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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868.

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Holland. Vielleicht in keinem Theile des öffentlichen Rechts ist
der tiefe Unterschied zwischen Belgien und Holland so greifbar und
zugleich historisch einschneidend, als im Bildungswesen. Holland ist
auch in dieser Beziehung viel zu wenig bekannt. Nur die Franzosen
haben die Bedeutung desselben zu würdigen verstanden und Cousins
Werk: De l'Instruction publique en Hollaude (1836--37, 2 Bde.) muß
noch immer als die beste publicistische Arbeit über das frühere Recht
außerhalb Hollands angesehen werden. Die Holländer selbst haben
eine sehr tüchtige und reiche Literatur über ihr Bildungswesen (s. le Roy
bei Schmid Encykl. voc. Holland Bd. III. S. 558). Die Deutschen
besitzen merkwürdiger Weise gar keine Arbeit darüber, mit Ausnahme
des erwähnten kleinen Aufsatzes von le Roy, der übrigens die ganze
Frage sehr einseitig auffaßt. Brachelli hat jedoch in seinen Staaten
Europas
S. 557 und 565 eine sehr werthvolle Statistik der Zustände auch
des holländischen Bildungswesens gegeben. De Bosch-Kemper (Nederl.
Staatsregt
1866) ist leider sehr karg (§. 32). Die Grundverhältnisse des
holländischen Bildungswesens, das namentlich im Gebiete der wirthschaft-
lichen Berufsbildung von sehr großem Interesse ist, sind folgende.

Das holländische Bildungswesen war bis zum Anfang unseres
Jahrhunderts dem deutschen in allen formellen und unwesentlichen
Punkten gleichartig; es zeichnete sich aber namentlich durch eine bei-
nahe vollständige Unabhängigkeit der örtlichen Schulverwaltung von
der Staatsverwaltung aus. Die französische Eroberung brachte in diese
Zerfahrenheit dieselbe gewaltsame Einheit hinein, welche Frankreich aus-
zeichnet; jedoch beschränkte sich die Epoche der französisch-holländischen
Gesetzgebung wesentlich auf das Volksschulwesen. Ihr Hauptwerk war
das Gesetz vom 3. April 1816, das jedoch von der französischen Gesetz-
gebung über die Instruction primaire sich durch die in Holland
unverwüstliche Selbständigkeit der Gemeinden und ihres Antheils am
Volksschulwesen wesentlich unterscheidet, und doch durch seine formelle
Verwandtschaft mit der französischen Gesetzgebung einen sehr großen,
wenn auch wenig beachteten Einfluß auf das französische Gesetz von
1833 hatte (s. unten). Die "lateinischen Schulen" und Universitäten
blieben unberührt. Aus dieser Epoche nun blieb der holländischen Re-
gierung das Streben, ihre Gewalt über das Unterrichtswesen möglichst
beizubehalten. Dagegen kämpften die Gemeinden und Lehrkörper. In
der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts siegte die erstere. Den Aus-
druck dieses Sieges gab der Artikel 224 der Verfassung von 1817.
"Der öffentliche Unterricht ist eine beständige Angelegenheit (voorwerp)
der Regierungsthätigkeit (van de zorg der Regering). Der König
gibt jährlich über die Verwaltung und den Zustand (van den staat)

Holland. Vielleicht in keinem Theile des öffentlichen Rechts iſt
der tiefe Unterſchied zwiſchen Belgien und Holland ſo greifbar und
zugleich hiſtoriſch einſchneidend, als im Bildungsweſen. Holland iſt
auch in dieſer Beziehung viel zu wenig bekannt. Nur die Franzoſen
haben die Bedeutung deſſelben zu würdigen verſtanden und Couſins
Werk: De l’Instruction publique en Hollaude (1836—37, 2 Bde.) muß
noch immer als die beſte publiciſtiſche Arbeit über das frühere Recht
außerhalb Hollands angeſehen werden. Die Holländer ſelbſt haben
eine ſehr tüchtige und reiche Literatur über ihr Bildungsweſen (ſ. le Roy
bei Schmid Encykl. voc. Holland Bd. III. S. 558). Die Deutſchen
beſitzen merkwürdiger Weiſe gar keine Arbeit darüber, mit Ausnahme
des erwähnten kleinen Aufſatzes von le Roy, der übrigens die ganze
Frage ſehr einſeitig auffaßt. Brachelli hat jedoch in ſeinen Staaten
Europas
S. 557 und 565 eine ſehr werthvolle Statiſtik der Zuſtände auch
des holländiſchen Bildungsweſens gegeben. De Boſch-Kemper (Nederl.
Staatsregt
1866) iſt leider ſehr karg (§. 32). Die Grundverhältniſſe des
holländiſchen Bildungsweſens, das namentlich im Gebiete der wirthſchaft-
lichen Berufsbildung von ſehr großem Intereſſe iſt, ſind folgende.

Das holländiſche Bildungsweſen war bis zum Anfang unſeres
Jahrhunderts dem deutſchen in allen formellen und unweſentlichen
Punkten gleichartig; es zeichnete ſich aber namentlich durch eine bei-
nahe vollſtändige Unabhängigkeit der örtlichen Schulverwaltung von
der Staatsverwaltung aus. Die franzöſiſche Eroberung brachte in dieſe
Zerfahrenheit dieſelbe gewaltſame Einheit hinein, welche Frankreich aus-
zeichnet; jedoch beſchränkte ſich die Epoche der franzöſiſch-holländiſchen
Geſetzgebung weſentlich auf das Volksſchulweſen. Ihr Hauptwerk war
das Geſetz vom 3. April 1816, das jedoch von der franzöſiſchen Geſetz-
gebung über die Instruction primaire ſich durch die in Holland
unverwüſtliche Selbſtändigkeit der Gemeinden und ihres Antheils am
Volksſchulweſen weſentlich unterſcheidet, und doch durch ſeine formelle
Verwandtſchaft mit der franzöſiſchen Geſetzgebung einen ſehr großen,
wenn auch wenig beachteten Einfluß auf das franzöſiſche Geſetz von
1833 hatte (ſ. unten). Die „lateiniſchen Schulen“ und Univerſitäten
blieben unberührt. Aus dieſer Epoche nun blieb der holländiſchen Re-
gierung das Streben, ihre Gewalt über das Unterrichtsweſen möglichſt
beizubehalten. Dagegen kämpften die Gemeinden und Lehrkörper. In
der erſten Hälfte unſeres Jahrhunderts ſiegte die erſtere. Den Aus-
druck dieſes Sieges gab der Artikel 224 der Verfaſſung von 1817.
„Der öffentliche Unterricht iſt eine beſtändige Angelegenheit (voorwerp)
der Regierungsthätigkeit (van de zorg der Regering). Der König
gibt jährlich über die Verwaltung und den Zuſtand (van den staat)

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[55/0083] Holland. Vielleicht in keinem Theile des öffentlichen Rechts iſt der tiefe Unterſchied zwiſchen Belgien und Holland ſo greifbar und zugleich hiſtoriſch einſchneidend, als im Bildungsweſen. Holland iſt auch in dieſer Beziehung viel zu wenig bekannt. Nur die Franzoſen haben die Bedeutung deſſelben zu würdigen verſtanden und Couſins Werk: De l’Instruction publique en Hollaude (1836—37, 2 Bde.) muß noch immer als die beſte publiciſtiſche Arbeit über das frühere Recht außerhalb Hollands angeſehen werden. Die Holländer ſelbſt haben eine ſehr tüchtige und reiche Literatur über ihr Bildungsweſen (ſ. le Roy bei Schmid Encykl. voc. Holland Bd. III. S. 558). Die Deutſchen beſitzen merkwürdiger Weiſe gar keine Arbeit darüber, mit Ausnahme des erwähnten kleinen Aufſatzes von le Roy, der übrigens die ganze Frage ſehr einſeitig auffaßt. Brachelli hat jedoch in ſeinen Staaten Europas S. 557 und 565 eine ſehr werthvolle Statiſtik der Zuſtände auch des holländiſchen Bildungsweſens gegeben. De Boſch-Kemper (Nederl. Staatsregt 1866) iſt leider ſehr karg (§. 32). Die Grundverhältniſſe des holländiſchen Bildungsweſens, das namentlich im Gebiete der wirthſchaft- lichen Berufsbildung von ſehr großem Intereſſe iſt, ſind folgende. Das holländiſche Bildungsweſen war bis zum Anfang unſeres Jahrhunderts dem deutſchen in allen formellen und unweſentlichen Punkten gleichartig; es zeichnete ſich aber namentlich durch eine bei- nahe vollſtändige Unabhängigkeit der örtlichen Schulverwaltung von der Staatsverwaltung aus. Die franzöſiſche Eroberung brachte in dieſe Zerfahrenheit dieſelbe gewaltſame Einheit hinein, welche Frankreich aus- zeichnet; jedoch beſchränkte ſich die Epoche der franzöſiſch-holländiſchen Geſetzgebung weſentlich auf das Volksſchulweſen. Ihr Hauptwerk war das Geſetz vom 3. April 1816, das jedoch von der franzöſiſchen Geſetz- gebung über die Instruction primaire ſich durch die in Holland unverwüſtliche Selbſtändigkeit der Gemeinden und ihres Antheils am Volksſchulweſen weſentlich unterſcheidet, und doch durch ſeine formelle Verwandtſchaft mit der franzöſiſchen Geſetzgebung einen ſehr großen, wenn auch wenig beachteten Einfluß auf das franzöſiſche Geſetz von 1833 hatte (ſ. unten). Die „lateiniſchen Schulen“ und Univerſitäten blieben unberührt. Aus dieſer Epoche nun blieb der holländiſchen Re- gierung das Streben, ihre Gewalt über das Unterrichtsweſen möglichſt beizubehalten. Dagegen kämpften die Gemeinden und Lehrkörper. In der erſten Hälfte unſeres Jahrhunderts ſiegte die erſtere. Den Aus- druck dieſes Sieges gab der Artikel 224 der Verfaſſung von 1817. „Der öffentliche Unterricht iſt eine beſtändige Angelegenheit (voorwerp) der Regierungsthätigkeit (van de zorg der Regering). Der König gibt jährlich über die Verwaltung und den Zuſtand (van den staat)

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre05_1868/83>, abgerufen am 24.11.2024.