September, wenn der Regen kommt, machen sie Fäden und dann gehen sie zum Himmel und der Faden fliegt hinterher. Kamuschini ist wie diese Spinnen."
Keri und Kame dagegen sind nunmehr menschlich gestaltet. Sie rächen den Tod der Mutter jetzt auch an dem Pflegevater. Aber sie scheuen doch davor zurück und wollen die That durch andere ausführen lassen. Sie bitten den Jaguar, ihnen Pfeile zu machen, stellen sie in einem Kreis aufrecht in den Boden und blasen sie an. "Es kamen" die Kayabi, die Nachbarn der Para- natinga-Bakairi, die mit ihnen früher in Frieden gelebt haben sollen, aber um der Steinbeile und Frauen willen ihre Todfeinde geworden sind. Die Pfeile, die der Jaguar für Keri und Kame machte, und zu denen diese die Kayabi hinzuzauberten, waren Stiele von Buritiblättern, denn damals waren Keri und Kame noch Kinder und gebrauchten Kinderpfeile. Keri hiess die Kayabi auf Oka schiessen, aber sie fehlten. Da schoss Keri selbst, der Pfeil drang in das Knie des Jaguar ein, "der Jaguar stürzte sich ins Wasser und entkam." Die Legende sagt einfach: "darauf töteten sie ihren Vater", Antonio aber machte diese abweichende Angabe und fügte hinzu: "wenn der Jaguar getötet worden wäre, so gäbe es heute keinen mehr."
Sonne. Keri und Kame empfingen nun von ihrer Tante Ewaki den Auftrag, die Sonne zu holen, die der rote Urubu oder Königsgeier besass. Alles bisher Erzählte hat sich während der Nacht abgespielt, wenn nicht etwa der Königsgeier mit der Sonne erschien. Im Zenith giebt es ein schwarzes Loch, das den Urubus gehörte. In dieses Loch stürzte der Tapir, den man in der Milchstrasse sieht, weil es finstere Nacht war. Keri sah den Tapir und ging in seinen Vorderfuss hinein.*) Kame aber ging in einen kleinen gelben Singvogel, ähnlich dem Bemtevi, und setzte sich auf einen Ast; er sollte Keri, der Nichts sehen konnte, von Allem, was vorging, unterrichten. Der rote Geier öffnete die Sonne, es wurde hell und so erblickten die Urubus den Tapir. Die ganze "Urubusiada", schwarze und weisse Geier -- nur der rote blieb noch fern -- stürzten sich auf den Tapir. Sie holten Schlingpflanzenstricke herbei, zogen ihn mit aller Mühe aus dem Loch und wollten ihn zerteilen. Da machte Kame auf seinem Ast "neng, neng, neng", Keri blies und die Geier konnten mit ihren Schnäbeln den Tapir nicht öffnen. Sie riefen den Königsgeier zu Hülfe, er kam und Kame hörte auf "neng, neng, neng" zu machen. Der rote Geier öffnete den Tapir mit seinem Schnabel und in diesem Augenblick ergriff ihn Keri, ihn so fest packend, dass er fast starb. Nur wenn er die Sonne hergebe, solle er am Leben bleiben. Da schickte der Königsgeier seinen Bruder, den weissen Geier, die Sonne zu holen. Dieser brachte die Morgenröte. "Ist das recht?" fragte Kame Keri, der festhalten musste. "Nein, nicht die Morgenröte", erwiderte Keri. Da brachte der weisse Urubu den Mond. "Ist das recht?" fragte Kame. "Ach was!" erwiderte Keri. Nun
*) Der alte Caetano erzählte, Keri habe den Tapir aus aka, einem wie Mandioka weichen Holz gemacht, und habe dann kleine Fliegen gemacht, die dem Tapir einen übeln Geruch geben und den Urubu anziehen sollten.
September, wenn der Regen kommt, machen sie Fäden und dann gehen sie zum Himmel und der Faden fliegt hinterher. Kamuschini ist wie diese Spinnen.«
Keri und Kame dagegen sind nunmehr menschlich gestaltet. Sie rächen den Tod der Mutter jetzt auch an dem Pflegevater. Aber sie scheuen doch davor zurück und wollen die That durch andere ausführen lassen. Sie bitten den Jaguar, ihnen Pfeile zu machen, stellen sie in einem Kreis aufrecht in den Boden und blasen sie an. »Es kamen« die Kayabí, die Nachbarn der Para- natinga-Bakaïrí, die mit ihnen früher in Frieden gelebt haben sollen, aber um der Steinbeile und Frauen willen ihre Todfeinde geworden sind. Die Pfeile, die der Jaguar für Keri und Kame machte, und zu denen diese die Kayabí hinzuzauberten, waren Stiele von Buritíblättern, denn damals waren Keri und Kame noch Kinder und gebrauchten Kinderpfeile. Keri hiess die Kayabí auf Oka schiessen, aber sie fehlten. Da schoss Keri selbst, der Pfeil drang in das Knie des Jaguar ein, »der Jaguar stürzte sich ins Wasser und entkam.« Die Legende sagt einfach: »darauf töteten sie ihren Vater«, Antonio aber machte diese abweichende Angabe und fügte hinzu: »wenn der Jaguar getötet worden wäre, so gäbe es heute keinen mehr.«
Sonne. Keri und Kame empfingen nun von ihrer Tante Ewaki den Auftrag, die Sonne zu holen, die der rote Urubú oder Königsgeier besass. Alles bisher Erzählte hat sich während der Nacht abgespielt, wenn nicht etwa der Königsgeier mit der Sonne erschien. Im Zenith giebt es ein schwarzes Loch, das den Urubús gehörte. In dieses Loch stürzte der Tapir, den man in der Milchstrasse sieht, weil es finstere Nacht war. Keri sah den Tapir und ging in seinen Vorderfuss hinein.*) Kame aber ging in einen kleinen gelben Singvogel, ähnlich dem Bemteví, und setzte sich auf einen Ast; er sollte Keri, der Nichts sehen konnte, von Allem, was vorging, unterrichten. Der rote Geier öffnete die Sonne, es wurde hell und so erblickten die Urubús den Tapir. Die ganze »Urubusiada«, schwarze und weisse Geier — nur der rote blieb noch fern — stürzten sich auf den Tapir. Sie holten Schlingpflanzenstricke herbei, zogen ihn mit aller Mühe aus dem Loch und wollten ihn zerteilen. Da machte Kame auf seinem Ast »neng, neng, neng«, Keri blies und die Geier konnten mit ihren Schnäbeln den Tapir nicht öffnen. Sie riefen den Königsgeier zu Hülfe, er kam und Kame hörte auf »neng, neng, neng« zu machen. Der rote Geier öffnete den Tapir mit seinem Schnabel und in diesem Augenblick ergriff ihn Keri, ihn so fest packend, dass er fast starb. Nur wenn er die Sonne hergebe, solle er am Leben bleiben. Da schickte der Königsgeier seinen Bruder, den weissen Geier, die Sonne zu holen. Dieser brachte die Morgenröte. »Ist das recht?« fragte Kame Keri, der festhalten musste. »Nein, nicht die Morgenröte«, erwiderte Keri. Da brachte der weisse Urubú den Mond. »Ist das recht?« fragte Kame. »Ach was!« erwiderte Keri. Nun
*) Der alte Caetano erzählte, Keri habe den Tapir aus áka, einem wie Mandioka weichen Holz gemacht, und habe dann kleine Fliegen gemacht, die dem Tapir einen übeln Geruch geben und den Urubú anziehen sollten.
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September, wenn der Regen kommt, machen sie Fäden und dann gehen sie zum
Himmel und der Faden fliegt hinterher. Kamuschini ist wie diese Spinnen.«
Keri und Kame dagegen sind nunmehr menschlich gestaltet. Sie rächen
den Tod der Mutter jetzt auch an dem Pflegevater. Aber sie scheuen doch
davor zurück und wollen die That durch andere ausführen lassen. Sie bitten
den Jaguar, ihnen Pfeile zu machen, stellen sie in einem Kreis aufrecht in den
Boden und blasen sie an. »Es kamen« die Kayabí, die Nachbarn der Para-
natinga-Bakaïrí, die mit ihnen früher in Frieden gelebt haben sollen, aber um der
Steinbeile und Frauen willen ihre Todfeinde geworden sind. Die Pfeile, die der
Jaguar für Keri und Kame machte, und zu denen diese die Kayabí hinzuzauberten,
waren Stiele von Buritíblättern, denn damals waren Keri und Kame noch Kinder
und gebrauchten Kinderpfeile. Keri hiess die Kayabí auf Oka schiessen, aber
sie fehlten. Da schoss Keri selbst, der Pfeil drang in das Knie des Jaguar ein,
»der Jaguar stürzte sich ins Wasser und entkam.« Die Legende sagt einfach:
»darauf töteten sie ihren Vater«, Antonio aber machte diese abweichende Angabe
und fügte hinzu: »wenn der Jaguar getötet worden wäre, so gäbe es heute
keinen mehr.«
Sonne. Keri und Kame empfingen nun von ihrer Tante Ewaki den Auftrag,
die Sonne zu holen, die der rote Urubú oder Königsgeier besass. Alles bisher
Erzählte hat sich während der Nacht abgespielt, wenn nicht etwa der Königsgeier
mit der Sonne erschien. Im Zenith giebt es ein schwarzes Loch, das den Urubús
gehörte. In dieses Loch stürzte der Tapir, den man in der Milchstrasse sieht,
weil es finstere Nacht war. Keri sah den Tapir und ging in seinen Vorderfuss
hinein. *) Kame aber ging in einen kleinen gelben Singvogel, ähnlich dem Bemteví,
und setzte sich auf einen Ast; er sollte Keri, der Nichts sehen konnte, von Allem,
was vorging, unterrichten. Der rote Geier öffnete die Sonne, es wurde hell und
so erblickten die Urubús den Tapir. Die ganze »Urubusiada«, schwarze und
weisse Geier — nur der rote blieb noch fern — stürzten sich auf den Tapir.
Sie holten Schlingpflanzenstricke herbei, zogen ihn mit aller Mühe aus dem Loch
und wollten ihn zerteilen. Da machte Kame auf seinem Ast »neng, neng, neng«,
Keri blies und die Geier konnten mit ihren Schnäbeln den Tapir nicht öffnen.
Sie riefen den Königsgeier zu Hülfe, er kam und Kame hörte auf »neng, neng,
neng« zu machen. Der rote Geier öffnete den Tapir mit seinem Schnabel und
in diesem Augenblick ergriff ihn Keri, ihn so fest packend, dass er fast starb.
Nur wenn er die Sonne hergebe, solle er am Leben bleiben. Da schickte der
Königsgeier seinen Bruder, den weissen Geier, die Sonne zu holen. Dieser
brachte die Morgenröte. »Ist das recht?« fragte Kame Keri, der festhalten
musste. »Nein, nicht die Morgenröte«, erwiderte Keri. Da brachte der weisse
Urubú den Mond. »Ist das recht?« fragte Kame. »Ach was!« erwiderte Keri. Nun
*) Der alte Caetano erzählte, Keri habe den Tapir aus áka, einem wie Mandioka weichen
Holz gemacht, und habe dann kleine Fliegen gemacht, die dem Tapir einen übeln Geruch geben
und den Urubú anziehen sollten.
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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 375. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/439>, abgerufen am 22.11.2024.
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