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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894.

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Aufsatz über "Das Zeichnen bei den Naturvölkern"*) hervor, dass die Pflanze
nur selten eine Rolle spielt und fügt hinzu: "Um zum Verständnis dieser Er-
scheinung zu gelangen, brauchen wir uns blos daran zu erinnern, dass auch bei
unsern Kindern, wenn sie die ersten selbständigen Versuche zum Zeichnen auf
der Schiefertafel machen, zunächst Tiere und Menschen in rohen Formen dar-
gestellt werden; das lebendige bewegliche Tier fesselt eher ihre Aufmerksamkeit,
ist in seiner ganzen Figur auch schneller zu erfassen als die aus zahlreichen
Blättern und Blüten bestehende Pflanze."

Diese zutreffende Bemerkung steht im besten Einklang zu dem Zusammen-
hang von Geberde und Zeichnen, den ich behaupte. Durch Geberden ahme ich
ein Tier nach, keinen Baum, und nicht nur deshalb, weil dieser sich nicht aktiv
bewegt. Denn durch Geberden Teile des Tierkörpers zu umschreiben, wird mir
leicht, weil ich dabei, von meinem eignen Körper ausgehend, wenn ich z. B. ein
paar Eselsohren oder ein Geweih zeichnen wollte, sofort den Platz und die Art
des Organs angebe, dagegen vermag ich Pflanzenteile durch Geberden nicht aus-
zudrücken, es sei denn, dass ich Worte zu Hülfe nehme. Indessen ist bei unsern
Indianern das Zeichnen nur ein Spezialfall, das Tiermotiv beherrscht seine ganze
Gedankenwelt in jeder Kunst und Wissenschaft, wie sie auch heisse, und dafür
kann es keinen andern Grund geben als sein Jägertum.

Dem formellen oder ästhetischen Interesse am Tier geht das materielle
voraus. Die Blume steht in der Kunst genau so in zweiter Linie, wie sie es
beim Schmuck thut: erst die Feder im Ohr und dann das Sträusschen am Hute.
In der "Bilderschrift" des Virador in Rio Grande do Sul sah ich Araukarien dar-
gestellt. Eine Palme wäre gerade so leicht zu zeichnen als eine Fichte, aber
keine Palme liefert im Norden eine so unentbehrliche Nahrung wie die Araukarie
früher dem "Bugre" jener Südprovinz. Ehe die Kunst, wenn ich den Sinn des
Satzes ein wenig variieren darf, nach Brod ging, ist sie nach Fleisch und Fisch
gegangen. Ich werde auf dieses Thema namentlich bei den keramischen Kunst-
erzeugnissen zurückzukommen haben.

Sandzeichnungen. Sie sind wie Worte zunächst eine Form der Mitteilung.
Wie die beschreibende Geberde sich gern und leicht zum Bild vervollständigte,
habe ich berichtet. Am häufigsten war Kartenzeichnen. Unsere zweite Reise
ist durch die Sandzeichnung der oberen Schinguverteilung, mit der der Suya-
geograph seine Angaben erläuterte, entstanden; vgl. S. 153. "Er zählte alle die
Stämme auf, welche an dem obern Schingu sesshaft sind, er zeichnete, um recht
deutlich zu sein, mit dem Finger den Flusslauf in den Sand. Zu unserer grössten
Ueberraschung malte er den Batovy, den einzigen, den er so und zwar ganz aus
eigener Initiative so darstellte, mit korkzieherartig gewundenem Lauf." ("Durch
Centralbrasilien", S. 213). Der Batovy war, wie wir zu unserm Leidwesen er-
fahren hatten, ein wahrer Mäander.


*) Ethnographische Parallelen und Vergleiche, Neue Folge, Leipzig 1889. p. 59.

Aufsatz über »Das Zeichnen bei den Naturvölkern«*) hervor, dass die Pflanze
nur selten eine Rolle spielt und fügt hinzu: »Um zum Verständnis dieser Er-
scheinung zu gelangen, brauchen wir uns blos daran zu erinnern, dass auch bei
unsern Kindern, wenn sie die ersten selbständigen Versuche zum Zeichnen auf
der Schiefertafel machen, zunächst Tiere und Menschen in rohen Formen dar-
gestellt werden; das lebendige bewegliche Tier fesselt eher ihre Aufmerksamkeit,
ist in seiner ganzen Figur auch schneller zu erfassen als die aus zahlreichen
Blättern und Blüten bestehende Pflanze.«

Diese zutreffende Bemerkung steht im besten Einklang zu dem Zusammen-
hang von Geberde und Zeichnen, den ich behaupte. Durch Geberden ahme ich
ein Tier nach, keinen Baum, und nicht nur deshalb, weil dieser sich nicht aktiv
bewegt. Denn durch Geberden Teile des Tierkörpers zu umschreiben, wird mir
leicht, weil ich dabei, von meinem eignen Körper ausgehend, wenn ich z. B. ein
paar Eselsohren oder ein Geweih zeichnen wollte, sofort den Platz und die Art
des Organs angebe, dagegen vermag ich Pflanzenteile durch Geberden nicht aus-
zudrücken, es sei denn, dass ich Worte zu Hülfe nehme. Indessen ist bei unsern
Indianern das Zeichnen nur ein Spezialfall, das Tiermotiv beherrscht seine ganze
Gedankenwelt in jeder Kunst und Wissenschaft, wie sie auch heisse, und dafür
kann es keinen andern Grund geben als sein Jägertum.

Dem formellen oder ästhetischen Interesse am Tier geht das materielle
voraus. Die Blume steht in der Kunst genau so in zweiter Linie, wie sie es
beim Schmuck thut: erst die Feder im Ohr und dann das Sträusschen am Hute.
In der »Bilderschrift« des Virador in Rio Grande do Sul sah ich Araukarien dar-
gestellt. Eine Palme wäre gerade so leicht zu zeichnen als eine Fichte, aber
keine Palme liefert im Norden eine so unentbehrliche Nahrung wie die Araukarie
früher dem »Bugre« jener Südprovinz. Ehe die Kunst, wenn ich den Sinn des
Satzes ein wenig variieren darf, nach Brod ging, ist sie nach Fleisch und Fisch
gegangen. Ich werde auf dieses Thema namentlich bei den keramischen Kunst-
erzeugnissen zurückzukommen haben.

Sandzeichnungen. Sie sind wie Worte zunächst eine Form der Mitteilung.
Wie die beschreibende Geberde sich gern und leicht zum Bild vervollständigte,
habe ich berichtet. Am häufigsten war Kartenzeichnen. Unsere zweite Reise
ist durch die Sandzeichnung der oberen Schingúverteilung, mit der der Suyá-
geograph seine Angaben erläuterte, entstanden; vgl. S. 153. »Er zählte alle die
Stämme auf, welche an dem obern Schingú sesshaft sind, er zeichnete, um recht
deutlich zu sein, mit dem Finger den Flusslauf in den Sand. Zu unserer grössten
Ueberraschung malte er den Batovy, den einzigen, den er so und zwar ganz aus
eigener Initiative so darstellte, mit korkzieherartig gewundenem Lauf.« (»Durch
Centralbrasilien«, S. 213). Der Batovy war, wie wir zu unserm Leidwesen er-
fahren hatten, ein wahrer Mäander.


*) Ethnographische Parallelen und Vergleiche, Neue Folge, Leipzig 1889. p. 59.
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[246/0292] Aufsatz über »Das Zeichnen bei den Naturvölkern« *) hervor, dass die Pflanze nur selten eine Rolle spielt und fügt hinzu: »Um zum Verständnis dieser Er- scheinung zu gelangen, brauchen wir uns blos daran zu erinnern, dass auch bei unsern Kindern, wenn sie die ersten selbständigen Versuche zum Zeichnen auf der Schiefertafel machen, zunächst Tiere und Menschen in rohen Formen dar- gestellt werden; das lebendige bewegliche Tier fesselt eher ihre Aufmerksamkeit, ist in seiner ganzen Figur auch schneller zu erfassen als die aus zahlreichen Blättern und Blüten bestehende Pflanze.« Diese zutreffende Bemerkung steht im besten Einklang zu dem Zusammen- hang von Geberde und Zeichnen, den ich behaupte. Durch Geberden ahme ich ein Tier nach, keinen Baum, und nicht nur deshalb, weil dieser sich nicht aktiv bewegt. Denn durch Geberden Teile des Tierkörpers zu umschreiben, wird mir leicht, weil ich dabei, von meinem eignen Körper ausgehend, wenn ich z. B. ein paar Eselsohren oder ein Geweih zeichnen wollte, sofort den Platz und die Art des Organs angebe, dagegen vermag ich Pflanzenteile durch Geberden nicht aus- zudrücken, es sei denn, dass ich Worte zu Hülfe nehme. Indessen ist bei unsern Indianern das Zeichnen nur ein Spezialfall, das Tiermotiv beherrscht seine ganze Gedankenwelt in jeder Kunst und Wissenschaft, wie sie auch heisse, und dafür kann es keinen andern Grund geben als sein Jägertum. Dem formellen oder ästhetischen Interesse am Tier geht das materielle voraus. Die Blume steht in der Kunst genau so in zweiter Linie, wie sie es beim Schmuck thut: erst die Feder im Ohr und dann das Sträusschen am Hute. In der »Bilderschrift« des Virador in Rio Grande do Sul sah ich Araukarien dar- gestellt. Eine Palme wäre gerade so leicht zu zeichnen als eine Fichte, aber keine Palme liefert im Norden eine so unentbehrliche Nahrung wie die Araukarie früher dem »Bugre« jener Südprovinz. Ehe die Kunst, wenn ich den Sinn des Satzes ein wenig variieren darf, nach Brod ging, ist sie nach Fleisch und Fisch gegangen. Ich werde auf dieses Thema namentlich bei den keramischen Kunst- erzeugnissen zurückzukommen haben. Sandzeichnungen. Sie sind wie Worte zunächst eine Form der Mitteilung. Wie die beschreibende Geberde sich gern und leicht zum Bild vervollständigte, habe ich berichtet. Am häufigsten war Kartenzeichnen. Unsere zweite Reise ist durch die Sandzeichnung der oberen Schingúverteilung, mit der der Suyá- geograph seine Angaben erläuterte, entstanden; vgl. S. 153. »Er zählte alle die Stämme auf, welche an dem obern Schingú sesshaft sind, er zeichnete, um recht deutlich zu sein, mit dem Finger den Flusslauf in den Sand. Zu unserer grössten Ueberraschung malte er den Batovy, den einzigen, den er so und zwar ganz aus eigener Initiative so darstellte, mit korkzieherartig gewundenem Lauf.« (»Durch Centralbrasilien«, S. 213). Der Batovy war, wie wir zu unserm Leidwesen er- fahren hatten, ein wahrer Mäander. *) Ethnographische Parallelen und Vergleiche, Neue Folge, Leipzig 1889. p. 59.

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Zitationshilfe: Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/292>, abgerufen am 15.05.2024.