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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868.

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wenn man sie einmal in ihrer inneren und äußeren Selbständigkeit
erkannt hat, so ist es nicht wohl möglich, sie weiter zu vermischen oder
zu verwechseln. Allein in der wirklichen Geschichte der germanischen
Völker- und Staatenbildung ist diese Scheidung eben nicht vollzogen.
Hier tritt uns vielmehr eine andere, allerdings mit dem ganzen Wesen
der Gesellschaft vollständig harmonirende Thatsache entgegen. Es ist
die, daß sich jene drei Ordnungen nicht ausschließen, sondern neben
und in einander fortbestehen können, und zwar so, daß ein Theil des
Volkslebens der einen, ein anderer Theil desselben der zweiten, ja ein
dritter Theil der dritten Ordnung angehört. In diesem gleichzeitigen
Bestehen, in diesem sich gegenseitig Durchdringen liegt eben der Reich-
thum der germanischen Welt; ohne dasselbe wäre sie eben so innerlich
öde und geschichtslos, wie die indische und chinesische. Es ist aber sehr
einfach, diesen abstrakten Satz durch bekannte Thatsachen zu bestätigen.
Der erste Blick auf die europäische Rechtsgeschichte genügt, um sich zu
überzeugen, daß das Rechtssystem der unfreien Personen und das des
unfreien Besitzes in Leibeigenen und unabhängigem Bauernstand, das
Rechtssystem der unfreien Arbeit in Zünften, Innungen und Vor-
rechten aller Art schon seit Jahrhunderten nicht bloß neben einander,
sondern auch neben dem Princip und der theilweisen Gültigkeit der
persönlichen und wirthschaftlichen Freiheit bestanden hat, die ersten
beiden der Geschlechter- und Ständeordnung, das dritte der staatsbürger-
lichen Gesellschaft angehörig. Es ist eben so bekannt, daß gerade in
diesem Nebeneinander der ewig junge Keim der inneren und äußeren
Bewegungen und Gegensätze des Volkslebens gelegen ist, und daß diese
nur aus jenem zu verstehen sind.

Ist dem nun so, so ergibt sich von selbst, daß das Princip der
staatsbürgerlichen Gesellschaft die Aufgabe hatte, nicht etwa bloß zu
einer abstrakten Geltung zu gelangen, sondern seine Verwirklichung
vielmehr in der Aufhebung desjenigen geltenden Rechtssystemes für
Personen, Besitz und Arbeit zu suchen, die mit ihm im Widerspruche
standen. Die Aufgabe desselben lag daher zuerst und zunächst außer-
halb
der staatsbürgerlichen Gesellschaft selbst, das ist in dem weiten
und mächtigen Gebiete desjenigen Rechts, das auf der Herrschaft der
Geschlechter- und Ständeordnung beruhte; und erst nachdem dieses Ge-
biet dem neuen gesellschaftlichen Rechtsleben unterworfen, ward es
möglich, die Frage zu beantworten, ob und wie weit der Grundsatz
der Entwährung auch auf die staatsbürgerliche Gesellschaft selbst An-
wendung finden könne und solle. Auf diese Weise nun entsteht ein
Proceß der Rechtsbildung, vermöge dessen die Grundsätze der neuen
gesellschaftlichen Ordnung die ganze Rechtsbildung der frühern für

wenn man ſie einmal in ihrer inneren und äußeren Selbſtändigkeit
erkannt hat, ſo iſt es nicht wohl möglich, ſie weiter zu vermiſchen oder
zu verwechſeln. Allein in der wirklichen Geſchichte der germaniſchen
Völker- und Staatenbildung iſt dieſe Scheidung eben nicht vollzogen.
Hier tritt uns vielmehr eine andere, allerdings mit dem ganzen Weſen
der Geſellſchaft vollſtändig harmonirende Thatſache entgegen. Es iſt
die, daß ſich jene drei Ordnungen nicht ausſchließen, ſondern neben
und in einander fortbeſtehen können, und zwar ſo, daß ein Theil des
Volkslebens der einen, ein anderer Theil deſſelben der zweiten, ja ein
dritter Theil der dritten Ordnung angehört. In dieſem gleichzeitigen
Beſtehen, in dieſem ſich gegenſeitig Durchdringen liegt eben der Reich-
thum der germaniſchen Welt; ohne daſſelbe wäre ſie eben ſo innerlich
öde und geſchichtslos, wie die indiſche und chineſiſche. Es iſt aber ſehr
einfach, dieſen abſtrakten Satz durch bekannte Thatſachen zu beſtätigen.
Der erſte Blick auf die europäiſche Rechtsgeſchichte genügt, um ſich zu
überzeugen, daß das Rechtsſyſtem der unfreien Perſonen und das des
unfreien Beſitzes in Leibeigenen und unabhängigem Bauernſtand, das
Rechtsſyſtem der unfreien Arbeit in Zünften, Innungen und Vor-
rechten aller Art ſchon ſeit Jahrhunderten nicht bloß neben einander,
ſondern auch neben dem Princip und der theilweiſen Gültigkeit der
perſönlichen und wirthſchaftlichen Freiheit beſtanden hat, die erſten
beiden der Geſchlechter- und Ständeordnung, das dritte der ſtaatsbürger-
lichen Geſellſchaft angehörig. Es iſt eben ſo bekannt, daß gerade in
dieſem Nebeneinander der ewig junge Keim der inneren und äußeren
Bewegungen und Gegenſätze des Volkslebens gelegen iſt, und daß dieſe
nur aus jenem zu verſtehen ſind.

Iſt dem nun ſo, ſo ergibt ſich von ſelbſt, daß das Princip der
ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft die Aufgabe hatte, nicht etwa bloß zu
einer abſtrakten Geltung zu gelangen, ſondern ſeine Verwirklichung
vielmehr in der Aufhebung desjenigen geltenden Rechtsſyſtemes für
Perſonen, Beſitz und Arbeit zu ſuchen, die mit ihm im Widerſpruche
ſtanden. Die Aufgabe deſſelben lag daher zuerſt und zunächſt außer-
halb
der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft ſelbſt, das iſt in dem weiten
und mächtigen Gebiete desjenigen Rechts, das auf der Herrſchaft der
Geſchlechter- und Ständeordnung beruhte; und erſt nachdem dieſes Ge-
biet dem neuen geſellſchaftlichen Rechtsleben unterworfen, ward es
möglich, die Frage zu beantworten, ob und wie weit der Grundſatz
der Entwährung auch auf die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft ſelbſt An-
wendung finden könne und ſolle. Auf dieſe Weiſe nun entſteht ein
Proceß der Rechtsbildung, vermöge deſſen die Grundſätze der neuen
geſellſchaftlichen Ordnung die ganze Rechtsbildung der frühern für

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[78/0096] wenn man ſie einmal in ihrer inneren und äußeren Selbſtändigkeit erkannt hat, ſo iſt es nicht wohl möglich, ſie weiter zu vermiſchen oder zu verwechſeln. Allein in der wirklichen Geſchichte der germaniſchen Völker- und Staatenbildung iſt dieſe Scheidung eben nicht vollzogen. Hier tritt uns vielmehr eine andere, allerdings mit dem ganzen Weſen der Geſellſchaft vollſtändig harmonirende Thatſache entgegen. Es iſt die, daß ſich jene drei Ordnungen nicht ausſchließen, ſondern neben und in einander fortbeſtehen können, und zwar ſo, daß ein Theil des Volkslebens der einen, ein anderer Theil deſſelben der zweiten, ja ein dritter Theil der dritten Ordnung angehört. In dieſem gleichzeitigen Beſtehen, in dieſem ſich gegenſeitig Durchdringen liegt eben der Reich- thum der germaniſchen Welt; ohne daſſelbe wäre ſie eben ſo innerlich öde und geſchichtslos, wie die indiſche und chineſiſche. Es iſt aber ſehr einfach, dieſen abſtrakten Satz durch bekannte Thatſachen zu beſtätigen. Der erſte Blick auf die europäiſche Rechtsgeſchichte genügt, um ſich zu überzeugen, daß das Rechtsſyſtem der unfreien Perſonen und das des unfreien Beſitzes in Leibeigenen und unabhängigem Bauernſtand, das Rechtsſyſtem der unfreien Arbeit in Zünften, Innungen und Vor- rechten aller Art ſchon ſeit Jahrhunderten nicht bloß neben einander, ſondern auch neben dem Princip und der theilweiſen Gültigkeit der perſönlichen und wirthſchaftlichen Freiheit beſtanden hat, die erſten beiden der Geſchlechter- und Ständeordnung, das dritte der ſtaatsbürger- lichen Geſellſchaft angehörig. Es iſt eben ſo bekannt, daß gerade in dieſem Nebeneinander der ewig junge Keim der inneren und äußeren Bewegungen und Gegenſätze des Volkslebens gelegen iſt, und daß dieſe nur aus jenem zu verſtehen ſind. Iſt dem nun ſo, ſo ergibt ſich von ſelbſt, daß das Princip der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft die Aufgabe hatte, nicht etwa bloß zu einer abſtrakten Geltung zu gelangen, ſondern ſeine Verwirklichung vielmehr in der Aufhebung desjenigen geltenden Rechtsſyſtemes für Perſonen, Beſitz und Arbeit zu ſuchen, die mit ihm im Widerſpruche ſtanden. Die Aufgabe deſſelben lag daher zuerſt und zunächſt außer- halb der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft ſelbſt, das iſt in dem weiten und mächtigen Gebiete desjenigen Rechts, das auf der Herrſchaft der Geſchlechter- und Ständeordnung beruhte; und erſt nachdem dieſes Ge- biet dem neuen geſellſchaftlichen Rechtsleben unterworfen, ward es möglich, die Frage zu beantworten, ob und wie weit der Grundſatz der Entwährung auch auf die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft ſelbſt An- wendung finden könne und ſolle. Auf dieſe Weiſe nun entſteht ein Proceß der Rechtsbildung, vermöge deſſen die Grundſätze der neuen geſellſchaftlichen Ordnung die ganze Rechtsbildung der frühern für

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/96>, abgerufen am 28.04.2024.