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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894.

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Jeder Stamm kannte die Lieder der Nachbarstämme, ohne dass er ihren Inhalt
genau verstand, wie wir an zahlreichen Beispielen erfahren haben; ein Stamm
lernte vom andern auch neue Arten Masken kennen, und endlich gewann das
Mereschumuster, auf das ich nach Beschreibung der Masken zurückkommen
werde, seine allgemeine Verbreitung.

Dann aber ist es ferner leicht begreiflich, dass die Frauen von den feier-
licheren Tänzen streng ausgeschlossen sind und das Flötenhaus, das Haus der
Männer, wo die fremden Besucher empfangen und bewirtet werden, nicht betreten
dürfen. In diesem Sinn ist wohl auch der eigentümliche Mummenschanz aufzu-
fassen, den wir im zweiten Bakairidorf erlebten, als die Speisen und Getränke
für unsere Flötenhaus-Gesellschaft durch einen maskierten Indianer des ersten
Dorfes von den Frauen, die sie nicht hätten bringen dürfen, geholt wurden. Vgl.
Seite 89 *). Dem Scherz lag das ernsthafte Motiv zu Grunde, dass Fremde und
Frauen in ihrem Verkehr beschränkt werden sollen. Der Muhammedaner schlägt
den umgekehrten Weg ein, indem er seine Frauen maskiert und in besonderen
Gemächern abschliesst.

In dem Ursprung der Tänze selbst liegt ferner ein wesentlicher Grund gegen
die Teilnahme des weiblichen Geschlechts. Es sind "unweibliche" Vergnügungen,
die aus Jägerfesten hervorgegangen sind. Immerhin scheint es Unterschiede zu
geben. Bei den grossen Festen beteiligen sich die Frauen niemals, sagten die
Bakairi, wohl aber bei kleinen; auch sollen sie gelegentlich ohne Männer für sich
tanzen. Die Suya aber scheinen anders zu denken; wenigstens äusserten sich die
Bakairi sehr geringschätzig über den Unfug, dass dort "Männer mit Frauen
tanzten". Vielleicht ist es nützlich, endlich noch hervorzuheben, dass von irgend-
welchen Geheimnissen und Mysterien oder irgend einer besonderen Beziehung der
Medizinmänner zu den Tänzen, die vor den Frauen geheim gehalten werden
sollten, auch nicht die leiseste Spur zu finden war.

Es ist auch zum Schutz gegen die weibliche Neugier, wenn die Eingänge
der Flötenhäuser am Kulisehu so niedrig gemacht sind, dass man nur in sehr
gebückter Haltung eintreten kann oder gar auf den Knieen hineinrutschen muss.
Ich weiss nicht, wie weit das Verbot für die Frauen im Alltagsleben praktisch
durchgeführt wird, aber wir erhielten nicht die Erlaubnis, sie im Flötenhaus zu
messen, und gewiss ist, dass es hiess, "die Frauen würden getötet, wenn sie in
das Flötenhaus gingen" -- eine ziemlich grobe Variante des "mulier taceat in
ecclesia". Dass der Gebrauch auch noch bei den zahmen Bakairi vor einigen 30
oder 40 Jahren ernst genommen wurde, geht am besten aus einer Erfahrung
hervor, die nach der Erzählung eines alten Brasiliers die das Christentum brin-
genden Patres machen mussten. Diese hatten nichts natürlicher gefunden als die
neue Gemeinde in dem für Kirchenzwecke so geeigneten, weil unbewohnten

*) Aus Versehen ist an dieser Stelle ein Satz stehen geblieben, der einen längst von mir
aufgegebenen Gedanken enthält -- der Schlusssatz, dass vielleicht ein Zusammenhang mit dem Ge-
brauch des Alleinessens vorhanden sei.

Jeder Stamm kannte die Lieder der Nachbarstämme, ohne dass er ihren Inhalt
genau verstand, wie wir an zahlreichen Beispielen erfahren haben; ein Stamm
lernte vom andern auch neue Arten Masken kennen, und endlich gewann das
Mereschumuster, auf das ich nach Beschreibung der Masken zurückkommen
werde, seine allgemeine Verbreitung.

Dann aber ist es ferner leicht begreiflich, dass die Frauen von den feier-
licheren Tänzen streng ausgeschlossen sind und das Flötenhaus, das Haus der
Männer, wo die fremden Besucher empfangen und bewirtet werden, nicht betreten
dürfen. In diesem Sinn ist wohl auch der eigentümliche Mummenschanz aufzu-
fassen, den wir im zweiten Bakaïrídorf erlebten, als die Speisen und Getränke
für unsere Flötenhaus-Gesellschaft durch einen maskierten Indianer des ersten
Dorfes von den Frauen, die sie nicht hätten bringen dürfen, geholt wurden. Vgl.
Seite 89 *). Dem Scherz lag das ernsthafte Motiv zu Grunde, dass Fremde und
Frauen in ihrem Verkehr beschränkt werden sollen. Der Muhammedaner schlägt
den umgekehrten Weg ein, indem er seine Frauen maskiert und in besonderen
Gemächern abschliesst.

In dem Ursprung der Tänze selbst liegt ferner ein wesentlicher Grund gegen
die Teilnahme des weiblichen Geschlechts. Es sind »unweibliche« Vergnügungen,
die aus Jägerfesten hervorgegangen sind. Immerhin scheint es Unterschiede zu
geben. Bei den grossen Festen beteiligen sich die Frauen niemals, sagten die
Bakaïrí, wohl aber bei kleinen; auch sollen sie gelegentlich ohne Männer für sich
tanzen. Die Suyá aber scheinen anders zu denken; wenigstens äusserten sich die
Bakaïrí sehr geringschätzig über den Unfug, dass dort »Männer mit Frauen
tanzten«. Vielleicht ist es nützlich, endlich noch hervorzuheben, dass von irgend-
welchen Geheimnissen und Mysterien oder irgend einer besonderen Beziehung der
Medizinmänner zu den Tänzen, die vor den Frauen geheim gehalten werden
sollten, auch nicht die leiseste Spur zu finden war.

Es ist auch zum Schutz gegen die weibliche Neugier, wenn die Eingänge
der Flötenhäuser am Kulisehu so niedrig gemacht sind, dass man nur in sehr
gebückter Haltung eintreten kann oder gar auf den Knieen hineinrutschen muss.
Ich weiss nicht, wie weit das Verbot für die Frauen im Alltagsleben praktisch
durchgeführt wird, aber wir erhielten nicht die Erlaubnis, sie im Flötenhaus zu
messen, und gewiss ist, dass es hiess, »die Frauen würden getötet, wenn sie in
das Flötenhaus gingen« — eine ziemlich grobe Variante des »mulier taceat in
ecclesia«. Dass der Gebrauch auch noch bei den zahmen Bakaïrí vor einigen 30
oder 40 Jahren ernst genommen wurde, geht am besten aus einer Erfahrung
hervor, die nach der Erzählung eines alten Brasiliers die das Christentum brin-
genden Patres machen mussten. Diese hatten nichts natürlicher gefunden als die
neue Gemeinde in dem für Kirchenzwecke so geeigneten, weil unbewohnten

*) Aus Versehen ist an dieser Stelle ein Satz stehen geblieben, der einen längst von mir
aufgegebenen Gedanken enthält — der Schlusssatz, dass vielleicht ein Zusammenhang mit dem Ge-
brauch des Alleinessens vorhanden sei.
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[298/0362] Jeder Stamm kannte die Lieder der Nachbarstämme, ohne dass er ihren Inhalt genau verstand, wie wir an zahlreichen Beispielen erfahren haben; ein Stamm lernte vom andern auch neue Arten Masken kennen, und endlich gewann das Mereschumuster, auf das ich nach Beschreibung der Masken zurückkommen werde, seine allgemeine Verbreitung. Dann aber ist es ferner leicht begreiflich, dass die Frauen von den feier- licheren Tänzen streng ausgeschlossen sind und das Flötenhaus, das Haus der Männer, wo die fremden Besucher empfangen und bewirtet werden, nicht betreten dürfen. In diesem Sinn ist wohl auch der eigentümliche Mummenschanz aufzu- fassen, den wir im zweiten Bakaïrídorf erlebten, als die Speisen und Getränke für unsere Flötenhaus-Gesellschaft durch einen maskierten Indianer des ersten Dorfes von den Frauen, die sie nicht hätten bringen dürfen, geholt wurden. Vgl. Seite 89 *). Dem Scherz lag das ernsthafte Motiv zu Grunde, dass Fremde und Frauen in ihrem Verkehr beschränkt werden sollen. Der Muhammedaner schlägt den umgekehrten Weg ein, indem er seine Frauen maskiert und in besonderen Gemächern abschliesst. In dem Ursprung der Tänze selbst liegt ferner ein wesentlicher Grund gegen die Teilnahme des weiblichen Geschlechts. Es sind »unweibliche« Vergnügungen, die aus Jägerfesten hervorgegangen sind. Immerhin scheint es Unterschiede zu geben. Bei den grossen Festen beteiligen sich die Frauen niemals, sagten die Bakaïrí, wohl aber bei kleinen; auch sollen sie gelegentlich ohne Männer für sich tanzen. Die Suyá aber scheinen anders zu denken; wenigstens äusserten sich die Bakaïrí sehr geringschätzig über den Unfug, dass dort »Männer mit Frauen tanzten«. Vielleicht ist es nützlich, endlich noch hervorzuheben, dass von irgend- welchen Geheimnissen und Mysterien oder irgend einer besonderen Beziehung der Medizinmänner zu den Tänzen, die vor den Frauen geheim gehalten werden sollten, auch nicht die leiseste Spur zu finden war. Es ist auch zum Schutz gegen die weibliche Neugier, wenn die Eingänge der Flötenhäuser am Kulisehu so niedrig gemacht sind, dass man nur in sehr gebückter Haltung eintreten kann oder gar auf den Knieen hineinrutschen muss. Ich weiss nicht, wie weit das Verbot für die Frauen im Alltagsleben praktisch durchgeführt wird, aber wir erhielten nicht die Erlaubnis, sie im Flötenhaus zu messen, und gewiss ist, dass es hiess, »die Frauen würden getötet, wenn sie in das Flötenhaus gingen« — eine ziemlich grobe Variante des »mulier taceat in ecclesia«. Dass der Gebrauch auch noch bei den zahmen Bakaïrí vor einigen 30 oder 40 Jahren ernst genommen wurde, geht am besten aus einer Erfahrung hervor, die nach der Erzählung eines alten Brasiliers die das Christentum brin- genden Patres machen mussten. Diese hatten nichts natürlicher gefunden als die neue Gemeinde in dem für Kirchenzwecke so geeigneten, weil unbewohnten *) Aus Versehen ist an dieser Stelle ein Satz stehen geblieben, der einen längst von mir aufgegebenen Gedanken enthält — der Schlusssatz, dass vielleicht ein Zusammenhang mit dem Ge- brauch des Alleinessens vorhanden sei.

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Zitationshilfe: Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/362>, abgerufen am 27.05.2024.