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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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Wie ist denn nun dennoch der Fortschritt gemacht wor-
den? Denn er ist wirklich schon gemacht, von Humboldt ge-
macht, und wie? Man ist aus dem Kreise ganz und gar her-
ausgetreten. Den Zusammenhang zwischen Wesen und Ursprung
der Sprache konnte man nicht aufheben; mit zwei unbekannten
Größen mag man rechnen, wie man will, man gelangt zu kei-
ner bekannten. Von einem dritten Punkte her aber traf beide
zugleich ein tief eindringender Lichtstrahl. Der ganze mensch-
liche Geist, die Intellectualität und das Gefühl, nahm in Kants
Epoche -- die wir nach dem größten Namen so benennen, zu
der wir aber Lessing, Herder, Göthe und Schiller, den Philo-
logen Wolf und so viele Naturforscher rechnen -- einen höhern
Aufschwung. Das Gefühl und Bewußtsein der menschlichen
Würde erlangte eine früher ungekannte Anspannung*), und da-
mit war die höhere Würdigung des menschlichen Erzeugnisses,
der Sprache, schon gegeben. Die höhere Würdigung war schon
ein Anfang der bessern Erkenntniß. Die Kantianer jedoch wa-
ren zu formal logisch, trocken und schlechte Psychologen. Man
hatte vor der Sprache immer noch nicht recht gestaunt: darum
hatte man sie noch nicht begriffen. Dem Kantischen Geiste
und Zeitalter mußte eine Zeit folgen, der Männer wie Böckh,
Grimm
und Bopp und Genossen, und Naturforscher wie der
Geograph Ritter ihren geistigen Hauch verliehen, damit, von
solchem Geiste unterstützt, ein Mann wie Wilhelm von Hum-
boldt
uns lehrte, ein Wunderwerk anzustaunen, bei dessen
Schöpfung die ganze Menschheit, der ganze Mensch nach sei-
nem allseitigen mikrokosmischen Wesen, Natur, Instinct, Geist,
wirksam ist -- ein Wunderwerk, aus dem wir den Urzustand
des Menschengeschlechts, seine vorgeschichtlichen Schicksale
kennen lernen und das Schicksal der Völker, wie es in ihrem
eigenen Geiste vorgezeichnet und bestimmt ist, zu deuten unter-
nehmen dürfen -- ein Wunderwerk endlich, das immer vollen-
det ist und sich ewig neu gebiert; das auf der Individualität
des Geistes beruhend, seine Schöpfung und sein getreuester
Spiegel, doch über allen individuellen Geist hinausweist auf eine
Einheit und Allgemeinheit des Geistes.

Das hat uns Humboldt gelehrt; es ist sehr viel, und er hat
auch nur wenig mehr gelehrt. Genau genommen ist doch die

*) Wir reden oben nur von Deutschland, und es ist durchaus nicht un-
sere Ausicht, wenn man das Gesagte auch auf Frankreich ausdehnen wollte.

Wie ist denn nun dennoch der Fortschritt gemacht wor-
den? Denn er ist wirklich schon gemacht, von Humboldt ge-
macht, und wie? Man ist aus dem Kreise ganz und gar her-
ausgetreten. Den Zusammenhang zwischen Wesen und Ursprung
der Sprache konnte man nicht aufheben; mit zwei unbekannten
Größen mag man rechnen, wie man will, man gelangt zu kei-
ner bekannten. Von einem dritten Punkte her aber traf beide
zugleich ein tief eindringender Lichtstrahl. Der ganze mensch-
liche Geist, die Intellectualität und das Gefühl, nahm in Kants
Epoche — die wir nach dem größten Namen so benennen, zu
der wir aber Lessing, Herder, Göthe und Schiller, den Philo-
logen Wolf und so viele Naturforscher rechnen — einen höhern
Aufschwung. Das Gefühl und Bewußtsein der menschlichen
Würde erlangte eine früher ungekannte Anspannung*), und da-
mit war die höhere Würdigung des menschlichen Erzeugnisses,
der Sprache, schon gegeben. Die höhere Würdigung war schon
ein Anfang der bessern Erkenntniß. Die Kantianer jedoch wa-
ren zu formal logisch, trocken und schlechte Psychologen. Man
hatte vor der Sprache immer noch nicht recht gestaunt: darum
hatte man sie noch nicht begriffen. Dem Kantischen Geiste
und Zeitalter mußte eine Zeit folgen, der Männer wie Böckh,
Grimm
und Bopp und Genossen, und Naturforscher wie der
Geograph Ritter ihren geistigen Hauch verliehen, damit, von
solchem Geiste unterstützt, ein Mann wie Wilhelm von Hum-
boldt
uns lehrte, ein Wunderwerk anzustaunen, bei dessen
Schöpfung die ganze Menschheit, der ganze Mensch nach sei-
nem allseitigen mikrokosmischen Wesen, Natur, Instinct, Geist,
wirksam ist — ein Wunderwerk, aus dem wir den Urzustand
des Menschengeschlechts, seine vorgeschichtlichen Schicksale
kennen lernen und das Schicksal der Völker, wie es in ihrem
eigenen Geiste vorgezeichnet und bestimmt ist, zu deuten unter-
nehmen dürfen — ein Wunderwerk endlich, das immer vollen-
det ist und sich ewig neu gebiert; das auf der Individualität
des Geistes beruhend, seine Schöpfung und sein getreuester
Spiegel, doch über allen individuellen Geist hinausweist auf eine
Einheit und Allgemeinheit des Geistes.

Das hat uns Humboldt gelehrt; es ist sehr viel, und er hat
auch nur wenig mehr gelehrt. Genau genommen ist doch die

*) Wir reden oben nur von Deutschland, und es ist durchaus nicht un-
sere Ausicht, wenn man das Gesagte auch auf Frankreich ausdehnen wollte.
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[230/0268] Wie ist denn nun dennoch der Fortschritt gemacht wor- den? Denn er ist wirklich schon gemacht, von Humboldt ge- macht, und wie? Man ist aus dem Kreise ganz und gar her- ausgetreten. Den Zusammenhang zwischen Wesen und Ursprung der Sprache konnte man nicht aufheben; mit zwei unbekannten Größen mag man rechnen, wie man will, man gelangt zu kei- ner bekannten. Von einem dritten Punkte her aber traf beide zugleich ein tief eindringender Lichtstrahl. Der ganze mensch- liche Geist, die Intellectualität und das Gefühl, nahm in Kants Epoche — die wir nach dem größten Namen so benennen, zu der wir aber Lessing, Herder, Göthe und Schiller, den Philo- logen Wolf und so viele Naturforscher rechnen — einen höhern Aufschwung. Das Gefühl und Bewußtsein der menschlichen Würde erlangte eine früher ungekannte Anspannung *), und da- mit war die höhere Würdigung des menschlichen Erzeugnisses, der Sprache, schon gegeben. Die höhere Würdigung war schon ein Anfang der bessern Erkenntniß. Die Kantianer jedoch wa- ren zu formal logisch, trocken und schlechte Psychologen. Man hatte vor der Sprache immer noch nicht recht gestaunt: darum hatte man sie noch nicht begriffen. Dem Kantischen Geiste und Zeitalter mußte eine Zeit folgen, der Männer wie Böckh, Grimm und Bopp und Genossen, und Naturforscher wie der Geograph Ritter ihren geistigen Hauch verliehen, damit, von solchem Geiste unterstützt, ein Mann wie Wilhelm von Hum- boldt uns lehrte, ein Wunderwerk anzustaunen, bei dessen Schöpfung die ganze Menschheit, der ganze Mensch nach sei- nem allseitigen mikrokosmischen Wesen, Natur, Instinct, Geist, wirksam ist — ein Wunderwerk, aus dem wir den Urzustand des Menschengeschlechts, seine vorgeschichtlichen Schicksale kennen lernen und das Schicksal der Völker, wie es in ihrem eigenen Geiste vorgezeichnet und bestimmt ist, zu deuten unter- nehmen dürfen — ein Wunderwerk endlich, das immer vollen- det ist und sich ewig neu gebiert; das auf der Individualität des Geistes beruhend, seine Schöpfung und sein getreuester Spiegel, doch über allen individuellen Geist hinausweist auf eine Einheit und Allgemeinheit des Geistes. Das hat uns Humboldt gelehrt; es ist sehr viel, und er hat auch nur wenig mehr gelehrt. Genau genommen ist doch die *) Wir reden oben nur von Deutschland, und es ist durchaus nicht un- sere Ausicht, wenn man das Gesagte auch auf Frankreich ausdehnen wollte.

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/268>, abgerufen am 22.11.2024.