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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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fallen lassen zu können, wenn wir ein Beckersches "wie ... so"
in seine wahre Form, ein "wieso?" verwandeln und zu beant-
worten suchen. Becker hat oft das Auge, überhaupt organische
Verrichtungen mit dem Sprechen verglichen. Die Grammatik
soll die Physiologie der Function des Sprechens sein, wie es
auch eine Physiologie des Sehens, Hörens, Athmens u. s. w.
giebt. Es giebt aber außerdem noch eine physikalische Disciplin
der Optik, Akustik und eine physikalische und chemische Erkennt-
niß der Luft. Es giebt auch ferner eine Wissenschaft von den
Formen der Größen, welche gesehen werden (Mathematik), von
dem Rhythmus, der Harmonie und Melodie, von gesunden und
schädlichen Gasen. Was würde man nun zu dem Physiologen
sagen, welcher eine physiologische Darlegung des Sehens oder
Hörens oder Athmens verspräche und, nachdem er uns die ana-
tomischen Theile des Auges, des Ohres, der Lungen gezeigt
hat, die physikalischen Eigenschaften des Lichts, des Tones, der
Luftarten erörterte, und sogar vom Verhältnisse zwischen Kreis
und Viereck, von der Octave und von den tödtlichen Luftarten
spräche? Gerade dies aber thut die logische Grammatik. Sie
giebt zuerst die Anatomie der Sprachformen, und wenn man nach
der physiologischen Bedeutung derselben fragt, wenn man den
Proceß des Sprechens, wie den des Sehens, dargelegt haben will,
dann ist von den Formen des Gedankens die Rede. Nun sollte
der Gedanke der Reiz zum Sprechen sein, wie das Licht der
Reiz für das Auge und die Luft für die Lunge; also ist es nichts
anderes, in der Grammatik von den Formen des Gedankens re-
den, als in der Physiologie physikalische Optik geben. Ja, man
spricht endlich vom Unterschiede zwischen Person und Sache,
wie denn überhaupt vorausgesetzt wird, daß die metaphysischen
Gedankenbestimmungen in Wirklichkeit existiren, und so kommt
man in der Grammatik auf Dinge, die sich zum physiologischen
Proceß des Sprechens verhalten, wie die mathematische Be-
trachtung des Vierecks und Kreises zur physiologischen des
Sehens.

Hieraus ersieht man nun wohl ein Doppeltes: erstlich, welche
Bedeutung der begangene Fehler hat. Wer uns in der Phy-
siologie des Gehörs zeigt, durch welche Anzahl von Luftschwin-
gungen jener tiefe und durch welche andere jener hohe Ton erzeugt
wird: der spricht nicht vom Hören, sondern vom Gehörten;
ebenso spricht der Grammatiker, indem er von Thätigkeit und

fallen lassen zu können, wenn wir ein Beckersches „wie … so“
in seine wahre Form, ein „wieso?“ verwandeln und zu beant-
worten suchen. Becker hat oft das Auge, überhaupt organische
Verrichtungen mit dem Sprechen verglichen. Die Grammatik
soll die Physiologie der Function des Sprechens sein, wie es
auch eine Physiologie des Sehens, Hörens, Athmens u. s. w.
giebt. Es giebt aber außerdem noch eine physikalische Disciplin
der Optik, Akustik und eine physikalische und chemische Erkennt-
niß der Luft. Es giebt auch ferner eine Wissenschaft von den
Formen der Größen, welche gesehen werden (Mathematik), von
dem Rhythmus, der Harmonie und Melodie, von gesunden und
schädlichen Gasen. Was würde man nun zu dem Physiologen
sagen, welcher eine physiologische Darlegung des Sehens oder
Hörens oder Athmens verspräche und, nachdem er uns die ana-
tomischen Theile des Auges, des Ohres, der Lungen gezeigt
hat, die physikalischen Eigenschaften des Lichts, des Tones, der
Luftarten erörterte, und sogar vom Verhältnisse zwischen Kreis
und Viereck, von der Octave und von den tödtlichen Luftarten
spräche? Gerade dies aber thut die logische Grammatik. Sie
giebt zuerst die Anatomie der Sprachformen, und wenn man nach
der physiologischen Bedeutung derselben fragt, wenn man den
Proceß des Sprechens, wie den des Sehens, dargelegt haben will,
dann ist von den Formen des Gedankens die Rede. Nun sollte
der Gedanke der Reiz zum Sprechen sein, wie das Licht der
Reiz für das Auge und die Luft für die Lunge; also ist es nichts
anderes, in der Grammatik von den Formen des Gedankens re-
den, als in der Physiologie physikalische Optik geben. Ja, man
spricht endlich vom Unterschiede zwischen Person und Sache,
wie denn überhaupt vorausgesetzt wird, daß die metaphysischen
Gedankenbestimmungen in Wirklichkeit existiren, und so kommt
man in der Grammatik auf Dinge, die sich zum physiologischen
Proceß des Sprechens verhalten, wie die mathematische Be-
trachtung des Vierecks und Kreises zur physiologischen des
Sehens.

Hieraus ersieht man nun wohl ein Doppeltes: erstlich, welche
Bedeutung der begangene Fehler hat. Wer uns in der Phy-
siologie des Gehörs zeigt, durch welche Anzahl von Luftschwin-
gungen jener tiefe und durch welche andere jener hohe Ton erzeugt
wird: der spricht nicht vom Hören, sondern vom Gehörten;
ebenso spricht der Grammatiker, indem er von Thätigkeit und

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[109/0147] fallen lassen zu können, wenn wir ein Beckersches „wie … so“ in seine wahre Form, ein „wieso?“ verwandeln und zu beant- worten suchen. Becker hat oft das Auge, überhaupt organische Verrichtungen mit dem Sprechen verglichen. Die Grammatik soll die Physiologie der Function des Sprechens sein, wie es auch eine Physiologie des Sehens, Hörens, Athmens u. s. w. giebt. Es giebt aber außerdem noch eine physikalische Disciplin der Optik, Akustik und eine physikalische und chemische Erkennt- niß der Luft. Es giebt auch ferner eine Wissenschaft von den Formen der Größen, welche gesehen werden (Mathematik), von dem Rhythmus, der Harmonie und Melodie, von gesunden und schädlichen Gasen. Was würde man nun zu dem Physiologen sagen, welcher eine physiologische Darlegung des Sehens oder Hörens oder Athmens verspräche und, nachdem er uns die ana- tomischen Theile des Auges, des Ohres, der Lungen gezeigt hat, die physikalischen Eigenschaften des Lichts, des Tones, der Luftarten erörterte, und sogar vom Verhältnisse zwischen Kreis und Viereck, von der Octave und von den tödtlichen Luftarten spräche? Gerade dies aber thut die logische Grammatik. Sie giebt zuerst die Anatomie der Sprachformen, und wenn man nach der physiologischen Bedeutung derselben fragt, wenn man den Proceß des Sprechens, wie den des Sehens, dargelegt haben will, dann ist von den Formen des Gedankens die Rede. Nun sollte der Gedanke der Reiz zum Sprechen sein, wie das Licht der Reiz für das Auge und die Luft für die Lunge; also ist es nichts anderes, in der Grammatik von den Formen des Gedankens re- den, als in der Physiologie physikalische Optik geben. Ja, man spricht endlich vom Unterschiede zwischen Person und Sache, wie denn überhaupt vorausgesetzt wird, daß die metaphysischen Gedankenbestimmungen in Wirklichkeit existiren, und so kommt man in der Grammatik auf Dinge, die sich zum physiologischen Proceß des Sprechens verhalten, wie die mathematische Be- trachtung des Vierecks und Kreises zur physiologischen des Sehens. Hieraus ersieht man nun wohl ein Doppeltes: erstlich, welche Bedeutung der begangene Fehler hat. Wer uns in der Phy- siologie des Gehörs zeigt, durch welche Anzahl von Luftschwin- gungen jener tiefe und durch welche andere jener hohe Ton erzeugt wird: der spricht nicht vom Hören, sondern vom Gehörten; ebenso spricht der Grammatiker, indem er von Thätigkeit und

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/147>, abgerufen am 27.04.2024.