Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

klären zu können, die selbst der Erklärung bedürfen: wobei gar
leicht scheinbar und wirklich die Erklärung dunkler werden kann,
als Humboldts Satz selbst dem Leser ist; zumal in den meisten
Lesern noch nicht einmal die Erkenntniß der Dunkelheit und
das Bedürfniß der Erklärung vorhanden ist.

Die wichtigste und belehrendste Stelle über die Bedeu-
tung des bildlichen Ausdruckes Organismus in Bezug auf die
Sprache bei Humboldt, eine Stelle, von der wir ausgehen, die
wir zum Mittelpunkte dieser Untersuchung machen müssen, ist
die folgende (S. CXXI.): "Da die Sprache im unmittelbaren
Zusammenhange mit der Geisteskraft, ein vollständig durchge-
führter Organismus ist, so lassen sich in ihr nicht bloß Theile
unterscheiden, sondern auch Gesetze des Verfahrens, oder viel-
mehr Richtungen und Bestrebungen desselben. Man kann diese,
wenn man den Organismus der Körper dagegen halten will, mit
den physiologischen Gesetzen vergleichen, deren wissenschaft-
liche Betrachtung sich auch wesentlich von der zergliedernden
Beschreibung der einzelnen Theile unterscheidet. Es wird da-
her hier nicht einzeln nach einander, wie in unsern Grammati-
ken, vom Lautsysteme, Nomen, Pronomen u. s. f., sondern von
Eigenthümlichkeiten der Sprache die Rede sein, welche durch
alle jene einzelnen Theile, sie selbst näher bestimmend, durch-
gehen." In diesem Satze liegt überhaupt der Mittelpunkt der
Humboldtschen Sprachbetrachtung; von ihm ausgehend ließen
sich ihre vorzüglichsten Seiten darstellen; woraus denn aber
auch unverkennbar klar werden müßte, daß Humboldt den
Aufschwung einer neuen Sprachwissenschaft bewirkt, Becker
aber davon zwar ein gewisses Schwirren vernommen habe, übri-
gens jedoch sich auf dem alten Boden der logischen Grammatik
bewege.

Betrachten wir den angeführten Satz näher, so bemerken
wir zunächst, daß die ersten Worte: "die Sprache in unmittel-
barem Zusammenhange mit der Geisteskraft" eine Erklärung
des Ausdrucks "unmittelbarer Aushauch" enthalten, abermals die
Sprache aus dem Gebiete des Natürlichen, Sinnlichen hinüber-
ziehend und dem Geiste aneignend. Doch ließ sich das mit
Beckers Satz: "die Sprache ist der in die Erscheinung tre-
tende Gedanke" wegen der Inhaltslosigkeit dieses Satzes wohl
noch vereinen. Wenn es aber bei Humboldt weiter heißt: "so
lassen sich in ihr nicht bloß Theile unterscheiden, sondern auch

klären zu können, die selbst der Erklärung bedürfen: wobei gar
leicht scheinbar und wirklich die Erklärung dunkler werden kann,
als Humboldts Satz selbst dem Leser ist; zumal in den meisten
Lesern noch nicht einmal die Erkenntniß der Dunkelheit und
das Bedürfniß der Erklärung vorhanden ist.

Die wichtigste und belehrendste Stelle über die Bedeu-
tung des bildlichen Ausdruckes Organismus in Bezug auf die
Sprache bei Humboldt, eine Stelle, von der wir ausgehen, die
wir zum Mittelpunkte dieser Untersuchung machen müssen, ist
die folgende (S. CXXI.): „Da die Sprache im unmittelbaren
Zusammenhange mit der Geisteskraft, ein vollständig durchge-
führter Organismus ist, so lassen sich in ihr nicht bloß Theile
unterscheiden, sondern auch Gesetze des Verfahrens, oder viel-
mehr Richtungen und Bestrebungen desselben. Man kann diese,
wenn man den Organismus der Körper dagegen halten will, mit
den physiologischen Gesetzen vergleichen, deren wissenschaft-
liche Betrachtung sich auch wesentlich von der zergliedernden
Beschreibung der einzelnen Theile unterscheidet. Es wird da-
her hier nicht einzeln nach einander, wie in unsern Grammati-
ken, vom Lautsysteme, Nomen, Pronomen u. s. f., sondern von
Eigenthümlichkeiten der Sprache die Rede sein, welche durch
alle jene einzelnen Theile, sie selbst näher bestimmend, durch-
gehen.“ In diesem Satze liegt überhaupt der Mittelpunkt der
Humboldtschen Sprachbetrachtung; von ihm ausgehend ließen
sich ihre vorzüglichsten Seiten darstellen; woraus denn aber
auch unverkennbar klar werden müßte, daß Humboldt den
Aufschwung einer neuen Sprachwissenschaft bewirkt, Becker
aber davon zwar ein gewisses Schwirren vernommen habe, übri-
gens jedoch sich auf dem alten Boden der logischen Grammatik
bewege.

Betrachten wir den angeführten Satz näher, so bemerken
wir zunächst, daß die ersten Worte: „die Sprache in unmittel-
barem Zusammenhange mit der Geisteskraft“ eine Erklärung
des Ausdrucks „unmittelbarer Aushauch“ enthalten, abermals die
Sprache aus dem Gebiete des Natürlichen, Sinnlichen hinüber-
ziehend und dem Geiste aneignend. Doch ließ sich das mit
Beckers Satz: „die Sprache ist der in die Erscheinung tre-
tende Gedanke“ wegen der Inhaltslosigkeit dieses Satzes wohl
noch vereinen. Wenn es aber bei Humboldt weiter heißt: „so
lassen sich in ihr nicht bloß Theile unterscheiden, sondern auch

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0168" n="130"/>
klären zu können, die selbst der Erklärung bedürfen: wobei gar<lb/>
leicht scheinbar und wirklich die Erklärung dunkler werden kann,<lb/>
als Humboldts Satz selbst dem Leser ist; zumal in den meisten<lb/>
Lesern noch nicht einmal die Erkenntniß der Dunkelheit und<lb/>
das Bedürfniß der Erklärung vorhanden ist.</p><lb/>
            <p>Die wichtigste und belehrendste Stelle über die Bedeu-<lb/>
tung des bildlichen Ausdruckes Organismus in Bezug auf die<lb/>
Sprache bei Humboldt, eine Stelle, von der wir ausgehen, die<lb/>
wir zum Mittelpunkte dieser Untersuchung machen müssen, ist<lb/>
die folgende (S. CXXI.): &#x201E;Da die Sprache im unmittelbaren<lb/>
Zusammenhange mit der Geisteskraft, ein vollständig durchge-<lb/>
führter Organismus ist, so lassen sich in ihr nicht bloß <hi rendition="#g">Theile</hi><lb/>
unterscheiden, sondern auch Gesetze des Verfahrens, oder viel-<lb/>
mehr Richtungen und Bestrebungen desselben. Man kann diese,<lb/>
wenn man den Organismus der Körper dagegen halten will, mit<lb/>
den <hi rendition="#g">physiologischen</hi> Gesetzen vergleichen, deren wissenschaft-<lb/>
liche Betrachtung sich auch wesentlich von der zergliedernden<lb/>
Beschreibung der einzelnen Theile unterscheidet. Es wird da-<lb/>
her hier nicht einzeln nach einander, wie in unsern Grammati-<lb/>
ken, vom Lautsysteme, Nomen, Pronomen u. s. f., sondern von<lb/>
Eigenthümlichkeiten der Sprache die Rede sein, welche durch<lb/>
alle jene einzelnen Theile, sie selbst näher bestimmend, durch-<lb/>
gehen.&#x201C; In diesem Satze liegt überhaupt der Mittelpunkt der<lb/>
Humboldtschen Sprachbetrachtung; von ihm ausgehend ließen<lb/>
sich ihre vorzüglichsten Seiten darstellen; woraus denn aber<lb/>
auch unverkennbar klar werden müßte, daß <hi rendition="#g">Humboldt</hi> den<lb/>
Aufschwung einer neuen Sprachwissenschaft bewirkt, Becker<lb/>
aber davon zwar ein gewisses Schwirren vernommen habe, übri-<lb/>
gens jedoch sich auf dem alten Boden der logischen Grammatik<lb/>
bewege.</p><lb/>
            <p>Betrachten wir den angeführten Satz näher, so bemerken<lb/>
wir zunächst, daß die ersten Worte: &#x201E;die Sprache in unmittel-<lb/>
barem Zusammenhange mit der Geisteskraft&#x201C; eine Erklärung<lb/>
des Ausdrucks &#x201E;unmittelbarer Aushauch&#x201C; enthalten, abermals die<lb/>
Sprache aus dem Gebiete des Natürlichen, Sinnlichen hinüber-<lb/>
ziehend und dem Geiste aneignend. Doch ließ sich das mit<lb/>
Beckers Satz: &#x201E;die Sprache ist der in die Erscheinung tre-<lb/>
tende Gedanke&#x201C; wegen der Inhaltslosigkeit dieses Satzes wohl<lb/>
noch vereinen. Wenn es aber bei Humboldt weiter heißt: &#x201E;so<lb/>
lassen sich in ihr nicht bloß <hi rendition="#g">Theile</hi> unterscheiden, sondern auch<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[130/0168] klären zu können, die selbst der Erklärung bedürfen: wobei gar leicht scheinbar und wirklich die Erklärung dunkler werden kann, als Humboldts Satz selbst dem Leser ist; zumal in den meisten Lesern noch nicht einmal die Erkenntniß der Dunkelheit und das Bedürfniß der Erklärung vorhanden ist. Die wichtigste und belehrendste Stelle über die Bedeu- tung des bildlichen Ausdruckes Organismus in Bezug auf die Sprache bei Humboldt, eine Stelle, von der wir ausgehen, die wir zum Mittelpunkte dieser Untersuchung machen müssen, ist die folgende (S. CXXI.): „Da die Sprache im unmittelbaren Zusammenhange mit der Geisteskraft, ein vollständig durchge- führter Organismus ist, so lassen sich in ihr nicht bloß Theile unterscheiden, sondern auch Gesetze des Verfahrens, oder viel- mehr Richtungen und Bestrebungen desselben. Man kann diese, wenn man den Organismus der Körper dagegen halten will, mit den physiologischen Gesetzen vergleichen, deren wissenschaft- liche Betrachtung sich auch wesentlich von der zergliedernden Beschreibung der einzelnen Theile unterscheidet. Es wird da- her hier nicht einzeln nach einander, wie in unsern Grammati- ken, vom Lautsysteme, Nomen, Pronomen u. s. f., sondern von Eigenthümlichkeiten der Sprache die Rede sein, welche durch alle jene einzelnen Theile, sie selbst näher bestimmend, durch- gehen.“ In diesem Satze liegt überhaupt der Mittelpunkt der Humboldtschen Sprachbetrachtung; von ihm ausgehend ließen sich ihre vorzüglichsten Seiten darstellen; woraus denn aber auch unverkennbar klar werden müßte, daß Humboldt den Aufschwung einer neuen Sprachwissenschaft bewirkt, Becker aber davon zwar ein gewisses Schwirren vernommen habe, übri- gens jedoch sich auf dem alten Boden der logischen Grammatik bewege. Betrachten wir den angeführten Satz näher, so bemerken wir zunächst, daß die ersten Worte: „die Sprache in unmittel- barem Zusammenhange mit der Geisteskraft“ eine Erklärung des Ausdrucks „unmittelbarer Aushauch“ enthalten, abermals die Sprache aus dem Gebiete des Natürlichen, Sinnlichen hinüber- ziehend und dem Geiste aneignend. Doch ließ sich das mit Beckers Satz: „die Sprache ist der in die Erscheinung tre- tende Gedanke“ wegen der Inhaltslosigkeit dieses Satzes wohl noch vereinen. Wenn es aber bei Humboldt weiter heißt: „so lassen sich in ihr nicht bloß Theile unterscheiden, sondern auch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/168
Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/168>, abgerufen am 04.05.2024.