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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868.

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Personen-, Sachen- und Erwerbsrecht umgestalten, und alles aufheben,
was dem Princip der staatsbürgerlichen Gesellschaft entgegensteht. Dieser
Proceß hat im Großen und Ganzen reichlich zweihundert Jahre ge-
dauert, und wie wir sehen werden, ist er noch keineswegs fertig.
Die staatsbürgerliche Gesellschaft ist noch nicht zur vollen Geltung
ihrer Grundsätze gelangt, obgleich ihr Sieg über die Rechtssysteme der
frühern Gesellschaftsordnungen ohne allen Zweifel ein entschiedener ist.
Und wir müssen sagen, daß dieser Proceß die wahre Rechtsgeschichte
Europas seit dem
17. Jahrhundert enthält. Es ist ein ganz
neues Leben von Gedanken und Principien, das sich namentlich seit
dem westphälischen Frieden in Europa Bahn bricht; eine neue Rechtswelt
erscheint, und die sogenannte deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte erkennt
das an, indem sie instinktartig mit der Epoche abschließt, wo ihre zwar
große aber einseitige Basis, die germanische Geschlechterordnung und ihr
Recht aufhören die Herrschaft zu besitzen. Diese neue Rechtsgeschichte
des staatsbürgerlichen Rechts ist aber keineswegs beständig die Geschichte
der Entwährung. Es ist vielmehr festzuhalten, daß die Entwährung
ihrerseits nur als ein wenn auch mächtiger und definitiv entscheidender,
so doch immer nur als ein bestimmter Theil innerhalb derselben
vorkommt; und es ist durchaus nothwendig, die Gränze dieses Auf-
tretens der Entwährung in jener neuen Rechtsbildung nicht bloß äußer-
lich, sondern auch principiell zu bezeichnen.

Diese Gränze nun besteht darin, daß die Entwährung ihrem Be-
griffe nach den Grundsatz der Entschädigung enthält. Die Ent-
währung ist daher nicht die Aufhebung des Geschlechter- und Stände-
rechts überhaupt, sondern sie umfaßt nur diejenigen Aufhebungen,
welche die Entschädigung möglich machen, das ist diejenigen, bei
denen die durch das Princip der staatsbürgerlichen Gesellschaft beseitigten
Rechte einen nachweisbaren wirthschaftlichen Werth haben.
Das nun ist aber bei jenen Rechten keineswegs immer der Fall. Da-
her dann die natürliche Erscheinung, daß die neue Rechtsbildung, wenn
auch in hundert verschiedenen Arten und Anwendungen, doch immer
in zwei großen Grundformen vor sich geht, die stets neben einander
laufen. Die eine hebt einfach die bestehenden geltenden Rechtsordnungen
auf, die andere erzeugt dagegen ein Verfahren, welche diese Auf-
hebung durch Ermittlung des Werthes mit einer gesetzlichen Entschädi-
gung verbindet; und dieses Verfahren ist die Entwährung. Die
Entwährung bezieht sich daher auch nur auf einzelne, ganz bestimmte
Gebiete; sie umfaßt nur einzelne ganz bestimmte Fälle; sie erscheint als
ein ganz bestimmtes eigenthümliches Verfahren, und während daher
jene erste Seite bloß der Gesetzgebung angehört, wird die Entwährung

Perſonen-, Sachen- und Erwerbsrecht umgeſtalten, und alles aufheben,
was dem Princip der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft entgegenſteht. Dieſer
Proceß hat im Großen und Ganzen reichlich zweihundert Jahre ge-
dauert, und wie wir ſehen werden, iſt er noch keineswegs fertig.
Die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft iſt noch nicht zur vollen Geltung
ihrer Grundſätze gelangt, obgleich ihr Sieg über die Rechtsſyſteme der
frühern Geſellſchaftsordnungen ohne allen Zweifel ein entſchiedener iſt.
Und wir müſſen ſagen, daß dieſer Proceß die wahre Rechtsgeſchichte
Europas ſeit dem
17. Jahrhundert enthält. Es iſt ein ganz
neues Leben von Gedanken und Principien, das ſich namentlich ſeit
dem weſtphäliſchen Frieden in Europa Bahn bricht; eine neue Rechtswelt
erſcheint, und die ſogenannte deutſche Reichs- und Rechtsgeſchichte erkennt
das an, indem ſie inſtinktartig mit der Epoche abſchließt, wo ihre zwar
große aber einſeitige Baſis, die germaniſche Geſchlechterordnung und ihr
Recht aufhören die Herrſchaft zu beſitzen. Dieſe neue Rechtsgeſchichte
des ſtaatsbürgerlichen Rechts iſt aber keineswegs beſtändig die Geſchichte
der Entwährung. Es iſt vielmehr feſtzuhalten, daß die Entwährung
ihrerſeits nur als ein wenn auch mächtiger und definitiv entſcheidender,
ſo doch immer nur als ein beſtimmter Theil innerhalb derſelben
vorkommt; und es iſt durchaus nothwendig, die Gränze dieſes Auf-
tretens der Entwährung in jener neuen Rechtsbildung nicht bloß äußer-
lich, ſondern auch principiell zu bezeichnen.

Dieſe Gränze nun beſteht darin, daß die Entwährung ihrem Be-
griffe nach den Grundſatz der Entſchädigung enthält. Die Ent-
währung iſt daher nicht die Aufhebung des Geſchlechter- und Stände-
rechts überhaupt, ſondern ſie umfaßt nur diejenigen Aufhebungen,
welche die Entſchädigung möglich machen, das iſt diejenigen, bei
denen die durch das Princip der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft beſeitigten
Rechte einen nachweisbaren wirthſchaftlichen Werth haben.
Das nun iſt aber bei jenen Rechten keineswegs immer der Fall. Da-
her dann die natürliche Erſcheinung, daß die neue Rechtsbildung, wenn
auch in hundert verſchiedenen Arten und Anwendungen, doch immer
in zwei großen Grundformen vor ſich geht, die ſtets neben einander
laufen. Die eine hebt einfach die beſtehenden geltenden Rechtsordnungen
auf, die andere erzeugt dagegen ein Verfahren, welche dieſe Auf-
hebung durch Ermittlung des Werthes mit einer geſetzlichen Entſchädi-
gung verbindet; und dieſes Verfahren iſt die Entwährung. Die
Entwährung bezieht ſich daher auch nur auf einzelne, ganz beſtimmte
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[79/0097] Perſonen-, Sachen- und Erwerbsrecht umgeſtalten, und alles aufheben, was dem Princip der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft entgegenſteht. Dieſer Proceß hat im Großen und Ganzen reichlich zweihundert Jahre ge- dauert, und wie wir ſehen werden, iſt er noch keineswegs fertig. Die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft iſt noch nicht zur vollen Geltung ihrer Grundſätze gelangt, obgleich ihr Sieg über die Rechtsſyſteme der frühern Geſellſchaftsordnungen ohne allen Zweifel ein entſchiedener iſt. Und wir müſſen ſagen, daß dieſer Proceß die wahre Rechtsgeſchichte Europas ſeit dem 17. Jahrhundert enthält. Es iſt ein ganz neues Leben von Gedanken und Principien, das ſich namentlich ſeit dem weſtphäliſchen Frieden in Europa Bahn bricht; eine neue Rechtswelt erſcheint, und die ſogenannte deutſche Reichs- und Rechtsgeſchichte erkennt das an, indem ſie inſtinktartig mit der Epoche abſchließt, wo ihre zwar große aber einſeitige Baſis, die germaniſche Geſchlechterordnung und ihr Recht aufhören die Herrſchaft zu beſitzen. Dieſe neue Rechtsgeſchichte des ſtaatsbürgerlichen Rechts iſt aber keineswegs beſtändig die Geſchichte der Entwährung. Es iſt vielmehr feſtzuhalten, daß die Entwährung ihrerſeits nur als ein wenn auch mächtiger und definitiv entſcheidender, ſo doch immer nur als ein beſtimmter Theil innerhalb derſelben vorkommt; und es iſt durchaus nothwendig, die Gränze dieſes Auf- tretens der Entwährung in jener neuen Rechtsbildung nicht bloß äußer- lich, ſondern auch principiell zu bezeichnen. Dieſe Gränze nun beſteht darin, daß die Entwährung ihrem Be- griffe nach den Grundſatz der Entſchädigung enthält. Die Ent- währung iſt daher nicht die Aufhebung des Geſchlechter- und Stände- rechts überhaupt, ſondern ſie umfaßt nur diejenigen Aufhebungen, welche die Entſchädigung möglich machen, das iſt diejenigen, bei denen die durch das Princip der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft beſeitigten Rechte einen nachweisbaren wirthſchaftlichen Werth haben. Das nun iſt aber bei jenen Rechten keineswegs immer der Fall. Da- her dann die natürliche Erſcheinung, daß die neue Rechtsbildung, wenn auch in hundert verſchiedenen Arten und Anwendungen, doch immer in zwei großen Grundformen vor ſich geht, die ſtets neben einander laufen. Die eine hebt einfach die beſtehenden geltenden Rechtsordnungen auf, die andere erzeugt dagegen ein Verfahren, welche dieſe Auf- hebung durch Ermittlung des Werthes mit einer geſetzlichen Entſchädi- gung verbindet; und dieſes Verfahren iſt die Entwährung. Die Entwährung bezieht ſich daher auch nur auf einzelne, ganz beſtimmte Gebiete; ſie umfaßt nur einzelne ganz beſtimmte Fälle; ſie erſcheint als ein ganz beſtimmtes eigenthümliches Verfahren, und während daher jene erſte Seite bloß der Geſetzgebung angehört, wird die Entwährung

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/97>, abgerufen am 28.04.2024.