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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866.

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der Mann des rationellen Fortschrittes, und für diesen hat er sehr
viel geleistet. Man kann unbedenklich sagen, daß seine Gedanken die
ganze Staatswissenschaft des vorigen Jahrhunderts bis auf Kant be-
herrscht haben. Und den Beweis dafür liefert eben die zweite Hälfte
desselben.

Das Charakteristische dieser zweiten Hälfte ist es nämlich, daß sich
in ihr die Verwaltungslehre aus ihrer Verbindung mit der Rechts-
philosophie herauslöst, und zu einer selbständigen Wissenschaft wird.
Man nannte aus einer Reihe von historischen Gründen diese neue
Wissenschaft die "Polizeiwissenschaft." In der That war sie aber
nichts als die, aus dem alten Jus naturae herausgenommene Verwal-
tungslehre. Die Hauptträger dieser neuen Bewegung waren Justi
und Sonnenfels, zwei Männer, deren Namen die Nachwelt stets
mit hoher Achtung nennen wird. Beide, und mit ihnen die Schaar
der Kleineren, stehen unverhohlen und mit vollem Bewußtsein auf dem
eudämonistischen Standpunkt. Der Unterschied von der alten admini-
strativen Rechtsphilosophie liegt dabei wesentlich in dem Weglassen der
abstrakten ethischen Begründung der Staatsidee. Die neue "Polizei-
wissenschaft" nimmt den eudämonistischen Standpunkt als ausgemacht
an, und geht sofort auf die einzelnen Gebiete der Verwaltung ein. Die
Behandlung ist eine einfache, klare und objektive, aber dafür auch zum
Theil sehr kalte, oft langweilige und im Kleinen pedantische. Die eigen-
thümliche Wärme, die gehobene Stimmung des Ganzen, welche sich
durch das Bewußtsein einer großen Weltanschauung auch dem Einzelnen
mittheilt, fehlt; die trefflichste Absicht vermag das nicht zu ersetzen; es
ist bei aller Tüchtigkeit stets das Gefühl da, als ob die geistige Initiative
dem Ganzen mangle und als ob dasselbe zwar breiter, aber nicht
tiefer werde; es ist eben kein Gegner mehr vorhanden, mit dem
das Ganze zu kämpfen hat, und man sieht es der geistigen Physiogno-
mie dieser Werke an, daß sie die leichtere Mühe haben, ein für sie ent-
schiedenes Princip anzuwenden, als es aufzufinden. Dabei ist es kein
Zweifel, daß Sonnenfels höher steht als Justi. Bei Justis Arbeiten
sieht man auf jeder Seite mehr den Professor als den Staatsmann;
es ist schon etwas darin, das an das Paragraphenthum der damaligen
und gegenwärtigen Kathederliteratur erinnert; er schreibt mehr für den
Zuhörer als für den Leser. Sonnenfels dagegen ist in seiner Be-
handlung viel freier, in seiner Diktion leichter. Man sieht daß er
aus dem Leben und für das Leben schreibt. Er hat viel weniger Sorge
für das Einzelne, und ist viel mehr erfüllt von der Wahrheit und dem
Werthe des Ganzen, als Justi. Es liegt nahe, den Grund dieses Unter-
schiedes mehr in der Stellung dieser beiden Männer, als in ihrer

der Mann des rationellen Fortſchrittes, und für dieſen hat er ſehr
viel geleiſtet. Man kann unbedenklich ſagen, daß ſeine Gedanken die
ganze Staatswiſſenſchaft des vorigen Jahrhunderts bis auf Kant be-
herrſcht haben. Und den Beweis dafür liefert eben die zweite Hälfte
deſſelben.

Das Charakteriſtiſche dieſer zweiten Hälfte iſt es nämlich, daß ſich
in ihr die Verwaltungslehre aus ihrer Verbindung mit der Rechts-
philoſophie herauslöst, und zu einer ſelbſtändigen Wiſſenſchaft wird.
Man nannte aus einer Reihe von hiſtoriſchen Gründen dieſe neue
Wiſſenſchaft die „Polizeiwiſſenſchaft.“ In der That war ſie aber
nichts als die, aus dem alten Jus naturae herausgenommene Verwal-
tungslehre. Die Hauptträger dieſer neuen Bewegung waren Juſti
und Sonnenfels, zwei Männer, deren Namen die Nachwelt ſtets
mit hoher Achtung nennen wird. Beide, und mit ihnen die Schaar
der Kleineren, ſtehen unverhohlen und mit vollem Bewußtſein auf dem
eudämoniſtiſchen Standpunkt. Der Unterſchied von der alten admini-
ſtrativen Rechtsphiloſophie liegt dabei weſentlich in dem Weglaſſen der
abſtrakten ethiſchen Begründung der Staatsidee. Die neue „Polizei-
wiſſenſchaft“ nimmt den eudämoniſtiſchen Standpunkt als ausgemacht
an, und geht ſofort auf die einzelnen Gebiete der Verwaltung ein. Die
Behandlung iſt eine einfache, klare und objektive, aber dafür auch zum
Theil ſehr kalte, oft langweilige und im Kleinen pedantiſche. Die eigen-
thümliche Wärme, die gehobene Stimmung des Ganzen, welche ſich
durch das Bewußtſein einer großen Weltanſchauung auch dem Einzelnen
mittheilt, fehlt; die trefflichſte Abſicht vermag das nicht zu erſetzen; es
iſt bei aller Tüchtigkeit ſtets das Gefühl da, als ob die geiſtige Initiative
dem Ganzen mangle und als ob daſſelbe zwar breiter, aber nicht
tiefer werde; es iſt eben kein Gegner mehr vorhanden, mit dem
das Ganze zu kämpfen hat, und man ſieht es der geiſtigen Phyſiogno-
mie dieſer Werke an, daß ſie die leichtere Mühe haben, ein für ſie ent-
ſchiedenes Princip anzuwenden, als es aufzufinden. Dabei iſt es kein
Zweifel, daß Sonnenfels höher ſteht als Juſti. Bei Juſtis Arbeiten
ſieht man auf jeder Seite mehr den Profeſſor als den Staatsmann;
es iſt ſchon etwas darin, das an das Paragraphenthum der damaligen
und gegenwärtigen Kathederliteratur erinnert; er ſchreibt mehr für den
Zuhörer als für den Leſer. Sonnenfels dagegen iſt in ſeiner Be-
handlung viel freier, in ſeiner Diktion leichter. Man ſieht daß er
aus dem Leben und für das Leben ſchreibt. Er hat viel weniger Sorge
für das Einzelne, und iſt viel mehr erfüllt von der Wahrheit und dem
Werthe des Ganzen, als Juſti. Es liegt nahe, den Grund dieſes Unter-
ſchiedes mehr in der Stellung dieſer beiden Männer, als in ihrer

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/37>, abgerufen am 19.04.2024.