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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868.

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Diese Seite besteht nämlich in der systematischen Verbindung des
Gymnasialwesens mit dem Elementarschulwesen. Das Princip
dieser Verbindung ist die Idee der inneren Einheit des gesammten
Bildungsganges; der Ausdruck desselben ist die Errichtung der untersten
Gymnasialclassen, die sich unmittelbar an die Volksschule anschließen.
Darüber ist im Allgemeinen keine Ungewißheit mehr vorhanden. Wohl
aber ist die zweite Seite der Sache unentwickelt geblieben. Das ist
die Fähigkeit der Gymnasien, eine Bildung zu geben, welche, obwohl
auf dem classischen Unterricht und seinen großen Erfolgen beruhend,
dennoch in sich selbst und nicht bloß als Vorbereitung für die Universität
ihren Abschluß finde. Das deutsche Gymnasialwesen hat in seiner strengen
Stellung als gelehrte Vorbildungsanstalt diese Fähigkeit verloren.
Wir müssen auf dieselbe zurückkommen. Wir müssen unsere Gymnasien
hinstellen als Bildungsanstalt für die allgemeine Bildung, die der
Fachbildung an der Universität entbehren kann, wo der Schüler kein
Fachmann werden will, die aber von jedem der gebildeten Klasse Ange-
hörigen besucht werden muß, und daher neben der Classicität die großen
Gebiete der Geschichte, der Philosophie, der Staatswissenschaft und der
Naturkunde in ihren allgemeinen Grundzügen selbständig darbietet. Zu
dem Ende muß an das Gymnasium eine letzte Classe, eine philosophische,
eine Selecta, oder wie man sie sonst nennen will, hinzugefügt werden,
welche dieß für die allgemeine Bildung leistet, mit dem bestimmten Zu-
satz, daß ihr Besuch für das Eintreten in die Universität nicht er-
forderlich, wohl aber mit dem Recht der Abgangsprüfung versehen ist.
Wir haben die Elemente für diese Forderung theils in der Geschichte,
theils in gewissen Privatanstalten, welche gerade das leisten. Wir haben
dafür noch die letzten Reste der alten, allgemeinen Geschichte in den
Athenäen und Lyceen, die nur in zeitgemäßer Form neu belebt werden
brauchen. Wir haben endlich den Anlaß dazu in der Forderung der
Zeit, welche die höchste allgemeine Bildung will, und in der strengen,
immer fachgemäßeren Gestalt der Universitäten, welche die Hauptkraft
auf die Specialität wirft. Hier liegt daher, wie wir überzeugt sind,
die Aufgabe der Zukunft; Deutschlands Gymnasialwesen, das beste der
Welt als Vorbildungsanstalt für das Fach muß es wieder werden als
Vorbildungsanstalt der allgemeinen Bildung. Wenn nicht alle Zeichen
täuschen, so gehen wir jetzt dieser letzten Gestalt der "Gymnasialfrage"
entgegen.


Wir können nicht schließen, ohne das Verhältniß der Gymnasial-
literatur zu der oben dargelegten Entwicklung zu charakterisiren. Diese
Literatur ist in Deutschland eine fast unerschöpfliche; aber sie bezieht

Dieſe Seite beſteht nämlich in der ſyſtematiſchen Verbindung des
Gymnaſialweſens mit dem Elementarſchulweſen. Das Princip
dieſer Verbindung iſt die Idee der inneren Einheit des geſammten
Bildungsganges; der Ausdruck deſſelben iſt die Errichtung der unterſten
Gymnaſialclaſſen, die ſich unmittelbar an die Volksſchule anſchließen.
Darüber iſt im Allgemeinen keine Ungewißheit mehr vorhanden. Wohl
aber iſt die zweite Seite der Sache unentwickelt geblieben. Das iſt
die Fähigkeit der Gymnaſien, eine Bildung zu geben, welche, obwohl
auf dem claſſiſchen Unterricht und ſeinen großen Erfolgen beruhend,
dennoch in ſich ſelbſt und nicht bloß als Vorbereitung für die Univerſität
ihren Abſchluß finde. Das deutſche Gymnaſialweſen hat in ſeiner ſtrengen
Stellung als gelehrte Vorbildungsanſtalt dieſe Fähigkeit verloren.
Wir müſſen auf dieſelbe zurückkommen. Wir müſſen unſere Gymnaſien
hinſtellen als Bildungsanſtalt für die allgemeine Bildung, die der
Fachbildung an der Univerſität entbehren kann, wo der Schüler kein
Fachmann werden will, die aber von jedem der gebildeten Klaſſe Ange-
hörigen beſucht werden muß, und daher neben der Claſſicität die großen
Gebiete der Geſchichte, der Philoſophie, der Staatswiſſenſchaft und der
Naturkunde in ihren allgemeinen Grundzügen ſelbſtändig darbietet. Zu
dem Ende muß an das Gymnaſium eine letzte Claſſe, eine philoſophiſche,
eine Selecta, oder wie man ſie ſonſt nennen will, hinzugefügt werden,
welche dieß für die allgemeine Bildung leiſtet, mit dem beſtimmten Zu-
ſatz, daß ihr Beſuch für das Eintreten in die Univerſität nicht er-
forderlich, wohl aber mit dem Recht der Abgangsprüfung verſehen iſt.
Wir haben die Elemente für dieſe Forderung theils in der Geſchichte,
theils in gewiſſen Privatanſtalten, welche gerade das leiſten. Wir haben
dafür noch die letzten Reſte der alten, allgemeinen Geſchichte in den
Athenäen und Lyceen, die nur in zeitgemäßer Form neu belebt werden
brauchen. Wir haben endlich den Anlaß dazu in der Forderung der
Zeit, welche die höchſte allgemeine Bildung will, und in der ſtrengen,
immer fachgemäßeren Geſtalt der Univerſitäten, welche die Hauptkraft
auf die Specialität wirft. Hier liegt daher, wie wir überzeugt ſind,
die Aufgabe der Zukunft; Deutſchlands Gymnaſialweſen, das beſte der
Welt als Vorbildungsanſtalt für das Fach muß es wieder werden als
Vorbildungsanſtalt der allgemeinen Bildung. Wenn nicht alle Zeichen
täuſchen, ſo gehen wir jetzt dieſer letzten Geſtalt der „Gymnaſialfrage“
entgegen.


Wir können nicht ſchließen, ohne das Verhältniß der Gymnaſial-
literatur zu der oben dargelegten Entwicklung zu charakteriſiren. Dieſe
Literatur iſt in Deutſchland eine faſt unerſchöpfliche; aber ſie bezieht

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[205/0233] Dieſe Seite beſteht nämlich in der ſyſtematiſchen Verbindung des Gymnaſialweſens mit dem Elementarſchulweſen. Das Princip dieſer Verbindung iſt die Idee der inneren Einheit des geſammten Bildungsganges; der Ausdruck deſſelben iſt die Errichtung der unterſten Gymnaſialclaſſen, die ſich unmittelbar an die Volksſchule anſchließen. Darüber iſt im Allgemeinen keine Ungewißheit mehr vorhanden. Wohl aber iſt die zweite Seite der Sache unentwickelt geblieben. Das iſt die Fähigkeit der Gymnaſien, eine Bildung zu geben, welche, obwohl auf dem claſſiſchen Unterricht und ſeinen großen Erfolgen beruhend, dennoch in ſich ſelbſt und nicht bloß als Vorbereitung für die Univerſität ihren Abſchluß finde. Das deutſche Gymnaſialweſen hat in ſeiner ſtrengen Stellung als gelehrte Vorbildungsanſtalt dieſe Fähigkeit verloren. Wir müſſen auf dieſelbe zurückkommen. Wir müſſen unſere Gymnaſien hinſtellen als Bildungsanſtalt für die allgemeine Bildung, die der Fachbildung an der Univerſität entbehren kann, wo der Schüler kein Fachmann werden will, die aber von jedem der gebildeten Klaſſe Ange- hörigen beſucht werden muß, und daher neben der Claſſicität die großen Gebiete der Geſchichte, der Philoſophie, der Staatswiſſenſchaft und der Naturkunde in ihren allgemeinen Grundzügen ſelbſtändig darbietet. Zu dem Ende muß an das Gymnaſium eine letzte Claſſe, eine philoſophiſche, eine Selecta, oder wie man ſie ſonſt nennen will, hinzugefügt werden, welche dieß für die allgemeine Bildung leiſtet, mit dem beſtimmten Zu- ſatz, daß ihr Beſuch für das Eintreten in die Univerſität nicht er- forderlich, wohl aber mit dem Recht der Abgangsprüfung verſehen iſt. Wir haben die Elemente für dieſe Forderung theils in der Geſchichte, theils in gewiſſen Privatanſtalten, welche gerade das leiſten. Wir haben dafür noch die letzten Reſte der alten, allgemeinen Geſchichte in den Athenäen und Lyceen, die nur in zeitgemäßer Form neu belebt werden brauchen. Wir haben endlich den Anlaß dazu in der Forderung der Zeit, welche die höchſte allgemeine Bildung will, und in der ſtrengen, immer fachgemäßeren Geſtalt der Univerſitäten, welche die Hauptkraft auf die Specialität wirft. Hier liegt daher, wie wir überzeugt ſind, die Aufgabe der Zukunft; Deutſchlands Gymnaſialweſen, das beſte der Welt als Vorbildungsanſtalt für das Fach muß es wieder werden als Vorbildungsanſtalt der allgemeinen Bildung. Wenn nicht alle Zeichen täuſchen, ſo gehen wir jetzt dieſer letzten Geſtalt der „Gymnaſialfrage“ entgegen. Wir können nicht ſchließen, ohne das Verhältniß der Gymnaſial- literatur zu der oben dargelegten Entwicklung zu charakteriſiren. Dieſe Literatur iſt in Deutſchland eine faſt unerſchöpfliche; aber ſie bezieht

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre05_1868/233>, abgerufen am 07.05.2024.