in Preußen, Oesterreich und andern Ländern wirklich aufgehobenen Lasten der alten Leibeigenschaft erklären, und dafür keinen ernstlichen Widerspruch finden kann, würde die Seinsheim, Adam Müller und Moy sehr gefreut haben. -- Alle aber kommen in ihren Untersuchungen nicht auf das, was denn doch der eigentliche Kern der Sache war, die Patrimonialjurisdiktion. Diese, die denn doch am Ende die öffentlich rechtliche Organisirung der Unfreiheit der Ge- schlechterordnung ist, ist während des ganzen 19. Jahrhunderts so gut als gar nicht auch nur berührt, geschweige denn von der Lite- ratur ernstlich bekämpft. Es ist eine der auffallendsten Erscheinungen in der letzteren, daß bei der gründlichen Untersuchung über die recht- liche und historische Stellung der Bauern diejenige über die Gutsherr- lichkeit als solche fast gänzlich fehlt, selbst bei Mittermaier, der doch noch der einzige ist, der sich ernstlich damit beschäftigt (Deutsches Privatrecht I. §. 88.) Und das lag wohl einem großen Theil nach daran, daß man noch nicht erkannt hatte -- erkennt man es denn jetzt schon ganz? -- wie der Begriff und das Recht der Grundherrlich- keit es eigentlich war, welche die Einführung der Gemeindeverfassung namentlich auf dem Lande hindere. Wir kommen darauf unten zurück. Das Gesammtergebniß dieser Bewegung ist, daß diese rechtsphilo- sophische und historische Richtung der Wissenschaft nicht im Stande war, für die Entwicklung der freieren Gestaltung die Initiative abzu- geben; man war über den Standpunkt Justi's nicht nur nicht hin- ausgekommen, sondern man hatte ihn im Großen und Ganzen nicht einmal erreicht. Jedenfalls aber stand als Princip fest, daß wenn eine Aenderung geschehen solle, dieselbe nur gegen Entschädigung der Berechtigten stattfinden könne, da sie "ein Eingreifen in das Privatrecht sei und nur gerechtfertigt werde durch das allgemeine höhere Interesse" (Mohl, Polizeiwissenschaft II. §. 133) -- ein Satz, den man fünfzig Jahre früher eben so gut gekannt hatte. Die ganze Frage nach der Grundentlastung war im 19. Jahrhundert für die theo- retische Staatswissenschaft theils in die strenge Unterscheidung der Arten und Entstehungsgründe derselben aufgelöst, theils aber (wie bei Mohl) zu einer reinen Frage nach dem Recht und Wesen der Expropriation geworden, und der Schwerpunkt derselben lag nicht mehr in dem Justi'schen Unwillen über die "unwürdige Verfassung" des Bauernstandes, sondern in dem Mohl'schen Beweis des "Allgemeinen Interesses" an der Entlastung. Und dieß ist nun der Punkt, wo ein neues Element in dieselbe hineintritt, der, an das "Allgemeine In- teresse" anknüpfend, von entscheidender Bedeutung geworden ist.
Dieß Moment war die Entstehung der rationellen Landwirthschaft
in Preußen, Oeſterreich und andern Ländern wirklich aufgehobenen Laſten der alten Leibeigenſchaft erklären, und dafür keinen ernſtlichen Widerſpruch finden kann, würde die Seinsheim, Adam Müller und Moy ſehr gefreut haben. — Alle aber kommen in ihren Unterſuchungen nicht auf das, was denn doch der eigentliche Kern der Sache war, die Patrimonialjurisdiktion. Dieſe, die denn doch am Ende die öffentlich rechtliche Organiſirung der Unfreiheit der Ge- ſchlechterordnung iſt, iſt während des ganzen 19. Jahrhunderts ſo gut als gar nicht auch nur berührt, geſchweige denn von der Lite- ratur ernſtlich bekämpft. Es iſt eine der auffallendſten Erſcheinungen in der letzteren, daß bei der gründlichen Unterſuchung über die recht- liche und hiſtoriſche Stellung der Bauern diejenige über die Gutsherr- lichkeit als ſolche faſt gänzlich fehlt, ſelbſt bei Mittermaier, der doch noch der einzige iſt, der ſich ernſtlich damit beſchäftigt (Deutſches Privatrecht I. §. 88.) Und das lag wohl einem großen Theil nach daran, daß man noch nicht erkannt hatte — erkennt man es denn jetzt ſchon ganz? — wie der Begriff und das Recht der Grundherrlich- keit es eigentlich war, welche die Einführung der Gemeindeverfaſſung namentlich auf dem Lande hindere. Wir kommen darauf unten zurück. Das Geſammtergebniß dieſer Bewegung iſt, daß dieſe rechtsphilo- ſophiſche und hiſtoriſche Richtung der Wiſſenſchaft nicht im Stande war, für die Entwicklung der freieren Geſtaltung die Initiative abzu- geben; man war über den Standpunkt Juſti’s nicht nur nicht hin- ausgekommen, ſondern man hatte ihn im Großen und Ganzen nicht einmal erreicht. Jedenfalls aber ſtand als Princip feſt, daß wenn eine Aenderung geſchehen ſolle, dieſelbe nur gegen Entſchädigung der Berechtigten ſtattfinden könne, da ſie „ein Eingreifen in das Privatrecht ſei und nur gerechtfertigt werde durch das allgemeine höhere Intereſſe“ (Mohl, Polizeiwiſſenſchaft II. §. 133) — ein Satz, den man fünfzig Jahre früher eben ſo gut gekannt hatte. Die ganze Frage nach der Grundentlaſtung war im 19. Jahrhundert für die theo- retiſche Staatswiſſenſchaft theils in die ſtrenge Unterſcheidung der Arten und Entſtehungsgründe derſelben aufgelöst, theils aber (wie bei Mohl) zu einer reinen Frage nach dem Recht und Weſen der Expropriation geworden, und der Schwerpunkt derſelben lag nicht mehr in dem Juſti’ſchen Unwillen über die „unwürdige Verfaſſung“ des Bauernſtandes, ſondern in dem Mohl’ſchen Beweis des „Allgemeinen Intereſſes“ an der Entlaſtung. Und dieß iſt nun der Punkt, wo ein neues Element in dieſelbe hineintritt, der, an das „Allgemeine In- tereſſe“ anknüpfend, von entſcheidender Bedeutung geworden iſt.
Dieß Moment war die Entſtehung der rationellen Landwirthſchaft
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[187/0205]
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Moy ſehr gefreut haben. — Alle aber kommen in ihren Unterſuchungen
nicht auf das, was denn doch der eigentliche Kern der Sache war, die
Patrimonialjurisdiktion. Dieſe, die denn doch am Ende die
öffentlich rechtliche Organiſirung der Unfreiheit der Ge-
ſchlechterordnung iſt, iſt während des ganzen 19. Jahrhunderts
ſo gut als gar nicht auch nur berührt, geſchweige denn von der Lite-
ratur ernſtlich bekämpft. Es iſt eine der auffallendſten Erſcheinungen
in der letzteren, daß bei der gründlichen Unterſuchung über die recht-
liche und hiſtoriſche Stellung der Bauern diejenige über die Gutsherr-
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noch der einzige iſt, der ſich ernſtlich damit beſchäftigt (Deutſches
Privatrecht I. §. 88.) Und das lag wohl einem großen Theil nach
daran, daß man noch nicht erkannt hatte — erkennt man es denn
jetzt ſchon ganz? — wie der Begriff und das Recht der Grundherrlich-
keit es eigentlich war, welche die Einführung der Gemeindeverfaſſung
namentlich auf dem Lande hindere. Wir kommen darauf unten zurück.
Das Geſammtergebniß dieſer Bewegung iſt, daß dieſe rechtsphilo-
ſophiſche und hiſtoriſche Richtung der Wiſſenſchaft nicht im Stande
war, für die Entwicklung der freieren Geſtaltung die Initiative abzu-
geben; man war über den Standpunkt Juſti’s nicht nur nicht hin-
ausgekommen, ſondern man hatte ihn im Großen und Ganzen nicht
einmal erreicht. Jedenfalls aber ſtand als Princip feſt, daß wenn
eine Aenderung geſchehen ſolle, dieſelbe nur gegen Entſchädigung
der Berechtigten ſtattfinden könne, da ſie „ein Eingreifen in das
Privatrecht ſei und nur gerechtfertigt werde durch das allgemeine
höhere Intereſſe“ (Mohl, Polizeiwiſſenſchaft II. §. 133) — ein Satz,
den man fünfzig Jahre früher eben ſo gut gekannt hatte. Die ganze
Frage nach der Grundentlaſtung war im 19. Jahrhundert für die theo-
retiſche Staatswiſſenſchaft theils in die ſtrenge Unterſcheidung der
Arten und Entſtehungsgründe derſelben aufgelöst, theils aber
(wie bei Mohl) zu einer reinen Frage nach dem Recht und Weſen der
Expropriation geworden, und der Schwerpunkt derſelben lag nicht mehr
in dem Juſti’ſchen Unwillen über die „unwürdige Verfaſſung“ des
Bauernſtandes, ſondern in dem Mohl’ſchen Beweis des „Allgemeinen
Intereſſes“ an der Entlaſtung. Und dieß iſt nun der Punkt, wo ein
neues Element in dieſelbe hineintritt, der, an das „Allgemeine In-
tereſſe“ anknüpfend, von entſcheidender Bedeutung geworden iſt.
Dieß Moment war die Entſtehung der rationellen Landwirthſchaft
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/205>, abgerufen am 02.05.2024.
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