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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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dem, der von ihr betroffen wird, auch durch die zartesten Rede-
wendungen und die süßesten Worte nicht gemildert werden.
Es thut mir leid, es schmerzt mich -- wer mich kennt, weiß
es -- wenn ich Personen verletze; aber ich kann es nicht än-
dern; denn die Systeme leben in den Personen und bilden ihre
Substanz. Wenn der Schmerz das Vorrecht fühlender Wesen
genannt worden ist: so ist der Schmerz über vernichtete Ge-
dankensysteme das Vorrecht denkender Personen. Man glaube
aber nicht, der Kritiker auf den Trümmern, die er angerichtet,
sei voll von Siegeslust; er hat höchstens das Gefühl von Befrie-
digung, das aus dem Bewußtsein entsteht, seine Pflicht gethan
zu haben, so gut er konnte und wie er konnte.

Auch diese meine Kritik Beckers ist eine Ehrenbezeugung,
die ich ihm darbringe. Weil er einen so umfassenden Raum in
der Geschichte der Sprachwissenschaft einnimmt, habe ich ihm
so viel Mühe gewidmet. Dem scheint zu widersprechen, daß, nach
meiner Kritik Beckers, nicht nur des Haltbaren in seinem Systeme
wenig oder überhaupt kaum etwas zu finden ist, sondern auch
daß Becker selbst -- um es nur kurz zu sagen -- fast unverstän-
dig erscheint. Daß dies der Sinn meiner Darstellung ist, wie
könnte ich das läugnen? Ich habe mir selbst die Frage vorge-
legt: wie ist es möglich, daß ein Werk, wie Beckers Organism,
welches nach deiner Darstellung das leerste Nichts sein soll, das
je veröffentlicht wurde, dessenungeachtet seit einem Vierteljahr-
hundert als Meisterwerk gilt und der Mittelpunkt einer Schule
geworden ist, die mehr Anhänger zählt als jemals eine? und zwar
dies allein und lediglich durch den innern Einfluß des Buches
auf die Geister; denn ich wüßte nicht, welcher äußerliche Ein-
fluß hier obgewaltet hätte -- ich fragte mich: wie ist es mög-
lich, daß ein Mann einerseits seit Jahrzehenden als Gründer der
neuen Grammatik anerkannt wird, und andererseits dir in einem
Lichte erscheint, daß du Mühe hast, ihn von denen zu unter-
scheiden, die man geisteskrank nennt?

Und hier ist die Antwort, die ich mir gab. Ist denn die-
ser Fall Beckers so einzig? Fragt doch Trendelenburg und viele
andere, ob sie Hegel und seine Schule von den Bewohnern
Bedlams zu unterscheiden wissen. Noch andere Fälle legte ich

dem, der von ihr betroffen wird, auch durch die zartesten Rede-
wendungen und die süßesten Worte nicht gemildert werden.
Es thut mir leid, es schmerzt mich — wer mich kennt, weiß
es — wenn ich Personen verletze; aber ich kann es nicht än-
dern; denn die Systeme leben in den Personen und bilden ihre
Substanz. Wenn der Schmerz das Vorrecht fühlender Wesen
genannt worden ist: so ist der Schmerz über vernichtete Ge-
dankensysteme das Vorrecht denkender Personen. Man glaube
aber nicht, der Kritiker auf den Trümmern, die er angerichtet,
sei voll von Siegeslust; er hat höchstens das Gefühl von Befrie-
digung, das aus dem Bewußtsein entsteht, seine Pflicht gethan
zu haben, so gut er konnte und wie er konnte.

Auch diese meine Kritik Beckers ist eine Ehrenbezeugung,
die ich ihm darbringe. Weil er einen so umfassenden Raum in
der Geschichte der Sprachwissenschaft einnimmt, habe ich ihm
so viel Mühe gewidmet. Dem scheint zu widersprechen, daß, nach
meiner Kritik Beckers, nicht nur des Haltbaren in seinem Systeme
wenig oder überhaupt kaum etwas zu finden ist, sondern auch
daß Becker selbst — um es nur kurz zu sagen — fast unverstän-
dig erscheint. Daß dies der Sinn meiner Darstellung ist, wie
könnte ich das läugnen? Ich habe mir selbst die Frage vorge-
legt: wie ist es möglich, daß ein Werk, wie Beckers Organism,
welches nach deiner Darstellung das leerste Nichts sein soll, das
je veröffentlicht wurde, dessenungeachtet seit einem Vierteljahr-
hundert als Meisterwerk gilt und der Mittelpunkt einer Schule
geworden ist, die mehr Anhänger zählt als jemals eine? und zwar
dies allein und lediglich durch den innern Einfluß des Buches
auf die Geister; denn ich wüßte nicht, welcher äußerliche Ein-
fluß hier obgewaltet hätte — ich fragte mich: wie ist es mög-
lich, daß ein Mann einerseits seit Jahrzehenden als Gründer der
neuen Grammatik anerkannt wird, und andererseits dir in einem
Lichte erscheint, daß du Mühe hast, ihn von denen zu unter-
scheiden, die man geisteskrank nennt?

Und hier ist die Antwort, die ich mir gab. Ist denn die-
ser Fall Beckers so einzig? Fragt doch Trendelenburg und viele
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[VI/0012] dem, der von ihr betroffen wird, auch durch die zartesten Rede- wendungen und die süßesten Worte nicht gemildert werden. Es thut mir leid, es schmerzt mich — wer mich kennt, weiß es — wenn ich Personen verletze; aber ich kann es nicht än- dern; denn die Systeme leben in den Personen und bilden ihre Substanz. Wenn der Schmerz das Vorrecht fühlender Wesen genannt worden ist: so ist der Schmerz über vernichtete Ge- dankensysteme das Vorrecht denkender Personen. Man glaube aber nicht, der Kritiker auf den Trümmern, die er angerichtet, sei voll von Siegeslust; er hat höchstens das Gefühl von Befrie- digung, das aus dem Bewußtsein entsteht, seine Pflicht gethan zu haben, so gut er konnte und wie er konnte. Auch diese meine Kritik Beckers ist eine Ehrenbezeugung, die ich ihm darbringe. Weil er einen so umfassenden Raum in der Geschichte der Sprachwissenschaft einnimmt, habe ich ihm so viel Mühe gewidmet. Dem scheint zu widersprechen, daß, nach meiner Kritik Beckers, nicht nur des Haltbaren in seinem Systeme wenig oder überhaupt kaum etwas zu finden ist, sondern auch daß Becker selbst — um es nur kurz zu sagen — fast unverstän- dig erscheint. Daß dies der Sinn meiner Darstellung ist, wie könnte ich das läugnen? Ich habe mir selbst die Frage vorge- legt: wie ist es möglich, daß ein Werk, wie Beckers Organism, welches nach deiner Darstellung das leerste Nichts sein soll, das je veröffentlicht wurde, dessenungeachtet seit einem Vierteljahr- hundert als Meisterwerk gilt und der Mittelpunkt einer Schule geworden ist, die mehr Anhänger zählt als jemals eine? und zwar dies allein und lediglich durch den innern Einfluß des Buches auf die Geister; denn ich wüßte nicht, welcher äußerliche Ein- fluß hier obgewaltet hätte — ich fragte mich: wie ist es mög- lich, daß ein Mann einerseits seit Jahrzehenden als Gründer der neuen Grammatik anerkannt wird, und andererseits dir in einem Lichte erscheint, daß du Mühe hast, ihn von denen zu unter- scheiden, die man geisteskrank nennt? Und hier ist die Antwort, die ich mir gab. Ist denn die- ser Fall Beckers so einzig? Fragt doch Trendelenburg und viele andere, ob sie Hegel und seine Schule von den Bewohnern Bedlams zu unterscheiden wissen. Noch andere Fälle legte ich

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. VI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/12>, abgerufen am 28.03.2024.