wenn auch nach minder hohen Rücksichten, richtig oder unrich- tig, zweckmäßig oder unzweckmäßig sei. Es giebt also Wis- senschaften, welche Thatsachen und thatsächliche Verhältnisse, Existenzen und Gesetze zu erkennen, zu ergründen suchen; und es giebt auch andere, welche Maßstäbe der Beurtheilung, Gründe für Lob und Tadel aufzufinden streben.
Ist nun die Sprachwissenschaft eine erkennende, oder eine beurtheilende Wissenschaft? Wir antworten: eine erkennende. Etwas Gesprochenes ist nicht wahr und nicht falsch; wahr oder falsch ist nur das Gesagte, d. h. das Gedachte. Wenn ferner Sprechen sittlich gut oder schlecht ist, so ist es eine That, und es gehört dann, wie jede andere, der Beurtheilung des Sitten- richters an; denn der Gegenstand der Sprachwissenschaft ist das Sprechen als Handlung und nicht als That. Ferner die Beurtheilung, ob schön oder häßlich gesprochen worden sei, ge- hört der Rhetorik und Poetik an, nicht der Sprachwissenschaft. Darüber endlich, ob etwas richtig oder unrichtig gesprochen sei, entscheidet sie allerdings, aber nur indirect. Indem sie nämlich zeigt, wie man spricht, verbietet sie, anders zu sprechen, oder tadelt es.
Die Sprachwissenschaft ist also wesentlich oder ursprüng- lich erkennend, nicht beurtheilend, nicht -- wie man die beur- theilenden Wissenschaften auch genannt hat -- ästhetisch. Sie nähert sich aber den letztern oder nimmt auch wohl gänzlich das Wesen derselben an in einigen ihrer Zweige. Dies ist klar in der Metrik, welche reine Kunstlehre ist. Doch die Metrik könnte man von der Sprachwissenschaft gänzlich abson- dern und der Poetik zuweisen. Denn wenn es auch der Sprache nicht zufällig geschieht, daß sie nach metrischen Gesetzen be- handelt wird, so gehört doch diese metrische Behandlung nicht zum Wesen der Sprache als Aeußerung des bewußten In- nern. Weil die Sprache ein Tönen ist, so kann sie als Tonge- bilde künstlerisch geformt werden; diese Formung aber bleibt ihrem innern Wesen und Zwecke durchaus fremd. Die Bedeu- tung wird vom Rhythmus nicht berührt, und völlig bedeutungs- lose Sylben würden denselben metrischen Erfolg hervorbringen als Wörter.
Zur Sprachwissenschaft gehört aber allerdings nicht bloß die Betrachtung der Sprache überhaupt, auch nicht bloß die jeder einzelnen Sprache an sich nach ihren einzelnen Elementen;
wenn auch nach minder hohen Rücksichten, richtig oder unrich- tig, zweckmäßig oder unzweckmäßig sei. Es giebt also Wis- senschaften, welche Thatsachen und thatsächliche Verhältnisse, Existenzen und Gesetze zu erkennen, zu ergründen suchen; und es giebt auch andere, welche Maßstäbe der Beurtheilung, Gründe für Lob und Tadel aufzufinden streben.
Ist nun die Sprachwissenschaft eine erkennende, oder eine beurtheilende Wissenschaft? Wir antworten: eine erkennende. Etwas Gesprochenes ist nicht wahr und nicht falsch; wahr oder falsch ist nur das Gesagte, d. h. das Gedachte. Wenn ferner Sprechen sittlich gut oder schlecht ist, so ist es eine That, und es gehört dann, wie jede andere, der Beurtheilung des Sitten- richters an; denn der Gegenstand der Sprachwissenschaft ist das Sprechen als Handlung und nicht als That. Ferner die Beurtheilung, ob schön oder häßlich gesprochen worden sei, ge- hört der Rhetorik und Poetik an, nicht der Sprachwissenschaft. Darüber endlich, ob etwas richtig oder unrichtig gesprochen sei, entscheidet sie allerdings, aber nur indirect. Indem sie nämlich zeigt, wie man spricht, verbietet sie, anders zu sprechen, oder tadelt es.
Die Sprachwissenschaft ist also wesentlich oder ursprüng- lich erkennend, nicht beurtheilend, nicht — wie man die beur- theilenden Wissenschaften auch genannt hat — ästhetisch. Sie nähert sich aber den letztern oder nimmt auch wohl gänzlich das Wesen derselben an in einigen ihrer Zweige. Dies ist klar in der Metrik, welche reine Kunstlehre ist. Doch die Metrik könnte man von der Sprachwissenschaft gänzlich abson- dern und der Poetik zuweisen. Denn wenn es auch der Sprache nicht zufällig geschieht, daß sie nach metrischen Gesetzen be- handelt wird, so gehört doch diese metrische Behandlung nicht zum Wesen der Sprache als Aeußerung des bewußten In- nern. Weil die Sprache ein Tönen ist, so kann sie als Tonge- bilde künstlerisch geformt werden; diese Formung aber bleibt ihrem innern Wesen und Zwecke durchaus fremd. Die Bedeu- tung wird vom Rhythmus nicht berührt, und völlig bedeutungs- lose Sylben würden denselben metrischen Erfolg hervorbringen als Wörter.
Zur Sprachwissenschaft gehört aber allerdings nicht bloß die Betrachtung der Sprache überhaupt, auch nicht bloß die jeder einzelnen Sprache an sich nach ihren einzelnen Elementen;
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wenn auch nach minder hohen Rücksichten, richtig oder unrich-
tig, zweckmäßig oder unzweckmäßig sei. Es giebt also Wis-
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Existenzen und Gesetze zu erkennen, zu ergründen suchen; und
es giebt auch andere, welche Maßstäbe der Beurtheilung, Gründe
für Lob und Tadel aufzufinden streben.
Ist nun die Sprachwissenschaft eine erkennende, oder eine
beurtheilende Wissenschaft? Wir antworten: eine erkennende.
Etwas Gesprochenes ist nicht wahr und nicht falsch; wahr oder
falsch ist nur das Gesagte, d. h. das Gedachte. Wenn ferner
Sprechen sittlich gut oder schlecht ist, so ist es eine That, und
es gehört dann, wie jede andere, der Beurtheilung des Sitten-
richters an; denn der Gegenstand der Sprachwissenschaft ist
das Sprechen als Handlung und nicht als That. Ferner die
Beurtheilung, ob schön oder häßlich gesprochen worden sei, ge-
hört der Rhetorik und Poetik an, nicht der Sprachwissenschaft.
Darüber endlich, ob etwas richtig oder unrichtig gesprochen sei,
entscheidet sie allerdings, aber nur indirect. Indem sie nämlich
zeigt, wie man spricht, verbietet sie, anders zu sprechen, oder
tadelt es.
Die Sprachwissenschaft ist also wesentlich oder ursprüng-
lich erkennend, nicht beurtheilend, nicht — wie man die beur-
theilenden Wissenschaften auch genannt hat — ästhetisch. Sie
nähert sich aber den letztern oder nimmt auch wohl gänzlich
das Wesen derselben an in einigen ihrer Zweige. Dies ist
klar in der Metrik, welche reine Kunstlehre ist. Doch die
Metrik könnte man von der Sprachwissenschaft gänzlich abson-
dern und der Poetik zuweisen. Denn wenn es auch der Sprache
nicht zufällig geschieht, daß sie nach metrischen Gesetzen be-
handelt wird, so gehört doch diese metrische Behandlung nicht
zum Wesen der Sprache als Aeußerung des bewußten In-
nern. Weil die Sprache ein Tönen ist, so kann sie als Tonge-
bilde künstlerisch geformt werden; diese Formung aber bleibt
ihrem innern Wesen und Zwecke durchaus fremd. Die Bedeu-
tung wird vom Rhythmus nicht berührt, und völlig bedeutungs-
lose Sylben würden denselben metrischen Erfolg hervorbringen
als Wörter.
Zur Sprachwissenschaft gehört aber allerdings nicht bloß
die Betrachtung der Sprache überhaupt, auch nicht bloß die
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/177>, abgerufen am 25.11.2024.
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