Begriff; er liegt seinem Inhalte nach in einer ganz andern Reihe. Wahrnehmung bezeichnet für den ganzen Entwickelungsgang der Seele durch die sinnli- chen Erkenntnisse hindurch nichts anderes, als daß die leibliche Erregung vermittelst der Nerven und des Centralorgans zur Seele gelangt, von ihr aufgenommen ist. Alles, was die Sinnlichkeit der Seele an Erkenntniß giebt, alles Sinnliche, dessen die Seele bewußt wird, wird wahrgenommen, es sei als Gefühl oder Em- pfindung. In der Anschauung ist schon keine Wahrnehmung mehr, weil die Anschauung, obwohl auf Empfindungen gegrün- *) *) lichung und Lebendigkeit. — In einem noch andern Sinne nimmt Herbart die Anschauung. Er definirt (Lehrbuch zur Psychologie §. 204. Psychologie II, §. 147.): „Anschauen heißt, ein Object, gegenüber dem Subjecte, als ein sol- ches und kein anderes auffassen.“ Dies verlangt freilich schon ein sehr ent- wickeltes Selbstbewußtsein; es ist aber vielmehr Beobachtung, welche die Qualitäten des Objects aufsucht, „indem wir mit Besonnenheit etwas besehen und betrachten.“ Wie sehr hier die Bedeutung des Wortes Anschauung er- höht ist, geht aus der widerspruchsvollen Bemerkung Herbarts hervor: „Daß in der Anschauung, als Grundbestandtheil derselben, Empfindung liege: ver- steht sich zwar von selbst. Allein je stärker diese Empfindung, desto mehr wird sie hemmend einwirken sowohl auf die Vorstellung des Subjects, als auf die der andern, davon zu unterscheidenden Objecte. Das heißt: die An- schauung wird verlieren an dem, was an ihr charakteristisch ist.“ Darum aber, meinen wir. vernichtet sich hier die Anschauung und wird Beob- achtung.

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/299>, abgerufen am 11.05.2024.