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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868.

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an, wo Deutschland vor hundert Jahren stand. Die Organisirung seines
Bildungswesens beginnt mit der selbständigen Entwicklung des Volks-
schulwesens
als Aufgabe der Verwaltung; wenn diese feststeht, wird
die verwaltungslose und mittelalterliche Körperschaft seiner Universitäten
allmählig sich im Sinne des übrigen Europa's ändern, und der ent-
scheidende Grundsatz einer fertigen Vorbildung für die höhere Berufs-
bildung eintreten; die allgemeine Bildung wird sich dann von den
beschränkten religiösen Vorurtheilen frei machen, und England kann
das Land werden, welches das Princip der freien individuellen Persön-
lichkeit in großartigster Form im öffentlichen Bildungswesen durchführt.

Bis dahin läßt sich das Bildungswesen Englands formell kurz damit
charakterisiren, daß sein Volksschulwesen, noch vor wenig Jahren nur
in den Armenschulen bestehend, eben beginnt, unsicher und versuchsweise
Gegenstand der Verwaltung zu werden; daß seine Berufsbildung ohne
organisirte Vorbildung nur noch als eine gelehrte, und selbst vollkommen
in ständischer, unorganisirter Selbstverwaltung dasteht, und daß die
allgemeine Bildung, der Verwaltung gänzlich fremd, nur noch Sache
des Einzelnen ist, und daher höchstens vom Vereinswesen gefördert,
mehr als irgendwo auf der Presse und ihrer Thätigkeit beruht. Es
kann daher sehr viel von einem englischen Princip, aber sehr wenig
von einem englischen System die Rede sein. Die großen Theile des
Bildungswesens liegen zusammenhangslos neben einander, und statt der
Verwaltung oder der positiven Gesetzgebung muß der wissenschaftliche
Gedanke sie als Einheit zusammenfassen.

Frankreich. Den direkten Gegensatz dazu bildet Frankreich in
seinem gesammten Bildungswesen. Als in der französischen Revolution
die Principien der Freiheit und Gleichheit den plötzlichen Sieg über
die ständischen Ordnungen gewannen, war die Anerkennung der gleichen
Bildung für alle eine nur naturgemäße Consequenz dieser Grundsätze.
Natürlich konnte eine solche Consequenz nur durch die, von der Ge-
sellschaft vollständig beherrschte Verwaltung verwirklicht werden. Die
Bedingung dafür war eine möglichst einheitliche Gesetzgebung. So
kam es naturgemäß, daß die Regierung versuchte das gesammte Bil-
dungswesen durch ihre Gesetzgebung zu regeln und durch eine eben so
einheitliche Verwaltung praktisch zu beherrschen. Das auf diese Weise,
man kann sagen, einseitig von der Staatsgewalt begründete öffentliche
Bildungswesen Frankreichs unterscheidet sich daher von dem Englands
dadurch, daß der freien geistigen Thätigkeit so wenig als möglich Spiel-
raum gelassen und dieselbe ganz von der Verwaltung übernommen ist,
von dem Deutschlands dadurch, daß die einzelnen Theile des Systems
keine selbständige und ungleichmäßige Form und Entwicklung besitzen,

an, wo Deutſchland vor hundert Jahren ſtand. Die Organiſirung ſeines
Bildungsweſens beginnt mit der ſelbſtändigen Entwicklung des Volks-
ſchulweſens
als Aufgabe der Verwaltung; wenn dieſe feſtſteht, wird
die verwaltungsloſe und mittelalterliche Körperſchaft ſeiner Univerſitäten
allmählig ſich im Sinne des übrigen Europa’s ändern, und der ent-
ſcheidende Grundſatz einer fertigen Vorbildung für die höhere Berufs-
bildung eintreten; die allgemeine Bildung wird ſich dann von den
beſchränkten religiöſen Vorurtheilen frei machen, und England kann
das Land werden, welches das Princip der freien individuellen Perſön-
lichkeit in großartigſter Form im öffentlichen Bildungsweſen durchführt.

Bis dahin läßt ſich das Bildungsweſen Englands formell kurz damit
charakteriſiren, daß ſein Volksſchulweſen, noch vor wenig Jahren nur
in den Armenſchulen beſtehend, eben beginnt, unſicher und verſuchsweiſe
Gegenſtand der Verwaltung zu werden; daß ſeine Berufsbildung ohne
organiſirte Vorbildung nur noch als eine gelehrte, und ſelbſt vollkommen
in ſtändiſcher, unorganiſirter Selbſtverwaltung daſteht, und daß die
allgemeine Bildung, der Verwaltung gänzlich fremd, nur noch Sache
des Einzelnen iſt, und daher höchſtens vom Vereinsweſen gefördert,
mehr als irgendwo auf der Preſſe und ihrer Thätigkeit beruht. Es
kann daher ſehr viel von einem engliſchen Princip, aber ſehr wenig
von einem engliſchen Syſtem die Rede ſein. Die großen Theile des
Bildungsweſens liegen zuſammenhangslos neben einander, und ſtatt der
Verwaltung oder der poſitiven Geſetzgebung muß der wiſſenſchaftliche
Gedanke ſie als Einheit zuſammenfaſſen.

Frankreich. Den direkten Gegenſatz dazu bildet Frankreich in
ſeinem geſammten Bildungsweſen. Als in der franzöſiſchen Revolution
die Principien der Freiheit und Gleichheit den plötzlichen Sieg über
die ſtändiſchen Ordnungen gewannen, war die Anerkennung der gleichen
Bildung für alle eine nur naturgemäße Conſequenz dieſer Grundſätze.
Natürlich konnte eine ſolche Conſequenz nur durch die, von der Ge-
ſellſchaft vollſtändig beherrſchte Verwaltung verwirklicht werden. Die
Bedingung dafür war eine möglichſt einheitliche Geſetzgebung. So
kam es naturgemäß, daß die Regierung verſuchte das geſammte Bil-
dungsweſen durch ihre Geſetzgebung zu regeln und durch eine eben ſo
einheitliche Verwaltung praktiſch zu beherrſchen. Das auf dieſe Weiſe,
man kann ſagen, einſeitig von der Staatsgewalt begründete öffentliche
Bildungsweſen Frankreichs unterſcheidet ſich daher von dem Englands
dadurch, daß der freien geiſtigen Thätigkeit ſo wenig als möglich Spiel-
raum gelaſſen und dieſelbe ganz von der Verwaltung übernommen iſt,
von dem Deutſchlands dadurch, daß die einzelnen Theile des Syſtems
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[45/0073] an, wo Deutſchland vor hundert Jahren ſtand. Die Organiſirung ſeines Bildungsweſens beginnt mit der ſelbſtändigen Entwicklung des Volks- ſchulweſens als Aufgabe der Verwaltung; wenn dieſe feſtſteht, wird die verwaltungsloſe und mittelalterliche Körperſchaft ſeiner Univerſitäten allmählig ſich im Sinne des übrigen Europa’s ändern, und der ent- ſcheidende Grundſatz einer fertigen Vorbildung für die höhere Berufs- bildung eintreten; die allgemeine Bildung wird ſich dann von den beſchränkten religiöſen Vorurtheilen frei machen, und England kann das Land werden, welches das Princip der freien individuellen Perſön- lichkeit in großartigſter Form im öffentlichen Bildungsweſen durchführt. Bis dahin läßt ſich das Bildungsweſen Englands formell kurz damit charakteriſiren, daß ſein Volksſchulweſen, noch vor wenig Jahren nur in den Armenſchulen beſtehend, eben beginnt, unſicher und verſuchsweiſe Gegenſtand der Verwaltung zu werden; daß ſeine Berufsbildung ohne organiſirte Vorbildung nur noch als eine gelehrte, und ſelbſt vollkommen in ſtändiſcher, unorganiſirter Selbſtverwaltung daſteht, und daß die allgemeine Bildung, der Verwaltung gänzlich fremd, nur noch Sache des Einzelnen iſt, und daher höchſtens vom Vereinsweſen gefördert, mehr als irgendwo auf der Preſſe und ihrer Thätigkeit beruht. Es kann daher ſehr viel von einem engliſchen Princip, aber ſehr wenig von einem engliſchen Syſtem die Rede ſein. Die großen Theile des Bildungsweſens liegen zuſammenhangslos neben einander, und ſtatt der Verwaltung oder der poſitiven Geſetzgebung muß der wiſſenſchaftliche Gedanke ſie als Einheit zuſammenfaſſen. Frankreich. Den direkten Gegenſatz dazu bildet Frankreich in ſeinem geſammten Bildungsweſen. Als in der franzöſiſchen Revolution die Principien der Freiheit und Gleichheit den plötzlichen Sieg über die ſtändiſchen Ordnungen gewannen, war die Anerkennung der gleichen Bildung für alle eine nur naturgemäße Conſequenz dieſer Grundſätze. Natürlich konnte eine ſolche Conſequenz nur durch die, von der Ge- ſellſchaft vollſtändig beherrſchte Verwaltung verwirklicht werden. Die Bedingung dafür war eine möglichſt einheitliche Geſetzgebung. So kam es naturgemäß, daß die Regierung verſuchte das geſammte Bil- dungsweſen durch ihre Geſetzgebung zu regeln und durch eine eben ſo einheitliche Verwaltung praktiſch zu beherrſchen. Das auf dieſe Weiſe, man kann ſagen, einſeitig von der Staatsgewalt begründete öffentliche Bildungsweſen Frankreichs unterſcheidet ſich daher von dem Englands dadurch, daß der freien geiſtigen Thätigkeit ſo wenig als möglich Spiel- raum gelaſſen und dieſelbe ganz von der Verwaltung übernommen iſt, von dem Deutſchlands dadurch, daß die einzelnen Theile des Syſtems keine ſelbſtändige und ungleichmäßige Form und Entwicklung beſitzen,

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre05_1868/73>, abgerufen am 25.11.2024.