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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868.

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auch noch ohne Gemeindeordnung ist. Aber das steht fest, daß die
Lehre vom Gemeindewesen eine wesentlich andere werden wird, so wie
man das Wesen der Entlastung und das von ihr erzeugte Staatsbürger-
thum im Auge behält.

Auf dieser Grundlage muß man nun die einzelnen Entlastungs-
gesetzgebungen Deutschlands seit 1848 vergleichen. Das Bild, das sich
hier zeigt, ist nicht das eines gewaltigen, alles vor sich niederwerfenden
Aufschwunges des Volksgeistes, sondern das einer langsamen, stück-
weise vorschreitenden Arbeit. Der ganze Charakter Deutschlands faßt
sich in dieser Arbeit seit 1848 zusammen. Das Princip selbst ward
von Deutschland als einem Ganzen ausgesprochen, die Ausführung
dagegen den einzelnen Theilen überlassen. Jenes ist daher einfach
und klar; diese ist zum großen Theil unfertig, vielfach unentschieden,
periodenweise vor sich vorgehend, in vielen wesentlichen Bestimmungen
nicht einmal gleichartig, wenn auch nirgends mit den obigen allge-
meinen Principien im Widerspruch. Der Gang dieser Entwicklung ist
folgender.

Die Verhältnisse, die wir oben dargelegt, machen es erklärlich,
daß es eine der ersten Aufgaben des deutschen Parlaments sein mußte,
die freien Grundsätze der vollen Entlastung und damit den endlichen
Sieg der staatsbürgerlichen Gesellschaft als ein Grundgesetz des deutschen
Reiches aufzustellen. So kam der betreffende Theil der Reichsverfassung
von 1849 zu Stande, der im Grunde nur die Principien der Racht
des 4. August 1789 wiederholt. Dieselbe bestimmt bekanntlich in §. 166
zuerst das Aufhören jedes Unterthänigkeitsverbandes, dann die Auf-
hebung aller Patrimonialgerichtsbarkeit, aller grundherrlichen Polizei
und der aus denselben fließenden Exemtionen und Abgaben, sowie
aller aus dem gutsherrlichen Verbande fließenden persönlichen Abgaben
und Leistungen, sowohl der Verpflichteten als der Berechtigten (§. 167)
und zwar aller dieser Lasten ohne Entschädigung. Dagegen sollen alle
Lasten von Grund und Boden, insbesondere die Zehnten, ablösbar
sein (§. 168). Die Jagdgerechtigkeit auf fremdem Grund und Boden,
wenn sie nicht nachweisbar auf einem Vertrage beruht, wird ohne,
die letztere mit Entschädigung aufgehoben (§. 169). Ebenso soll der
Lehenverband aufgehoben werden (§. 171). Endlich soll jedes
Grundstück einer Gemeinde gehören (§. 185). Das waren die Prin-
cipien der Reichsverfassung. Allein unmittelbar neben denselben steht
der Grundsatz, daß die Durchführung den einzelnen Staaten über-
lassen bleiben soll. Damit war denn das territoriale Recht und seine
Rechtsbildung wieder, gerade wie bisher, zur Hauptsache gemacht, und
die bedeutendste innere Frage jener ganzen durch und durch unklaren

auch noch ohne Gemeindeordnung iſt. Aber das ſteht feſt, daß die
Lehre vom Gemeindeweſen eine weſentlich andere werden wird, ſo wie
man das Weſen der Entlaſtung und das von ihr erzeugte Staatsbürger-
thum im Auge behält.

Auf dieſer Grundlage muß man nun die einzelnen Entlaſtungs-
geſetzgebungen Deutſchlands ſeit 1848 vergleichen. Das Bild, das ſich
hier zeigt, iſt nicht das eines gewaltigen, alles vor ſich niederwerfenden
Aufſchwunges des Volksgeiſtes, ſondern das einer langſamen, ſtück-
weiſe vorſchreitenden Arbeit. Der ganze Charakter Deutſchlands faßt
ſich in dieſer Arbeit ſeit 1848 zuſammen. Das Princip ſelbſt ward
von Deutſchland als einem Ganzen ausgeſprochen, die Ausführung
dagegen den einzelnen Theilen überlaſſen. Jenes iſt daher einfach
und klar; dieſe iſt zum großen Theil unfertig, vielfach unentſchieden,
periodenweiſe vor ſich vorgehend, in vielen weſentlichen Beſtimmungen
nicht einmal gleichartig, wenn auch nirgends mit den obigen allge-
meinen Principien im Widerſpruch. Der Gang dieſer Entwicklung iſt
folgender.

Die Verhältniſſe, die wir oben dargelegt, machen es erklärlich,
daß es eine der erſten Aufgaben des deutſchen Parlaments ſein mußte,
die freien Grundſätze der vollen Entlaſtung und damit den endlichen
Sieg der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft als ein Grundgeſetz des deutſchen
Reiches aufzuſtellen. So kam der betreffende Theil der Reichsverfaſſung
von 1849 zu Stande, der im Grunde nur die Principien der Racht
des 4. Auguſt 1789 wiederholt. Dieſelbe beſtimmt bekanntlich in §. 166
zuerſt das Aufhören jedes Unterthänigkeitsverbandes, dann die Auf-
hebung aller Patrimonialgerichtsbarkeit, aller grundherrlichen Polizei
und der aus denſelben fließenden Exemtionen und Abgaben, ſowie
aller aus dem gutsherrlichen Verbande fließenden perſönlichen Abgaben
und Leiſtungen, ſowohl der Verpflichteten als der Berechtigten (§. 167)
und zwar aller dieſer Laſten ohne Entſchädigung. Dagegen ſollen alle
Laſten von Grund und Boden, insbeſondere die Zehnten, ablösbar
ſein (§. 168). Die Jagdgerechtigkeit auf fremdem Grund und Boden,
wenn ſie nicht nachweisbar auf einem Vertrage beruht, wird ohne,
die letztere mit Entſchädigung aufgehoben (§. 169). Ebenſo ſoll der
Lehenverband aufgehoben werden (§. 171). Endlich ſoll jedes
Grundſtück einer Gemeinde gehören (§. 185). Das waren die Prin-
cipien der Reichsverfaſſung. Allein unmittelbar neben denſelben ſteht
der Grundſatz, daß die Durchführung den einzelnen Staaten über-
laſſen bleiben ſoll. Damit war denn das territoriale Recht und ſeine
Rechtsbildung wieder, gerade wie bisher, zur Hauptſache gemacht, und
die bedeutendſte innere Frage jener ganzen durch und durch unklaren

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[226/0244] auch noch ohne Gemeindeordnung iſt. Aber das ſteht feſt, daß die Lehre vom Gemeindeweſen eine weſentlich andere werden wird, ſo wie man das Weſen der Entlaſtung und das von ihr erzeugte Staatsbürger- thum im Auge behält. Auf dieſer Grundlage muß man nun die einzelnen Entlaſtungs- geſetzgebungen Deutſchlands ſeit 1848 vergleichen. Das Bild, das ſich hier zeigt, iſt nicht das eines gewaltigen, alles vor ſich niederwerfenden Aufſchwunges des Volksgeiſtes, ſondern das einer langſamen, ſtück- weiſe vorſchreitenden Arbeit. Der ganze Charakter Deutſchlands faßt ſich in dieſer Arbeit ſeit 1848 zuſammen. Das Princip ſelbſt ward von Deutſchland als einem Ganzen ausgeſprochen, die Ausführung dagegen den einzelnen Theilen überlaſſen. Jenes iſt daher einfach und klar; dieſe iſt zum großen Theil unfertig, vielfach unentſchieden, periodenweiſe vor ſich vorgehend, in vielen weſentlichen Beſtimmungen nicht einmal gleichartig, wenn auch nirgends mit den obigen allge- meinen Principien im Widerſpruch. Der Gang dieſer Entwicklung iſt folgender. Die Verhältniſſe, die wir oben dargelegt, machen es erklärlich, daß es eine der erſten Aufgaben des deutſchen Parlaments ſein mußte, die freien Grundſätze der vollen Entlaſtung und damit den endlichen Sieg der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft als ein Grundgeſetz des deutſchen Reiches aufzuſtellen. So kam der betreffende Theil der Reichsverfaſſung von 1849 zu Stande, der im Grunde nur die Principien der Racht des 4. Auguſt 1789 wiederholt. Dieſelbe beſtimmt bekanntlich in §. 166 zuerſt das Aufhören jedes Unterthänigkeitsverbandes, dann die Auf- hebung aller Patrimonialgerichtsbarkeit, aller grundherrlichen Polizei und der aus denſelben fließenden Exemtionen und Abgaben, ſowie aller aus dem gutsherrlichen Verbande fließenden perſönlichen Abgaben und Leiſtungen, ſowohl der Verpflichteten als der Berechtigten (§. 167) und zwar aller dieſer Laſten ohne Entſchädigung. Dagegen ſollen alle Laſten von Grund und Boden, insbeſondere die Zehnten, ablösbar ſein (§. 168). Die Jagdgerechtigkeit auf fremdem Grund und Boden, wenn ſie nicht nachweisbar auf einem Vertrage beruht, wird ohne, die letztere mit Entſchädigung aufgehoben (§. 169). Ebenſo ſoll der Lehenverband aufgehoben werden (§. 171). Endlich ſoll jedes Grundſtück einer Gemeinde gehören (§. 185). Das waren die Prin- cipien der Reichsverfaſſung. Allein unmittelbar neben denſelben ſteht der Grundſatz, daß die Durchführung den einzelnen Staaten über- laſſen bleiben ſoll. Damit war denn das territoriale Recht und ſeine Rechtsbildung wieder, gerade wie bisher, zur Hauptſache gemacht, und die bedeutendſte innere Frage jener ganzen durch und durch unklaren

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/244>, abgerufen am 02.05.2024.