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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894.

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hinab; Cuyaba liegt nach Vogels Bestimmung (Fussboden der Kathedrale) 219 m
über dem Meeresspiegel, St. Anna de Chapada 855 m, die höchste Stelle unserer
Route auf dem Plateau in der Nähe von Lagoa Comprida hatte 939 m. Der
Bewohner der Niederung, dem der Terrassenrand wie ein Gebirgszug erscheint,
spricht von einer "Serra" de Sao Jeronymo oder auch mehr nördlich von einer
"Serra" Azul, obgleich er oben angelangt sich nicht auf einem Gipfel, sondern in
einer weiten Ebene findet. Doch haben eine Anzahl kleinerer, von der Haupt-
masse getrennter Plateaus der Erosion noch widerstanden und erheben sich nun
als Ausläufer der Hochebene selbstständig vorgelagert. Unser Marsch führte zu
unserer Ueberraschung mitten durch sie hindurch, wo wir nach der Aufnahme
von Clauss im Jahre 1884 schon oben über die Hochebene hätten ziehen sollen:
er hatte damals diese Ausläufer aus der Ferne eingepeilt und nicht wissen können,
dass sie nicht den Rand der Hauptterrasse, sondern nur vorgeschobene Posten
darstellen.

Mit ihren grotesken Formen geben sie der Landschaft einen hochroman-
tischen Character. So hatten wir dem ersten von ihnen gegenüber den Eindruck,
als ob wir ein 300 m hohes Kastell mit kolossaler Front vor uns sähen; rote
Sandsteinzinnen krönten prachtvoll die senkrechte Burgwand. Wir erblickten
plumpe Kyklopenbauten an der Seite unserer sandigen Strasse oder auf grünen
Bergkegel einen halbzerfallenen Turm mit Schiessscharten und Fensterluken und
Mauerresten ringsum oder auf einsamer Höhe ein Staatsgefängnis, das sich, als
wir näher kamen, in einen gewaltigen Sarkophag, der auf einer stumpfen Pyramide
stand, zu verwandeln schien: wir mussten uns sagen, diese wundersamen Felsen,
deren stimmungsvoller Reiz in der Verklärung der untergehenden Sonne oder im
Zauberglanz des Mondscheins nicht wenig gesteigert wurde, würden von Teufels-
sagen und anderm Folklore wimmeln, wenn sie im alten Europa ständen.

Um so prosaischer und eintöniger ist die Hochebene. Durch die Erosion
des Wassers erhält sie ein flaches Relief: seichte beckenartige Vertiefungen werden
durch flache Hügelrücken, die Chapadoes, geschieden. Die Karawane bemüht
sich solange als möglich, oben auf dem trockenen und tristen Chapadao zu
bleiben und lässt es sich dem stetigen bequemen Vorwärtsrücken zuliebe selbst
gefallen, wenn sie für eine Weile aus der Richtung kommt: denn eine "Cabeceira,"
ein Quellbach, bedeutet immer Aufenthalt und kleine oder grosse Schwierigkeiten.
Auf dem Chapadao ist die Vegetation nichts weniger als elegant und üppig: krumme
und verkrüppelte Bäumchen mit zerrissener Borkenrinde, zum Teil mit kronleuchter-
artigen Ästen, deren Enden lederne Blätter aufsitzen -- schmalgefiederte Palmen,
verhältnismässig selten und von unansehnlichem Wuchs -- raschelndes Gebüsch und
dürre starre Grashalme -- eine Pflanzenwelt, die mit ihrem ganzen Habitus beweisen
zu wollen scheint, mit wie wenig Wasser sich wirtschaften lässt, und die in der
Trockenzeit mit dem blinkenden Thau allein auszukommen hat. Alle Nieder-
schläge vereinigen sich in den tiefern Einschnitten der Hänge, wo sich sofort
ein dichteres und kraftvolleres Buschwerk den Bachufern entlang entwickelt, oder

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hinab; Cuyabá liegt nach Vogels Bestimmung (Fussboden der Kathedrale) 219 m
über dem Meeresspiegel, St. Anna de Chapada 855 m, die höchste Stelle unserer
Route auf dem Plateau in der Nähe von Lagoa Comprida hatte 939 m. Der
Bewohner der Niederung, dem der Terrassenrand wie ein Gebirgszug erscheint,
spricht von einer »Serra« de São Jeronymo oder auch mehr nördlich von einer
»Serra« Azul, obgleich er oben angelangt sich nicht auf einem Gipfel, sondern in
einer weiten Ebene findet. Doch haben eine Anzahl kleinerer, von der Haupt-
masse getrennter Plateaus der Erosion noch widerstanden und erheben sich nun
als Ausläufer der Hochebene selbstständig vorgelagert. Unser Marsch führte zu
unserer Ueberraschung mitten durch sie hindurch, wo wir nach der Aufnahme
von Clauss im Jahre 1884 schon oben über die Hochebene hätten ziehen sollen:
er hatte damals diese Ausläufer aus der Ferne eingepeilt und nicht wissen können,
dass sie nicht den Rand der Hauptterrasse, sondern nur vorgeschobene Posten
darstellen.

Mit ihren grotesken Formen geben sie der Landschaft einen hochroman-
tischen Character. So hatten wir dem ersten von ihnen gegenüber den Eindruck,
als ob wir ein 300 m hohes Kastell mit kolossaler Front vor uns sähen; rote
Sandsteinzinnen krönten prachtvoll die senkrechte Burgwand. Wir erblickten
plumpe Kyklopenbauten an der Seite unserer sandigen Strasse oder auf grünen
Bergkegel einen halbzerfallenen Turm mit Schiessscharten und Fensterluken und
Mauerresten ringsum oder auf einsamer Höhe ein Staatsgefängnis, das sich, als
wir näher kamen, in einen gewaltigen Sarkophag, der auf einer stumpfen Pyramide
stand, zu verwandeln schien: wir mussten uns sagen, diese wundersamen Felsen,
deren stimmungsvoller Reiz in der Verklärung der untergehenden Sonne oder im
Zauberglanz des Mondscheins nicht wenig gesteigert wurde, würden von Teufels-
sagen und anderm Folklore wimmeln, wenn sie im alten Europa ständen.

Um so prosaischer und eintöniger ist die Hochebene. Durch die Erosion
des Wassers erhält sie ein flaches Relief: seichte beckenartige Vertiefungen werden
durch flache Hügelrücken, die Chapadões, geschieden. Die Karawane bemüht
sich solange als möglich, oben auf dem trockenen und tristen Chapadão zu
bleiben und lässt es sich dem stetigen bequemen Vorwärtsrücken zuliebe selbst
gefallen, wenn sie für eine Weile aus der Richtung kommt: denn eine »Cabeceira
ein Quellbach, bedeutet immer Aufenthalt und kleine oder grosse Schwierigkeiten.
Auf dem Chapadão ist die Vegetation nichts weniger als elegant und üppig: krumme
und verkrüppelte Bäumchen mit zerrissener Borkenrinde, zum Teil mit kronleuchter-
artigen Ästen, deren Enden lederne Blätter aufsitzen — schmalgefiederte Palmen,
verhältnismässig selten und von unansehnlichem Wuchs — raschelndes Gebüsch und
dürre starre Grashalme — eine Pflanzenwelt, die mit ihrem ganzen Habitus beweisen
zu wollen scheint, mit wie wenig Wasser sich wirtschaften lässt, und die in der
Trockenzeit mit dem blinkenden Thau allein auszukommen hat. Alle Nieder-
schläge vereinigen sich in den tiefern Einschnitten der Hänge, wo sich sofort
ein dichteres und kraftvolleres Buschwerk den Bachufern entlang entwickelt, oder

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[19/0043] hinab; Cuyabá liegt nach Vogels Bestimmung (Fussboden der Kathedrale) 219 m über dem Meeresspiegel, St. Anna de Chapada 855 m, die höchste Stelle unserer Route auf dem Plateau in der Nähe von Lagoa Comprida hatte 939 m. Der Bewohner der Niederung, dem der Terrassenrand wie ein Gebirgszug erscheint, spricht von einer »Serra« de São Jeronymo oder auch mehr nördlich von einer »Serra« Azul, obgleich er oben angelangt sich nicht auf einem Gipfel, sondern in einer weiten Ebene findet. Doch haben eine Anzahl kleinerer, von der Haupt- masse getrennter Plateaus der Erosion noch widerstanden und erheben sich nun als Ausläufer der Hochebene selbstständig vorgelagert. Unser Marsch führte zu unserer Ueberraschung mitten durch sie hindurch, wo wir nach der Aufnahme von Clauss im Jahre 1884 schon oben über die Hochebene hätten ziehen sollen: er hatte damals diese Ausläufer aus der Ferne eingepeilt und nicht wissen können, dass sie nicht den Rand der Hauptterrasse, sondern nur vorgeschobene Posten darstellen. Mit ihren grotesken Formen geben sie der Landschaft einen hochroman- tischen Character. So hatten wir dem ersten von ihnen gegenüber den Eindruck, als ob wir ein 300 m hohes Kastell mit kolossaler Front vor uns sähen; rote Sandsteinzinnen krönten prachtvoll die senkrechte Burgwand. Wir erblickten plumpe Kyklopenbauten an der Seite unserer sandigen Strasse oder auf grünen Bergkegel einen halbzerfallenen Turm mit Schiessscharten und Fensterluken und Mauerresten ringsum oder auf einsamer Höhe ein Staatsgefängnis, das sich, als wir näher kamen, in einen gewaltigen Sarkophag, der auf einer stumpfen Pyramide stand, zu verwandeln schien: wir mussten uns sagen, diese wundersamen Felsen, deren stimmungsvoller Reiz in der Verklärung der untergehenden Sonne oder im Zauberglanz des Mondscheins nicht wenig gesteigert wurde, würden von Teufels- sagen und anderm Folklore wimmeln, wenn sie im alten Europa ständen. Um so prosaischer und eintöniger ist die Hochebene. Durch die Erosion des Wassers erhält sie ein flaches Relief: seichte beckenartige Vertiefungen werden durch flache Hügelrücken, die Chapadões, geschieden. Die Karawane bemüht sich solange als möglich, oben auf dem trockenen und tristen Chapadão zu bleiben und lässt es sich dem stetigen bequemen Vorwärtsrücken zuliebe selbst gefallen, wenn sie für eine Weile aus der Richtung kommt: denn eine »Cabeceira,« ein Quellbach, bedeutet immer Aufenthalt und kleine oder grosse Schwierigkeiten. Auf dem Chapadão ist die Vegetation nichts weniger als elegant und üppig: krumme und verkrüppelte Bäumchen mit zerrissener Borkenrinde, zum Teil mit kronleuchter- artigen Ästen, deren Enden lederne Blätter aufsitzen — schmalgefiederte Palmen, verhältnismässig selten und von unansehnlichem Wuchs — raschelndes Gebüsch und dürre starre Grashalme — eine Pflanzenwelt, die mit ihrem ganzen Habitus beweisen zu wollen scheint, mit wie wenig Wasser sich wirtschaften lässt, und die in der Trockenzeit mit dem blinkenden Thau allein auszukommen hat. Alle Nieder- schläge vereinigen sich in den tiefern Einschnitten der Hänge, wo sich sofort ein dichteres und kraftvolleres Buschwerk den Bachufern entlang entwickelt, oder 2*

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Zitationshilfe: Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/43>, abgerufen am 26.04.2024.