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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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A. Allgemeines Wesen der Sprache und ihre Be-
ziehung zum geistigen Leben.
§. 84.

Wie dürfte man hoffen, das Princip der Grammatik zu fin-
den, ohne das Wesen der Sprache und ihre mannigfachen Be-
ziehungen zu den geistigen Thätigkeiten, ihre Function in der
geistigen Oekonomie, ihre Wirksamkeit für die Entwickelung
des Geistes genau analysirt und gründlich erforscht zu haben?
Diese Untersuchungen aber haben wir mit der Erforschung des
Ursprungs der Sprache zu beginnen. Selbst ohne Hoffnung,
diesen geheimnißvollen Punkt, wenigstens für jetzt, vollständig
zu enthüllen, können wir uns doch der Aufgabe, ihm einige Blicke,
einige Lichtstrahlen abzugewinnen, nicht entziehen. Denn es
bleibt uns kein anderes Mittel, um alle in dem Leben der Sprache
wirksam in einander greifenden Elemente aufzufinden, weder eins
zu übersehen, noch eins hinzuzufügen, und ihren beziehungswei-
sen Werth für dieses Leben der Sprache richtig zu bestimmen,
als die Sprache von ihrem Keime aus verfolgend durch die Ent-
wicklungsstufen ihres Werdens hindurch zu begleiten. Nur
wenn wir ihr Keimen, Hervorsprossen und weiteres Wachsen er-
kannt haben, können wir sicher sein, ihr ganzes Wesen erfaßt
zu haben; denn so allein wird uns sichtbar, wo ihr Springpunkt
liegt, welches Wesens er ist, und was alles allmählich zu ihm
hinzutritt, was ihm als Nahrung dient bei seiner Ausdehnung
von innen heraus, was er beim Bauen seines Organismus sich
assimilirend verwendet, und was so endlich das Wesen der
Sprache bei ihrer Reife in sich schließt.

Eine Definition der Sprache verlangt man, trotz der häufig
gemachten Bemerkung, daß gehaltreiche Dinge sich nicht ein-
fach definiren lassen, daß ihre Definition entweder nicht ihr vol-
les Wesen ausspricht, sondern abstract und leer bleibt, oder,
indem man die Worte äußerlich an Menge und innerlich an
Bedeutung anschwellen läßt, unverständlich wird. Könnte man
die Sachen zu Anfang der Wissenschaft definiren, man brauchte
der Wissenschaft nicht mehr; wer aber die Entwicklung der
Wissenschaft durchgegangen ist, bedarf der Definition nicht.
Nominaldefinitionen, welche die Deutlichkeit und Klarheit för-
dern, sind oben gegeben.

A. Allgemeines Wesen der Sprache und ihre Be-
ziehung zum geistigen Leben.
§. 84.

Wie dürfte man hoffen, das Princip der Grammatik zu fin-
den, ohne das Wesen der Sprache und ihre mannigfachen Be-
ziehungen zu den geistigen Thätigkeiten, ihre Function in der
geistigen Oekonomie, ihre Wirksamkeit für die Entwickelung
des Geistes genau analysirt und gründlich erforscht zu haben?
Diese Untersuchungen aber haben wir mit der Erforschung des
Ursprungs der Sprache zu beginnen. Selbst ohne Hoffnung,
diesen geheimnißvollen Punkt, wenigstens für jetzt, vollständig
zu enthüllen, können wir uns doch der Aufgabe, ihm einige Blicke,
einige Lichtstrahlen abzugewinnen, nicht entziehen. Denn es
bleibt uns kein anderes Mittel, um alle in dem Leben der Sprache
wirksam in einander greifenden Elemente aufzufinden, weder eins
zu übersehen, noch eins hinzuzufügen, und ihren beziehungswei-
sen Werth für dieses Leben der Sprache richtig zu bestimmen,
als die Sprache von ihrem Keime aus verfolgend durch die Ent-
wicklungsstufen ihres Werdens hindurch zu begleiten. Nur
wenn wir ihr Keimen, Hervorsprossen und weiteres Wachsen er-
kannt haben, können wir sicher sein, ihr ganzes Wesen erfaßt
zu haben; denn so allein wird uns sichtbar, wo ihr Springpunkt
liegt, welches Wesens er ist, und was alles allmählich zu ihm
hinzutritt, was ihm als Nahrung dient bei seiner Ausdehnung
von innen heraus, was er beim Bauen seines Organismus sich
assimilirend verwendet, und was so endlich das Wesen der
Sprache bei ihrer Reife in sich schließt.

Eine Definition der Sprache verlangt man, trotz der häufig
gemachten Bemerkung, daß gehaltreiche Dinge sich nicht ein-
fach definiren lassen, daß ihre Definition entweder nicht ihr vol-
les Wesen ausspricht, sondern abstract und leer bleibt, oder,
indem man die Worte äußerlich an Menge und innerlich an
Bedeutung anschwellen läßt, unverständlich wird. Könnte man
die Sachen zu Anfang der Wissenschaft definiren, man brauchte
der Wissenschaft nicht mehr; wer aber die Entwicklung der
Wissenschaft durchgegangen ist, bedarf der Definition nicht.
Nominaldefinitionen, welche die Deutlichkeit und Klarheit för-
dern, sind oben gegeben.

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[226/0264] A. Allgemeines Wesen der Sprache und ihre Be- ziehung zum geistigen Leben. §. 84. Wie dürfte man hoffen, das Princip der Grammatik zu fin- den, ohne das Wesen der Sprache und ihre mannigfachen Be- ziehungen zu den geistigen Thätigkeiten, ihre Function in der geistigen Oekonomie, ihre Wirksamkeit für die Entwickelung des Geistes genau analysirt und gründlich erforscht zu haben? Diese Untersuchungen aber haben wir mit der Erforschung des Ursprungs der Sprache zu beginnen. Selbst ohne Hoffnung, diesen geheimnißvollen Punkt, wenigstens für jetzt, vollständig zu enthüllen, können wir uns doch der Aufgabe, ihm einige Blicke, einige Lichtstrahlen abzugewinnen, nicht entziehen. Denn es bleibt uns kein anderes Mittel, um alle in dem Leben der Sprache wirksam in einander greifenden Elemente aufzufinden, weder eins zu übersehen, noch eins hinzuzufügen, und ihren beziehungswei- sen Werth für dieses Leben der Sprache richtig zu bestimmen, als die Sprache von ihrem Keime aus verfolgend durch die Ent- wicklungsstufen ihres Werdens hindurch zu begleiten. Nur wenn wir ihr Keimen, Hervorsprossen und weiteres Wachsen er- kannt haben, können wir sicher sein, ihr ganzes Wesen erfaßt zu haben; denn so allein wird uns sichtbar, wo ihr Springpunkt liegt, welches Wesens er ist, und was alles allmählich zu ihm hinzutritt, was ihm als Nahrung dient bei seiner Ausdehnung von innen heraus, was er beim Bauen seines Organismus sich assimilirend verwendet, und was so endlich das Wesen der Sprache bei ihrer Reife in sich schließt. Eine Definition der Sprache verlangt man, trotz der häufig gemachten Bemerkung, daß gehaltreiche Dinge sich nicht ein- fach definiren lassen, daß ihre Definition entweder nicht ihr vol- les Wesen ausspricht, sondern abstract und leer bleibt, oder, indem man die Worte äußerlich an Menge und innerlich an Bedeutung anschwellen läßt, unverständlich wird. Könnte man die Sachen zu Anfang der Wissenschaft definiren, man brauchte der Wissenschaft nicht mehr; wer aber die Entwicklung der Wissenschaft durchgegangen ist, bedarf der Definition nicht. Nominaldefinitionen, welche die Deutlichkeit und Klarheit för- dern, sind oben gegeben.

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/264>, abgerufen am 23.11.2024.