Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

ordnung in der Mitte dieses langsamen, aber sichern Bildungsprocesses
seiner innern Freiheit haben konnte; der Charakter des Gemeinderechts und
seiner Bildung hängt im Gegentheil eng mit dem Grundsatz zusammen, daß
die Bauern, denen kein Herr etwas rechtlich schuldig war, nunmehr auch
selbst ihre eigenen Lasten für jede von der Gesetzgebung der Gemeinde auf-
erlegte Pflicht selbst vertheilen und tragen mußten. Daher denn kommt es,
daß die Gemeinden sich in England nicht örtlich wie auf dem Continent
auf dem Gebiete des Grundherrn bilden, sondern vielmehr an den
Aufgaben der inneren Verwaltung
entstehen. Jedesmal wenn
eine solche Aufgabe bestimmt auftritt und feste Gestalt annimmt, bildet
sich die Gemeinde selbst zu dem, diese Aufgaben auf Grundlage eigener
Steuern vollziehenden Selbstverwaltungskörper, der ursprünglich die
Kirchengemeinde zum Grunde liegt, und an welche sich dann die Straßen-
und Wege-, die Schul- und namentlich die Armengemeinde anschließen.
England ist daher das Vaterland der Verwaltungsgemeinde, wie es
das der Selbstverwaltung der Landgemeinde ist; und die Grundlage
dieser großen Thatsache ist die Freiheit des Grundbesitzes. Andrerseits
aber entwickelt sich eben deßhalb dieß Gemeindewesen auch nicht plötz-
lich, sondern gleichsam stückweise, nicht durch Gesetze, sondern durch
seine Aufgaben und durch seine Steuern, und es wird jetzt klar sein,
daß es weder einer besondern Anstrengung noch der mit dem neun-
zehnten Jahrhundert begonnenen Ablösungen bedurfte, um die Selbst-
verwaltung des "alten Englands" und seine bäuerlichen Verhältnisse
zum Muster für das übrige Europa zu machen.

Und jetzt wird es leicht sein, die dritte und letzte Epoche in Eng-
lands Agrarverfassung zu charakterisiren.

Dritte Epoche.
Die Grundentlastung. 6. 7. Will. IV. 71. 4. 5. Vict. 35. 9. 10. Vict. 73.

Blickt man nun auf die frühere Darstellung zurück, so ergibt sich
als Grundlage der Aufgaben unsers Jahrhunderts in England folgendes.

Allerdings gibt es nämlich in England keine Grundherrlichkeit.
Wohl aber bleiben aus der eben dargestellten Epoche zwei Formen der
Grundlasten übrig, die eine der Rest der Geschlechterordnung, die an-
dere die der ständischen Ordnung. Die erste dieser Formen ist die Ge-
sammtheit aller der Dienstbarkeiten, welche als mit dem Grund und
Boden verbunden, noch auf dem copyhold ruhen. Dieselben werden
gebildet durch die Summe der Verpflichtungen, welche die alte custom
oder der ausdrückliche will des Lord of the manor dem alten Ueber-
nehmer des villenagium, gleichviel ob es persönlich frei oder villein

ordnung in der Mitte dieſes langſamen, aber ſichern Bildungsproceſſes
ſeiner innern Freiheit haben konnte; der Charakter des Gemeinderechts und
ſeiner Bildung hängt im Gegentheil eng mit dem Grundſatz zuſammen, daß
die Bauern, denen kein Herr etwas rechtlich ſchuldig war, nunmehr auch
ſelbſt ihre eigenen Laſten für jede von der Geſetzgebung der Gemeinde auf-
erlegte Pflicht ſelbſt vertheilen und tragen mußten. Daher denn kommt es,
daß die Gemeinden ſich in England nicht örtlich wie auf dem Continent
auf dem Gebiete des Grundherrn bilden, ſondern vielmehr an den
Aufgaben der inneren Verwaltung
entſtehen. Jedesmal wenn
eine ſolche Aufgabe beſtimmt auftritt und feſte Geſtalt annimmt, bildet
ſich die Gemeinde ſelbſt zu dem, dieſe Aufgaben auf Grundlage eigener
Steuern vollziehenden Selbſtverwaltungskörper, der urſprünglich die
Kirchengemeinde zum Grunde liegt, und an welche ſich dann die Straßen-
und Wege-, die Schul- und namentlich die Armengemeinde anſchließen.
England iſt daher das Vaterland der Verwaltungsgemeinde, wie es
das der Selbſtverwaltung der Landgemeinde iſt; und die Grundlage
dieſer großen Thatſache iſt die Freiheit des Grundbeſitzes. Andrerſeits
aber entwickelt ſich eben deßhalb dieß Gemeindeweſen auch nicht plötz-
lich, ſondern gleichſam ſtückweiſe, nicht durch Geſetze, ſondern durch
ſeine Aufgaben und durch ſeine Steuern, und es wird jetzt klar ſein,
daß es weder einer beſondern Anſtrengung noch der mit dem neun-
zehnten Jahrhundert begonnenen Ablöſungen bedurfte, um die Selbſt-
verwaltung des „alten Englands“ und ſeine bäuerlichen Verhältniſſe
zum Muſter für das übrige Europa zu machen.

Und jetzt wird es leicht ſein, die dritte und letzte Epoche in Eng-
lands Agrarverfaſſung zu charakteriſiren.

Dritte Epoche.
Die Grundentlaſtung. 6. 7. Will. IV. 71. 4. 5. Vict. 35. 9. 10. Vict. 73.

Blickt man nun auf die frühere Darſtellung zurück, ſo ergibt ſich
als Grundlage der Aufgaben unſers Jahrhunderts in England folgendes.

Allerdings gibt es nämlich in England keine Grundherrlichkeit.
Wohl aber bleiben aus der eben dargeſtellten Epoche zwei Formen der
Grundlaſten übrig, die eine der Reſt der Geſchlechterordnung, die an-
dere die der ſtändiſchen Ordnung. Die erſte dieſer Formen iſt die Ge-
ſammtheit aller der Dienſtbarkeiten, welche als mit dem Grund und
Boden verbunden, noch auf dem copyhold ruhen. Dieſelben werden
gebildet durch die Summe der Verpflichtungen, welche die alte custom
oder der ausdrückliche will des Lord of the manor dem alten Ueber-
nehmer des villenagium, gleichviel ob es perſönlich frei oder villein

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p><pb facs="#f0152" n="134"/>
ordnung in der Mitte die&#x017F;es lang&#x017F;amen, aber &#x017F;ichern Bildungsproce&#x017F;&#x017F;es<lb/>
&#x017F;einer innern Freiheit haben konnte; der Charakter des Gemeinderechts und<lb/>
&#x017F;einer Bildung hängt im Gegentheil eng mit dem Grund&#x017F;atz zu&#x017F;ammen, daß<lb/>
die Bauern, denen kein Herr etwas rechtlich &#x017F;chuldig war, nunmehr auch<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t ihre eigenen La&#x017F;ten für jede von der Ge&#x017F;etzgebung der Gemeinde auf-<lb/>
erlegte Pflicht &#x017F;elb&#x017F;t vertheilen und tragen mußten. Daher denn kommt es,<lb/>
daß die Gemeinden &#x017F;ich in England nicht örtlich wie auf dem Continent<lb/>
auf dem Gebiete des Grundherrn bilden, &#x017F;ondern vielmehr an <hi rendition="#g">den<lb/>
Aufgaben der inneren Verwaltung</hi> ent&#x017F;tehen. Jedesmal wenn<lb/>
eine &#x017F;olche Aufgabe be&#x017F;timmt auftritt und fe&#x017F;te Ge&#x017F;talt annimmt, bildet<lb/>
&#x017F;ich die Gemeinde &#x017F;elb&#x017F;t zu dem, die&#x017F;e Aufgaben auf Grundlage eigener<lb/>
Steuern vollziehenden Selb&#x017F;tverwaltungskörper, der ur&#x017F;prünglich die<lb/>
Kirchengemeinde zum Grunde liegt, und an welche &#x017F;ich dann die Straßen-<lb/>
und Wege-, die Schul- und namentlich die Armengemeinde an&#x017F;chließen.<lb/>
England i&#x017F;t daher das Vaterland der Verwaltungsgemeinde, wie es<lb/>
das der Selb&#x017F;tverwaltung der Landgemeinde i&#x017F;t; und die Grundlage<lb/>
die&#x017F;er großen That&#x017F;ache i&#x017F;t die Freiheit des Grundbe&#x017F;itzes. Andrer&#x017F;eits<lb/>
aber entwickelt &#x017F;ich eben deßhalb dieß Gemeindewe&#x017F;en auch nicht plötz-<lb/>
lich, &#x017F;ondern gleich&#x017F;am &#x017F;tückwei&#x017F;e, nicht durch Ge&#x017F;etze, &#x017F;ondern durch<lb/>
&#x017F;eine Aufgaben und durch &#x017F;eine Steuern, und es wird jetzt klar &#x017F;ein,<lb/>
daß es weder einer be&#x017F;ondern An&#x017F;trengung noch der mit dem neun-<lb/>
zehnten Jahrhundert begonnenen Ablö&#x017F;ungen bedurfte, um die Selb&#x017F;t-<lb/>
verwaltung des &#x201E;alten Englands&#x201C; und &#x017F;eine bäuerlichen Verhältni&#x017F;&#x017F;e<lb/>
zum Mu&#x017F;ter für das übrige Europa zu machen.</p><lb/>
                  <p>Und jetzt wird es leicht &#x017F;ein, die dritte und letzte Epoche in Eng-<lb/>
lands Agrarverfa&#x017F;&#x017F;ung zu charakteri&#x017F;iren.</p>
                </div><lb/>
                <div n="6">
                  <head><hi rendition="#b">Dritte Epoche.</hi><lb/>
Die Grundentla&#x017F;tung. 6. 7. <hi rendition="#aq">Will. IV. 71. 4. 5. Vict. 35. 9. 10. Vict.</hi> 73.</head><lb/>
                  <p>Blickt man nun auf die frühere Dar&#x017F;tellung zurück, &#x017F;o ergibt &#x017F;ich<lb/>
als Grundlage der Aufgaben un&#x017F;ers Jahrhunderts in England folgendes.</p><lb/>
                  <p>Allerdings gibt es nämlich in England keine Grundherrlichkeit.<lb/>
Wohl aber bleiben aus der eben darge&#x017F;tellten Epoche <hi rendition="#g">zwei</hi> Formen der<lb/>
Grundla&#x017F;ten übrig, die eine der Re&#x017F;t der Ge&#x017F;chlechterordnung, die an-<lb/>
dere die der &#x017F;tändi&#x017F;chen Ordnung. Die er&#x017F;te die&#x017F;er Formen i&#x017F;t die Ge-<lb/>
&#x017F;ammtheit aller der Dien&#x017F;tbarkeiten, welche als mit dem Grund und<lb/>
Boden verbunden, noch auf dem <hi rendition="#aq">copyhold</hi> ruhen. Die&#x017F;elben werden<lb/>
gebildet durch die Summe der Verpflichtungen, welche die alte <hi rendition="#aq">custom</hi><lb/>
oder der ausdrückliche <hi rendition="#aq">will</hi> des <hi rendition="#aq">Lord of the manor</hi> dem alten Ueber-<lb/>
nehmer des <hi rendition="#aq">villenagium,</hi> gleichviel ob es per&#x017F;önlich frei oder <hi rendition="#aq">villein</hi><lb/></p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[134/0152] ordnung in der Mitte dieſes langſamen, aber ſichern Bildungsproceſſes ſeiner innern Freiheit haben konnte; der Charakter des Gemeinderechts und ſeiner Bildung hängt im Gegentheil eng mit dem Grundſatz zuſammen, daß die Bauern, denen kein Herr etwas rechtlich ſchuldig war, nunmehr auch ſelbſt ihre eigenen Laſten für jede von der Geſetzgebung der Gemeinde auf- erlegte Pflicht ſelbſt vertheilen und tragen mußten. Daher denn kommt es, daß die Gemeinden ſich in England nicht örtlich wie auf dem Continent auf dem Gebiete des Grundherrn bilden, ſondern vielmehr an den Aufgaben der inneren Verwaltung entſtehen. Jedesmal wenn eine ſolche Aufgabe beſtimmt auftritt und feſte Geſtalt annimmt, bildet ſich die Gemeinde ſelbſt zu dem, dieſe Aufgaben auf Grundlage eigener Steuern vollziehenden Selbſtverwaltungskörper, der urſprünglich die Kirchengemeinde zum Grunde liegt, und an welche ſich dann die Straßen- und Wege-, die Schul- und namentlich die Armengemeinde anſchließen. England iſt daher das Vaterland der Verwaltungsgemeinde, wie es das der Selbſtverwaltung der Landgemeinde iſt; und die Grundlage dieſer großen Thatſache iſt die Freiheit des Grundbeſitzes. Andrerſeits aber entwickelt ſich eben deßhalb dieß Gemeindeweſen auch nicht plötz- lich, ſondern gleichſam ſtückweiſe, nicht durch Geſetze, ſondern durch ſeine Aufgaben und durch ſeine Steuern, und es wird jetzt klar ſein, daß es weder einer beſondern Anſtrengung noch der mit dem neun- zehnten Jahrhundert begonnenen Ablöſungen bedurfte, um die Selbſt- verwaltung des „alten Englands“ und ſeine bäuerlichen Verhältniſſe zum Muſter für das übrige Europa zu machen. Und jetzt wird es leicht ſein, die dritte und letzte Epoche in Eng- lands Agrarverfaſſung zu charakteriſiren. Dritte Epoche. Die Grundentlaſtung. 6. 7. Will. IV. 71. 4. 5. Vict. 35. 9. 10. Vict. 73. Blickt man nun auf die frühere Darſtellung zurück, ſo ergibt ſich als Grundlage der Aufgaben unſers Jahrhunderts in England folgendes. Allerdings gibt es nämlich in England keine Grundherrlichkeit. Wohl aber bleiben aus der eben dargeſtellten Epoche zwei Formen der Grundlaſten übrig, die eine der Reſt der Geſchlechterordnung, die an- dere die der ſtändiſchen Ordnung. Die erſte dieſer Formen iſt die Ge- ſammtheit aller der Dienſtbarkeiten, welche als mit dem Grund und Boden verbunden, noch auf dem copyhold ruhen. Dieſelben werden gebildet durch die Summe der Verpflichtungen, welche die alte custom oder der ausdrückliche will des Lord of the manor dem alten Ueber- nehmer des villenagium, gleichviel ob es perſönlich frei oder villein

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/152
Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/152>, abgerufen am 18.12.2024.