A. Allgemeines Wesen der Sprache und ihre Be- ziehung zum geistigen Leben.
§. 84.
Wie dürfte man hoffen, das Princip der Grammatik zu fin- den, ohne das Wesen der Sprache und ihre mannigfachen Be- ziehungen zu den geistigen Thätigkeiten, ihre Function in der geistigen Oekonomie, ihre Wirksamkeit für die Entwickelung des Geistes genau analysirt und gründlich erforscht zu haben? Diese Untersuchungen aber haben wir mit der Erforschung des Ursprungs der Sprache zu beginnen. Selbst ohne Hoffnung, diesen geheimnißvollen Punkt, wenigstens für jetzt, vollständig zu enthüllen, können wir uns doch der Aufgabe, ihm einige Blicke, einige Lichtstrahlen abzugewinnen, nicht entziehen. Denn es bleibt uns kein anderes Mittel, um alle in dem Leben der Sprache wirksam in einander greifenden Elemente aufzufinden, weder eins zu übersehen, noch eins hinzuzufügen, und ihren beziehungswei- sen Werth für dieses Leben der Sprache richtig zu bestimmen, als die Sprache von ihrem Keime aus verfolgend durch die Ent- wicklungsstufen ihres Werdens hindurch zu begleiten. Nur wenn wir ihr Keimen, Hervorsprossen und weiteres Wachsen er- kannt haben, können wir sicher sein, ihr ganzes Wesen erfaßt zu haben; denn so allein wird uns sichtbar, wo ihr Springpunkt liegt, welches Wesens er ist, und was alles allmählich zu ihm hinzutritt, was ihm als Nahrung dient bei seiner Ausdehnung von innen heraus, was er beim Bauen seines Organismus sich assimilirend verwendet, und was so endlich das Wesen der Sprache bei ihrer Reife in sich schließt.
Eine Definition der Sprache verlangt man, trotz der häufig gemachten Bemerkung, daß gehaltreiche Dinge sich nicht ein- fach definiren lassen, daß ihre Definition entweder nicht ihr vol- les Wesen ausspricht, sondern abstract und leer bleibt, oder, indem man die Worte äußerlich an Menge und innerlich an Bedeutung anschwellen läßt, unverständlich wird. Könnte man die Sachen zu Anfang der Wissenschaft definiren, man brauchte der Wissenschaft nicht mehr; wer aber die Entwicklung der Wissenschaft durchgegangen ist, bedarf der Definition nicht. Nominaldefinitionen, welche die Deutlichkeit und Klarheit för- dern, sind oben gegeben.
A. Allgemeines Wesen der Sprache und ihre Be- ziehung zum geistigen Leben.
§. 84.
Wie dürfte man hoffen, das Princip der Grammatik zu fin- den, ohne das Wesen der Sprache und ihre mannigfachen Be- ziehungen zu den geistigen Thätigkeiten, ihre Function in der geistigen Oekonomie, ihre Wirksamkeit für die Entwickelung des Geistes genau analysirt und gründlich erforscht zu haben? Diese Untersuchungen aber haben wir mit der Erforschung des Ursprungs der Sprache zu beginnen. Selbst ohne Hoffnung, diesen geheimnißvollen Punkt, wenigstens für jetzt, vollständig zu enthüllen, können wir uns doch der Aufgabe, ihm einige Blicke, einige Lichtstrahlen abzugewinnen, nicht entziehen. Denn es bleibt uns kein anderes Mittel, um alle in dem Leben der Sprache wirksam in einander greifenden Elemente aufzufinden, weder eins zu übersehen, noch eins hinzuzufügen, und ihren beziehungswei- sen Werth für dieses Leben der Sprache richtig zu bestimmen, als die Sprache von ihrem Keime aus verfolgend durch die Ent- wicklungsstufen ihres Werdens hindurch zu begleiten. Nur wenn wir ihr Keimen, Hervorsprossen und weiteres Wachsen er- kannt haben, können wir sicher sein, ihr ganzes Wesen erfaßt zu haben; denn so allein wird uns sichtbar, wo ihr Springpunkt liegt, welches Wesens er ist, und was alles allmählich zu ihm hinzutritt, was ihm als Nahrung dient bei seiner Ausdehnung von innen heraus, was er beim Bauen seines Organismus sich assimilirend verwendet, und was so endlich das Wesen der Sprache bei ihrer Reife in sich schließt.
Eine Definition der Sprache verlangt man, trotz der häufig gemachten Bemerkung, daß gehaltreiche Dinge sich nicht ein- fach definiren lassen, daß ihre Definition entweder nicht ihr vol- les Wesen ausspricht, sondern abstract und leer bleibt, oder, indem man die Worte äußerlich an Menge und innerlich an Bedeutung anschwellen läßt, unverständlich wird. Könnte man die Sachen zu Anfang der Wissenschaft definiren, man brauchte der Wissenschaft nicht mehr; wer aber die Entwicklung der Wissenschaft durchgegangen ist, bedarf der Definition nicht. Nominaldefinitionen, welche die Deutlichkeit und Klarheit för- dern, sind oben gegeben.
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0264"n="226"/><divn="2"><head><hirendition="#i">A.</hi> Allgemeines Wesen der Sprache und ihre Be-<lb/>
ziehung zum geistigen Leben.</head><lb/><divn="3"><head>§. 84.</head><lb/><p>Wie dürfte man hoffen, das Princip der Grammatik zu fin-<lb/>
den, ohne das Wesen der Sprache und ihre mannigfachen Be-<lb/>
ziehungen zu den geistigen Thätigkeiten, ihre Function in der<lb/>
geistigen Oekonomie, ihre Wirksamkeit für die Entwickelung<lb/>
des Geistes genau analysirt und gründlich erforscht zu haben?<lb/>
Diese Untersuchungen aber haben wir mit der Erforschung des<lb/><hirendition="#g">Ursprungs der Sprache</hi> zu beginnen. Selbst ohne Hoffnung,<lb/>
diesen geheimnißvollen Punkt, wenigstens für jetzt, vollständig<lb/>
zu enthüllen, können wir uns doch der Aufgabe, ihm einige Blicke,<lb/>
einige Lichtstrahlen abzugewinnen, nicht entziehen. Denn es<lb/>
bleibt uns kein anderes Mittel, um alle in dem Leben der Sprache<lb/>
wirksam in einander greifenden Elemente aufzufinden, weder eins<lb/>
zu übersehen, noch eins hinzuzufügen, und ihren beziehungswei-<lb/>
sen Werth für dieses Leben der Sprache richtig zu bestimmen,<lb/>
als die Sprache von ihrem Keime aus verfolgend durch die Ent-<lb/>
wicklungsstufen ihres Werdens hindurch zu begleiten. Nur<lb/>
wenn wir ihr Keimen, Hervorsprossen und weiteres Wachsen er-<lb/>
kannt haben, können wir sicher sein, ihr ganzes Wesen erfaßt<lb/>
zu haben; denn so allein wird uns sichtbar, wo ihr Springpunkt<lb/>
liegt, welches Wesens er ist, und was alles allmählich zu ihm<lb/>
hinzutritt, was ihm als Nahrung dient bei seiner Ausdehnung<lb/>
von innen heraus, was er beim Bauen seines Organismus sich<lb/>
assimilirend verwendet, und was so endlich das Wesen der<lb/>
Sprache bei ihrer Reife in sich schließt.</p><lb/><p>Eine Definition der Sprache verlangt man, trotz der häufig<lb/>
gemachten Bemerkung, daß gehaltreiche Dinge sich nicht ein-<lb/>
fach definiren lassen, daß ihre Definition entweder nicht ihr vol-<lb/>
les Wesen ausspricht, sondern abstract und leer bleibt, oder,<lb/>
indem man die Worte äußerlich an Menge und innerlich an<lb/>
Bedeutung anschwellen läßt, unverständlich wird. Könnte man<lb/>
die Sachen zu Anfang der Wissenschaft definiren, man brauchte<lb/>
der Wissenschaft nicht mehr; wer aber die Entwicklung der<lb/>
Wissenschaft durchgegangen ist, bedarf der Definition nicht.<lb/>
Nominaldefinitionen, welche die Deutlichkeit und Klarheit för-<lb/>
dern, sind oben gegeben.</p><lb/></div></div></div></body></text></TEI>
[226/0264]
A. Allgemeines Wesen der Sprache und ihre Be-
ziehung zum geistigen Leben.
§. 84.
Wie dürfte man hoffen, das Princip der Grammatik zu fin-
den, ohne das Wesen der Sprache und ihre mannigfachen Be-
ziehungen zu den geistigen Thätigkeiten, ihre Function in der
geistigen Oekonomie, ihre Wirksamkeit für die Entwickelung
des Geistes genau analysirt und gründlich erforscht zu haben?
Diese Untersuchungen aber haben wir mit der Erforschung des
Ursprungs der Sprache zu beginnen. Selbst ohne Hoffnung,
diesen geheimnißvollen Punkt, wenigstens für jetzt, vollständig
zu enthüllen, können wir uns doch der Aufgabe, ihm einige Blicke,
einige Lichtstrahlen abzugewinnen, nicht entziehen. Denn es
bleibt uns kein anderes Mittel, um alle in dem Leben der Sprache
wirksam in einander greifenden Elemente aufzufinden, weder eins
zu übersehen, noch eins hinzuzufügen, und ihren beziehungswei-
sen Werth für dieses Leben der Sprache richtig zu bestimmen,
als die Sprache von ihrem Keime aus verfolgend durch die Ent-
wicklungsstufen ihres Werdens hindurch zu begleiten. Nur
wenn wir ihr Keimen, Hervorsprossen und weiteres Wachsen er-
kannt haben, können wir sicher sein, ihr ganzes Wesen erfaßt
zu haben; denn so allein wird uns sichtbar, wo ihr Springpunkt
liegt, welches Wesens er ist, und was alles allmählich zu ihm
hinzutritt, was ihm als Nahrung dient bei seiner Ausdehnung
von innen heraus, was er beim Bauen seines Organismus sich
assimilirend verwendet, und was so endlich das Wesen der
Sprache bei ihrer Reife in sich schließt.
Eine Definition der Sprache verlangt man, trotz der häufig
gemachten Bemerkung, daß gehaltreiche Dinge sich nicht ein-
fach definiren lassen, daß ihre Definition entweder nicht ihr vol-
les Wesen ausspricht, sondern abstract und leer bleibt, oder,
indem man die Worte äußerlich an Menge und innerlich an
Bedeutung anschwellen läßt, unverständlich wird. Könnte man
die Sachen zu Anfang der Wissenschaft definiren, man brauchte
der Wissenschaft nicht mehr; wer aber die Entwicklung der
Wissenschaft durchgegangen ist, bedarf der Definition nicht.
Nominaldefinitionen, welche die Deutlichkeit und Klarheit för-
dern, sind oben gegeben.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/264>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.