Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894.

Bild:
<< vorherige Seite

In einem am Amazonas sehr verbreiteten Märchen*) macht der Urubu-
Geier mit der Jabuti-Schildkröte eine Wette, wer rascher nach dem Himmel, wo
gerade ein Fest gefeiert wurde, gelangen könne. Die Schildkröte schmuggelt
sich in den Proviantkorb des Geiers ein, kommt glücklich an und empfängt den
Geier, als dieser von einem Spaziergang durch das festliche Treiben zurückkehrt,
mit der Behauptung, dass sie bereits seit langer Zeit oben sei und auf ihn warte.
Die Wette ist unentschieden, man erneuert sie für die Rückreise, wer zuerst auf
der Erde ankomme. Der Geier fliegt hinunter, aber die Schildkröte lässt sich
fallen und gewinnt. Im Fall hat sie sich abgeplattet und ihre Schale ist geplatzt,
wie man noch heute sieht.

Wie hat man sich diese Erfindung zu denken? Sie ist die Antwort auf die
Frage: "wie kommt die Schildkrötenschale zu der Spalte, aus der wir das Fleisch
mühsam hervorholen?" Heute haben alle Schildkröten diese Spalte, es muss
lange her sein, dass sie entstanden ist. Damals muss der Stammvater der Schild-
kröten einen schweren Fall gethan haben; die Schale ist ja auch davon unten
ganz abgeplattet. Dann ist die Schildkröte aber, meint Einer bedenklich, mindestens
vom Himmel heruntergefallen. Ja, aber wie ist sie da hingekommen? Nun, der
Geier hat sie mitgenommen. Aber wie? -- Man hat die Schildkröte in eine
Situation gebracht, die von allen Erfahrungen aus dem Leben der Schildkröten
abweicht, aber die dahin führenden Schlüsse sind zwingend und jetzt erst beginnt
die Erfindung, der wiederum aus dem entgegengesetzten Wesen der beiden in
eine gemeinsame Situation gebrachten Tiere, des schnellen Vogels und des lang-
samen Reptils, ein deutlicher Weg zu dem beliebten Auskunftsmittel der Wette
gewiesen ist. Wenn der Indianer nun obendrein einen Wesensunterschied zwischen
Tier und Mensch nicht kennt, so stösst die Lösung des Problems mit Hülfe des
menschlichen Wettens und des menschlichen Proviantkorbs nicht auf die geringste
Schwierigkeit, zumal die Geschichte in der berühmten alten Zeit spielt, wo es
anders war als heute. Der Proviantkorb des Indianers, der die Schildkröte zum
Himmel bringt, ist gerade so berechtigt, wie unser Aether, in dessen Wellen sich
das Himmelslicht fortpflanzt. Wenn wir durchaus unser Kausalbedürfnis befriedigen
wollen, so müssen wir in den beiden Fällen, Jeder auf seiner Stufe, uns ein
Transportmittel schaffen, dessen Eigenschaften der Erklärung angepasst werden.

Gestirne. Der Indianer betrachtet die Figuren am Himmel und sieht in
ihnen Dinge, die er kennt. Der "früher so nahe" Himmel ist jetzt sehr, sehr
hoch. Nur Vögel, die lange fliegen, können vielleicht dorthin gelangen; der
Medizinmann ist dort im Augenblick, für ihn ist er "nicht höher als ein Haus".
Die Eigenschaften des Feuers werden himmlischen Körpern nicht zuerkannt. Die
Sonne ist ein grosser Ball von Federn des roten Arara und des Tukan, dessen
Gefieder ebenfalls prächtiges Orange und Rot aufweist, der Mond ein Ball von
den gelben Schwanzfedern des Webervogels (Cassicus, Japu), die der Bakairi im

*) Barbosa Rodriguez, Poranduba Amazonense. Annaes da Bibliotheca Nacional, Bd. XIV, 2,
Seite III. Rio de Janeiro, 1890.

In einem am Amazonas sehr verbreiteten Märchen*) macht der Urubú-
Geier mit der Jabutí-Schildkröte eine Wette, wer rascher nach dem Himmel, wo
gerade ein Fest gefeiert wurde, gelangen könne. Die Schildkröte schmuggelt
sich in den Proviantkorb des Geiers ein, kommt glücklich an und empfängt den
Geier, als dieser von einem Spaziergang durch das festliche Treiben zurückkehrt,
mit der Behauptung, dass sie bereits seit langer Zeit oben sei und auf ihn warte.
Die Wette ist unentschieden, man erneuert sie für die Rückreise, wer zuerst auf
der Erde ankomme. Der Geier fliegt hinunter, aber die Schildkröte lässt sich
fallen und gewinnt. Im Fall hat sie sich abgeplattet und ihre Schale ist geplatzt,
wie man noch heute sieht.

Wie hat man sich diese Erfindung zu denken? Sie ist die Antwort auf die
Frage: »wie kommt die Schildkrötenschale zu der Spalte, aus der wir das Fleisch
mühsam hervorholen?« Heute haben alle Schildkröten diese Spalte, es muss
lange her sein, dass sie entstanden ist. Damals muss der Stammvater der Schild-
kröten einen schweren Fall gethan haben; die Schale ist ja auch davon unten
ganz abgeplattet. Dann ist die Schildkröte aber, meint Einer bedenklich, mindestens
vom Himmel heruntergefallen. Ja, aber wie ist sie da hingekommen? Nun, der
Geier hat sie mitgenommen. Aber wie? — Man hat die Schildkröte in eine
Situation gebracht, die von allen Erfahrungen aus dem Leben der Schildkröten
abweicht, aber die dahin führenden Schlüsse sind zwingend und jetzt erst beginnt
die Erfindung, der wiederum aus dem entgegengesetzten Wesen der beiden in
eine gemeinsame Situation gebrachten Tiere, des schnellen Vogels und des lang-
samen Reptils, ein deutlicher Weg zu dem beliebten Auskunftsmittel der Wette
gewiesen ist. Wenn der Indianer nun obendrein einen Wesensunterschied zwischen
Tier und Mensch nicht kennt, so stösst die Lösung des Problems mit Hülfe des
menschlichen Wettens und des menschlichen Proviantkorbs nicht auf die geringste
Schwierigkeit, zumal die Geschichte in der berühmten alten Zeit spielt, wo es
anders war als heute. Der Proviantkorb des Indianers, der die Schildkröte zum
Himmel bringt, ist gerade so berechtigt, wie unser Aether, in dessen Wellen sich
das Himmelslicht fortpflanzt. Wenn wir durchaus unser Kausalbedürfnis befriedigen
wollen, so müssen wir in den beiden Fällen, Jeder auf seiner Stufe, uns ein
Transportmittel schaffen, dessen Eigenschaften der Erklärung angepasst werden.

Gestirne. Der Indianer betrachtet die Figuren am Himmel und sieht in
ihnen Dinge, die er kennt. Der »früher so nahe« Himmel ist jetzt sehr, sehr
hoch. Nur Vögel, die lange fliegen, können vielleicht dorthin gelangen; der
Medizinmann ist dort im Augenblick, für ihn ist er »nicht höher als ein Haus«.
Die Eigenschaften des Feuers werden himmlischen Körpern nicht zuerkannt. Die
Sonne ist ein grosser Ball von Federn des roten Arara und des Tukan, dessen
Gefieder ebenfalls prächtiges Orange und Rot aufweist, der Mond ein Ball von
den gelben Schwanzfedern des Webervogels (Cassicus, Japú), die der Bakaïrí im

*) Barbosa Rodriguez, Poranduba Amazonense. Annaes da Bibliotheca Nacional, Bd. XIV, 2,
Seite III. Rio de Janeiro, 1890.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0421" n="357"/>
          <p>In einem am Amazonas sehr verbreiteten Märchen<note place="foot" n="*)"><hi rendition="#g">Barbosa Rodriguez</hi>, Poranduba Amazonense. Annaes da Bibliotheca Nacional, Bd. XIV, 2,<lb/>
Seite III. Rio de Janeiro, 1890.</note> macht der Urubú-<lb/>
Geier mit der Jabutí-Schildkröte eine Wette, wer rascher nach dem Himmel, wo<lb/>
gerade ein Fest gefeiert wurde, gelangen könne. Die Schildkröte schmuggelt<lb/>
sich in den Proviantkorb des Geiers ein, kommt glücklich an und empfängt den<lb/>
Geier, als dieser von einem Spaziergang durch das festliche Treiben zurückkehrt,<lb/>
mit der Behauptung, dass sie bereits seit langer Zeit oben sei und auf ihn warte.<lb/>
Die Wette ist unentschieden, man erneuert sie für die Rückreise, wer zuerst auf<lb/>
der Erde ankomme. Der Geier fliegt hinunter, aber die Schildkröte lässt sich<lb/>
fallen und gewinnt. Im Fall hat sie sich abgeplattet und ihre Schale ist geplatzt,<lb/><hi rendition="#g">wie man noch heute sieht</hi>.</p><lb/>
          <p>Wie hat man sich diese Erfindung zu denken? Sie ist die Antwort auf die<lb/>
Frage: »wie kommt die Schildkrötenschale zu der Spalte, aus der wir das Fleisch<lb/>
mühsam hervorholen?« Heute haben alle Schildkröten diese Spalte, es muss<lb/>
lange her sein, dass sie entstanden ist. Damals muss der Stammvater der Schild-<lb/>
kröten einen schweren Fall gethan haben; die Schale ist ja auch davon unten<lb/>
ganz abgeplattet. Dann ist die Schildkröte aber, meint Einer bedenklich, mindestens<lb/>
vom Himmel heruntergefallen. Ja, aber wie ist sie da hingekommen? Nun, der<lb/>
Geier hat sie mitgenommen. Aber wie? &#x2014; Man hat die Schildkröte in eine<lb/>
Situation gebracht, die von allen Erfahrungen aus dem Leben der Schildkröten<lb/>
abweicht, aber die dahin führenden Schlüsse sind zwingend und jetzt erst beginnt<lb/>
die Erfindung, der wiederum aus dem entgegengesetzten Wesen der beiden in<lb/>
eine gemeinsame Situation gebrachten Tiere, des schnellen Vogels und des lang-<lb/>
samen Reptils, ein deutlicher Weg zu dem beliebten Auskunftsmittel der Wette<lb/>
gewiesen ist. Wenn der Indianer nun obendrein einen Wesensunterschied zwischen<lb/>
Tier und Mensch nicht kennt, so stösst die Lösung des Problems mit Hülfe des<lb/>
menschlichen Wettens und des menschlichen Proviantkorbs nicht auf die geringste<lb/>
Schwierigkeit, zumal die Geschichte in der berühmten alten Zeit spielt, wo es<lb/>
anders war als heute. Der Proviantkorb des Indianers, der die Schildkröte zum<lb/>
Himmel bringt, ist gerade so berechtigt, wie unser Aether, in dessen Wellen sich<lb/>
das Himmelslicht fortpflanzt. Wenn wir durchaus unser Kausalbedürfnis befriedigen<lb/>
wollen, so müssen wir in den beiden Fällen, Jeder auf seiner Stufe, uns ein<lb/>
Transportmittel schaffen, dessen Eigenschaften der Erklärung angepasst werden.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#b">Gestirne.</hi> Der Indianer betrachtet die Figuren am Himmel und sieht in<lb/>
ihnen Dinge, <hi rendition="#g">die er kennt</hi>. Der »<hi rendition="#g">früher</hi> so nahe« Himmel ist <hi rendition="#g">jetzt</hi> sehr, sehr<lb/>
hoch. Nur Vögel, die lange fliegen, können vielleicht dorthin gelangen; der<lb/>
Medizinmann ist dort im Augenblick, für ihn ist er »nicht höher als ein Haus«.<lb/>
Die Eigenschaften des Feuers werden himmlischen Körpern <hi rendition="#g">nicht</hi> zuerkannt. Die<lb/>
Sonne ist ein grosser Ball von <hi rendition="#g">Federn</hi> des roten Arara und des Tukan, dessen<lb/>
Gefieder ebenfalls prächtiges Orange und Rot aufweist, der Mond ein Ball von<lb/>
den gelben Schwanzfedern des Webervogels (Cassicus, Japú), die der Bakaïrí im<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[357/0421] In einem am Amazonas sehr verbreiteten Märchen *) macht der Urubú- Geier mit der Jabutí-Schildkröte eine Wette, wer rascher nach dem Himmel, wo gerade ein Fest gefeiert wurde, gelangen könne. Die Schildkröte schmuggelt sich in den Proviantkorb des Geiers ein, kommt glücklich an und empfängt den Geier, als dieser von einem Spaziergang durch das festliche Treiben zurückkehrt, mit der Behauptung, dass sie bereits seit langer Zeit oben sei und auf ihn warte. Die Wette ist unentschieden, man erneuert sie für die Rückreise, wer zuerst auf der Erde ankomme. Der Geier fliegt hinunter, aber die Schildkröte lässt sich fallen und gewinnt. Im Fall hat sie sich abgeplattet und ihre Schale ist geplatzt, wie man noch heute sieht. Wie hat man sich diese Erfindung zu denken? Sie ist die Antwort auf die Frage: »wie kommt die Schildkrötenschale zu der Spalte, aus der wir das Fleisch mühsam hervorholen?« Heute haben alle Schildkröten diese Spalte, es muss lange her sein, dass sie entstanden ist. Damals muss der Stammvater der Schild- kröten einen schweren Fall gethan haben; die Schale ist ja auch davon unten ganz abgeplattet. Dann ist die Schildkröte aber, meint Einer bedenklich, mindestens vom Himmel heruntergefallen. Ja, aber wie ist sie da hingekommen? Nun, der Geier hat sie mitgenommen. Aber wie? — Man hat die Schildkröte in eine Situation gebracht, die von allen Erfahrungen aus dem Leben der Schildkröten abweicht, aber die dahin führenden Schlüsse sind zwingend und jetzt erst beginnt die Erfindung, der wiederum aus dem entgegengesetzten Wesen der beiden in eine gemeinsame Situation gebrachten Tiere, des schnellen Vogels und des lang- samen Reptils, ein deutlicher Weg zu dem beliebten Auskunftsmittel der Wette gewiesen ist. Wenn der Indianer nun obendrein einen Wesensunterschied zwischen Tier und Mensch nicht kennt, so stösst die Lösung des Problems mit Hülfe des menschlichen Wettens und des menschlichen Proviantkorbs nicht auf die geringste Schwierigkeit, zumal die Geschichte in der berühmten alten Zeit spielt, wo es anders war als heute. Der Proviantkorb des Indianers, der die Schildkröte zum Himmel bringt, ist gerade so berechtigt, wie unser Aether, in dessen Wellen sich das Himmelslicht fortpflanzt. Wenn wir durchaus unser Kausalbedürfnis befriedigen wollen, so müssen wir in den beiden Fällen, Jeder auf seiner Stufe, uns ein Transportmittel schaffen, dessen Eigenschaften der Erklärung angepasst werden. Gestirne. Der Indianer betrachtet die Figuren am Himmel und sieht in ihnen Dinge, die er kennt. Der »früher so nahe« Himmel ist jetzt sehr, sehr hoch. Nur Vögel, die lange fliegen, können vielleicht dorthin gelangen; der Medizinmann ist dort im Augenblick, für ihn ist er »nicht höher als ein Haus«. Die Eigenschaften des Feuers werden himmlischen Körpern nicht zuerkannt. Die Sonne ist ein grosser Ball von Federn des roten Arara und des Tukan, dessen Gefieder ebenfalls prächtiges Orange und Rot aufweist, der Mond ein Ball von den gelben Schwanzfedern des Webervogels (Cassicus, Japú), die der Bakaïrí im *) Barbosa Rodriguez, Poranduba Amazonense. Annaes da Bibliotheca Nacional, Bd. XIV, 2, Seite III. Rio de Janeiro, 1890.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/421
Zitationshilfe: Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 357. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/421>, abgerufen am 27.05.2024.