sorgt, beständig ihn schützt; sie ist es aber auch, welche gerade dadurch den Einzelnen nach allen Seiten hemmen und unterdrücken kann, wenn sie falsch verstanden oder falsch ausgeführt wird. Ihre Gefahr entsteht dann, wenn in ihr der Staat sich von den Interessen und Lebensauf- gaben des Einzelnen trennt, und sie, statt sie als Ziel zu setzen, als Mittel benützt. Sie fordert die tiefste Kenntniß aller menschlichen Zu- stände, die freieste und praktischste Anschauung des wirklichen Lebens. Und daher bestimmt sich in ihr auch das Wesen des so viel bestrittenen Gedankens des besten und des freiesten Staats, ohne den man kaum die Idee der Verwaltung auszudenken im Stande ist. Dieser Gedanke aber wird seinerseits nicht erschöpft werden, ohne die Verfassung und ihr Wesen ins Auge zu fassen.
Wir haben in der Geschichte der socialen Bewegung versucht, den Beweis zu liefern, daß die Verfassungen weder willkürlich noch zufällig entstehen, sondern in Zeit und Inhalt ganz bestimmten, schwer zu verkennenden Gesetzen unterworfen sind. Diese Gesetze der Verfas- sungsbildung haben uns gezeigt, daß es nichtig ist zu glauben, man könne überhaupt eine Verfassung machen, und als sei die Verfassung bloß vermöge ihrer Begründung durch das abstrakte Wesen der Persön- lichkeit gut oder schlecht und als gäbe es eine beste Verfassung, oder einen besten und freiesten Staat bloß durch die Verfassung. Das ist falsch, und ist ein fast jetzt schon überwundener, nur historisch berech- tigter Standpunkt. Wir haben gezeigt und erfahren, daß eine Ver- fassung in der That nichts ist, als der Ausdruck der bestehenden Ge- sellschaftsordnung in der Selbstbestimmung des Staats und den Formen, in denen dieselbe vor sich geht. Mit dem Inhalte dieser Selbstbe- stimmung hat die Verfassung an und für sich nichts zu thun. Eine Verfassung ist daher weder gut noch schlecht an sich, sondern sie wird es nur dadurch, daß sie mit den Forderungen der Gesellschaftsordnung harmonirt oder nicht, und eine Revolution thut vor der Hand nichts, als daß sie gewaltsam jene Harmonie herstellt. Ob aber das Wohlsein des Staats erreicht wird, das hängt eben von dem Inhalt jener Selbstbestimmung ab; und dieser Inhalt ist die Verwaltung. Das was wir die freieste Verfassung zu nennen pflegen, kann daher die unfreieste, unweiseste Verwaltung geben, und damit der Grund zu der vollstän- digsten Vernichtung des Staats werden. Kein größeres Beispiel hat die Welt dafür, als die sogenannten Freistaaten der Griechen und Römer. Und umgekehrt kann das, was als die völligste Abwesenheit der Verfassung erscheint, die beste Zeit des Staatslebens werden, wie es die Regierungen Maria Theresias und Friedrichs des Großen be- zeugen. Und wenn man daher einmal von "Freiheit" als den Ausdruck
ſorgt, beſtändig ihn ſchützt; ſie iſt es aber auch, welche gerade dadurch den Einzelnen nach allen Seiten hemmen und unterdrücken kann, wenn ſie falſch verſtanden oder falſch ausgeführt wird. Ihre Gefahr entſteht dann, wenn in ihr der Staat ſich von den Intereſſen und Lebensauf- gaben des Einzelnen trennt, und ſie, ſtatt ſie als Ziel zu ſetzen, als Mittel benützt. Sie fordert die tiefſte Kenntniß aller menſchlichen Zu- ſtände, die freieſte und praktiſchſte Anſchauung des wirklichen Lebens. Und daher beſtimmt ſich in ihr auch das Weſen des ſo viel beſtrittenen Gedankens des beſten und des freieſten Staats, ohne den man kaum die Idee der Verwaltung auszudenken im Stande iſt. Dieſer Gedanke aber wird ſeinerſeits nicht erſchöpft werden, ohne die Verfaſſung und ihr Weſen ins Auge zu faſſen.
Wir haben in der Geſchichte der ſocialen Bewegung verſucht, den Beweis zu liefern, daß die Verfaſſungen weder willkürlich noch zufällig entſtehen, ſondern in Zeit und Inhalt ganz beſtimmten, ſchwer zu verkennenden Geſetzen unterworfen ſind. Dieſe Geſetze der Verfaſ- ſungsbildung haben uns gezeigt, daß es nichtig iſt zu glauben, man könne überhaupt eine Verfaſſung machen, und als ſei die Verfaſſung bloß vermöge ihrer Begründung durch das abſtrakte Weſen der Perſön- lichkeit gut oder ſchlecht und als gäbe es eine beſte Verfaſſung, oder einen beſten und freieſten Staat bloß durch die Verfaſſung. Das iſt falſch, und iſt ein faſt jetzt ſchon überwundener, nur hiſtoriſch berech- tigter Standpunkt. Wir haben gezeigt und erfahren, daß eine Ver- faſſung in der That nichts iſt, als der Ausdruck der beſtehenden Ge- ſellſchaftsordnung in der Selbſtbeſtimmung des Staats und den Formen, in denen dieſelbe vor ſich geht. Mit dem Inhalte dieſer Selbſtbe- ſtimmung hat die Verfaſſung an und für ſich nichts zu thun. Eine Verfaſſung iſt daher weder gut noch ſchlecht an ſich, ſondern ſie wird es nur dadurch, daß ſie mit den Forderungen der Geſellſchaftsordnung harmonirt oder nicht, und eine Revolution thut vor der Hand nichts, als daß ſie gewaltſam jene Harmonie herſtellt. Ob aber das Wohlſein des Staats erreicht wird, das hängt eben von dem Inhalt jener Selbſtbeſtimmung ab; und dieſer Inhalt iſt die Verwaltung. Das was wir die freieſte Verfaſſung zu nennen pflegen, kann daher die unfreieſte, unweiſeſte Verwaltung geben, und damit der Grund zu der vollſtän- digſten Vernichtung des Staats werden. Kein größeres Beiſpiel hat die Welt dafür, als die ſogenannten Freiſtaaten der Griechen und Römer. Und umgekehrt kann das, was als die völligſte Abweſenheit der Verfaſſung erſcheint, die beſte Zeit des Staatslebens werden, wie es die Regierungen Maria Thereſias und Friedrichs des Großen be- zeugen. Und wenn man daher einmal von „Freiheit“ als den Ausdruck
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ſorgt, beſtändig ihn ſchützt; ſie iſt es aber auch, welche gerade dadurch
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dann, wenn in ihr der Staat ſich von den Intereſſen und Lebensauf-
gaben des Einzelnen trennt, und ſie, ſtatt ſie als Ziel zu ſetzen, als
Mittel benützt. Sie fordert die tiefſte Kenntniß aller menſchlichen Zu-
ſtände, die freieſte und praktiſchſte Anſchauung des wirklichen Lebens.
Und daher beſtimmt ſich in ihr auch das Weſen des ſo viel beſtrittenen
Gedankens des beſten und des freieſten Staats, ohne den man kaum
die Idee der Verwaltung auszudenken im Stande iſt. Dieſer Gedanke
aber wird ſeinerſeits nicht erſchöpft werden, ohne die Verfaſſung und
ihr Weſen ins Auge zu faſſen.
Wir haben in der Geſchichte der ſocialen Bewegung verſucht,
den Beweis zu liefern, daß die Verfaſſungen weder willkürlich noch
zufällig entſtehen, ſondern in Zeit und Inhalt ganz beſtimmten, ſchwer
zu verkennenden Geſetzen unterworfen ſind. Dieſe Geſetze der Verfaſ-
ſungsbildung haben uns gezeigt, daß es nichtig iſt zu glauben, man
könne überhaupt eine Verfaſſung machen, und als ſei die Verfaſſung
bloß vermöge ihrer Begründung durch das abſtrakte Weſen der Perſön-
lichkeit gut oder ſchlecht und als gäbe es eine beſte Verfaſſung, oder
einen beſten und freieſten Staat bloß durch die Verfaſſung. Das iſt
falſch, und iſt ein faſt jetzt ſchon überwundener, nur hiſtoriſch berech-
tigter Standpunkt. Wir haben gezeigt und erfahren, daß eine Ver-
faſſung in der That nichts iſt, als der Ausdruck der beſtehenden Ge-
ſellſchaftsordnung in der Selbſtbeſtimmung des Staats und den Formen,
in denen dieſelbe vor ſich geht. Mit dem Inhalte dieſer Selbſtbe-
ſtimmung hat die Verfaſſung an und für ſich nichts zu thun. Eine
Verfaſſung iſt daher weder gut noch ſchlecht an ſich, ſondern ſie wird
es nur dadurch, daß ſie mit den Forderungen der Geſellſchaftsordnung
harmonirt oder nicht, und eine Revolution thut vor der Hand nichts,
als daß ſie gewaltſam jene Harmonie herſtellt. Ob aber das Wohlſein
des Staats erreicht wird, das hängt eben von dem Inhalt jener
Selbſtbeſtimmung ab; und dieſer Inhalt iſt die Verwaltung. Das was
wir die freieſte Verfaſſung zu nennen pflegen, kann daher die unfreieſte,
unweiſeſte Verwaltung geben, und damit der Grund zu der vollſtän-
digſten Vernichtung des Staats werden. Kein größeres Beiſpiel hat
die Welt dafür, als die ſogenannten Freiſtaaten der Griechen und
Römer. Und umgekehrt kann das, was als die völligſte Abweſenheit
der Verfaſſung erſcheint, die beſte Zeit des Staatslebens werden, wie
es die Regierungen Maria Thereſias und Friedrichs des Großen be-
zeugen. Und wenn man daher einmal von „Freiheit“ als den Ausdruck
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/70>, abgerufen am 30.01.2025.
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