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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866.

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Ortsgemeinde bei der Gleichartigkeit der Armenpflege, noch den immer
größeren Ansprüchen entspricht, welche das Armenwesen machen muß.
Daher denn auch die Unmöglichkeit, eine einheitliche Darstellung zu
geben, wie es Pözl, Verfassungsrecht §. 29 und 101, Verwal-
tungsrecht
§. 87 und 92, und die noch resultatlosere Auffassung
Bitzers S. 192 zeigen. Es ist wohl überhaupt das der Uebelstand
bei den Bearbeitungen des positiven Verwaltungsrechts, daß sie ge-
wissermaßen das Recht verlieren, das was sie vorfinden, als Ueber-
gangsstadium darzustellen, und somit die einzige Bedingung der Klarheit,
die für solche Zustände gilt, die historische Kritik nicht für sich ver-
wenden dürfen.

Württemberg. Allerdings ist es nicht zu verkennen, daß der
Grundgedanke für Gemeindeangehörigkeit und Heimathswesen in Württem-
berg freier ist als in Bayern, und es ist von großem Interesse, diese
Erscheinung in Uebereinstimmung mit unserer Ansicht wesentlich auf die,
schon ursprünglich in Württemberg zu Tage tretende Tendenz basirt zu
sehen, jene verderbliche Identificirung von Ortsgemeinde und Armen-
gemeinde nicht in ihrem vollen Umfange zuzulassen. Dennoch hat auch
Württemberg sich derselben nicht erwehren können. Der Ausdruck jener
freieren Idee des Heimathwesens bildet hier der Gedanke, der mit dem
englischen verwandt ist, die Armenpflicht mit dem Kirchspiel statt mit
der Ortsgemeinde zu verbinden. Die Sicherheitspolizei indeß, welche
das Vagabundiren beschränken wollte, und keine durchgeführte Gestal-
tung größerer Armengemeinden vorfand, sah sich mit Anfang unseres
Jahrhunderts gezwungen, die Unterstützung der Armen doch der Orts-
gemeinde zuzuweisen (Verordnung vom 11. September 1807), was dann
in das Gemeindeedict von 1818, und speziell in das Bürgerrechtsgesetz
vom 15. April 1828 überging. Damit war auch in Württemberg für
die ächt deutsche Frage nach dem Unterschied zwischen Bürger und An-
gehörigen, die hier "Gemeindebeisitzer" heißen, eröffnet. Die Verfassung
von 1819 bestimmt §. 61, 63, daß "jeder Staatsbürger einer Gemeinde
als Bürger oder Beisitzer angehören müsse." Die Aufnahme in
das Staatsbürgerrecht wird dann in der allgemeinen deutschen, halb
feudalen, halb freien Auffassung durch Besitz, Gewerbe, formelle Auf-
nahme und ein Eintrittsgeld normirt; die zweite wichtige Frage blieb
nach dem Erwerb der Armenzuständigkeit, die auch in Württemberg den
eigentlichen Inhalt des Beisitzerrechts bildet. Bitzer (S. 226--241)
hat die Berathungen und Gesetze, die daraus entstanden, sehr gut dar-
gestellt -- merkwürdiger Weise ohne Mohl zu benützen, wie er freilich
bei Bayern auch Pözl nicht anführt, und bei Sachsen Funke nicht
zu kennen scheint. Offenbar nun stehen das Verwaltungsedict vom

Ortsgemeinde bei der Gleichartigkeit der Armenpflege, noch den immer
größeren Anſprüchen entſpricht, welche das Armenweſen machen muß.
Daher denn auch die Unmöglichkeit, eine einheitliche Darſtellung zu
geben, wie es Pözl, Verfaſſungsrecht §. 29 und 101, Verwal-
tungsrecht
§. 87 und 92, und die noch reſultatloſere Auffaſſung
Bitzers S. 192 zeigen. Es iſt wohl überhaupt das der Uebelſtand
bei den Bearbeitungen des poſitiven Verwaltungsrechts, daß ſie ge-
wiſſermaßen das Recht verlieren, das was ſie vorfinden, als Ueber-
gangsſtadium darzuſtellen, und ſomit die einzige Bedingung der Klarheit,
die für ſolche Zuſtände gilt, die hiſtoriſche Kritik nicht für ſich ver-
wenden dürfen.

Württemberg. Allerdings iſt es nicht zu verkennen, daß der
Grundgedanke für Gemeindeangehörigkeit und Heimathsweſen in Württem-
berg freier iſt als in Bayern, und es iſt von großem Intereſſe, dieſe
Erſcheinung in Uebereinſtimmung mit unſerer Anſicht weſentlich auf die,
ſchon urſprünglich in Württemberg zu Tage tretende Tendenz baſirt zu
ſehen, jene verderbliche Identificirung von Ortsgemeinde und Armen-
gemeinde nicht in ihrem vollen Umfange zuzulaſſen. Dennoch hat auch
Württemberg ſich derſelben nicht erwehren können. Der Ausdruck jener
freieren Idee des Heimathweſens bildet hier der Gedanke, der mit dem
engliſchen verwandt iſt, die Armenpflicht mit dem Kirchſpiel ſtatt mit
der Ortsgemeinde zu verbinden. Die Sicherheitspolizei indeß, welche
das Vagabundiren beſchränken wollte, und keine durchgeführte Geſtal-
tung größerer Armengemeinden vorfand, ſah ſich mit Anfang unſeres
Jahrhunderts gezwungen, die Unterſtützung der Armen doch der Orts-
gemeinde zuzuweiſen (Verordnung vom 11. September 1807), was dann
in das Gemeindeedict von 1818, und ſpeziell in das Bürgerrechtsgeſetz
vom 15. April 1828 überging. Damit war auch in Württemberg für
die ächt deutſche Frage nach dem Unterſchied zwiſchen Bürger und An-
gehörigen, die hier „Gemeindebeiſitzer“ heißen, eröffnet. Die Verfaſſung
von 1819 beſtimmt §. 61, 63, daß „jeder Staatsbürger einer Gemeinde
als Bürger oder Beiſitzer angehören müſſe.“ Die Aufnahme in
das Staatsbürgerrecht wird dann in der allgemeinen deutſchen, halb
feudalen, halb freien Auffaſſung durch Beſitz, Gewerbe, formelle Auf-
nahme und ein Eintrittsgeld normirt; die zweite wichtige Frage blieb
nach dem Erwerb der Armenzuſtändigkeit, die auch in Württemberg den
eigentlichen Inhalt des Beiſitzerrechts bildet. Bitzer (S. 226—241)
hat die Berathungen und Geſetze, die daraus entſtanden, ſehr gut dar-
geſtellt — merkwürdiger Weiſe ohne Mohl zu benützen, wie er freilich
bei Bayern auch Pözl nicht anführt, und bei Sachſen Funke nicht
zu kennen ſcheint. Offenbar nun ſtehen das Verwaltungsedict vom

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[347/0369] Ortsgemeinde bei der Gleichartigkeit der Armenpflege, noch den immer größeren Anſprüchen entſpricht, welche das Armenweſen machen muß. Daher denn auch die Unmöglichkeit, eine einheitliche Darſtellung zu geben, wie es Pözl, Verfaſſungsrecht §. 29 und 101, Verwal- tungsrecht §. 87 und 92, und die noch reſultatloſere Auffaſſung Bitzers S. 192 zeigen. Es iſt wohl überhaupt das der Uebelſtand bei den Bearbeitungen des poſitiven Verwaltungsrechts, daß ſie ge- wiſſermaßen das Recht verlieren, das was ſie vorfinden, als Ueber- gangsſtadium darzuſtellen, und ſomit die einzige Bedingung der Klarheit, die für ſolche Zuſtände gilt, die hiſtoriſche Kritik nicht für ſich ver- wenden dürfen. Württemberg. Allerdings iſt es nicht zu verkennen, daß der Grundgedanke für Gemeindeangehörigkeit und Heimathsweſen in Württem- berg freier iſt als in Bayern, und es iſt von großem Intereſſe, dieſe Erſcheinung in Uebereinſtimmung mit unſerer Anſicht weſentlich auf die, ſchon urſprünglich in Württemberg zu Tage tretende Tendenz baſirt zu ſehen, jene verderbliche Identificirung von Ortsgemeinde und Armen- gemeinde nicht in ihrem vollen Umfange zuzulaſſen. Dennoch hat auch Württemberg ſich derſelben nicht erwehren können. Der Ausdruck jener freieren Idee des Heimathweſens bildet hier der Gedanke, der mit dem engliſchen verwandt iſt, die Armenpflicht mit dem Kirchſpiel ſtatt mit der Ortsgemeinde zu verbinden. Die Sicherheitspolizei indeß, welche das Vagabundiren beſchränken wollte, und keine durchgeführte Geſtal- tung größerer Armengemeinden vorfand, ſah ſich mit Anfang unſeres Jahrhunderts gezwungen, die Unterſtützung der Armen doch der Orts- gemeinde zuzuweiſen (Verordnung vom 11. September 1807), was dann in das Gemeindeedict von 1818, und ſpeziell in das Bürgerrechtsgeſetz vom 15. April 1828 überging. Damit war auch in Württemberg für die ächt deutſche Frage nach dem Unterſchied zwiſchen Bürger und An- gehörigen, die hier „Gemeindebeiſitzer“ heißen, eröffnet. Die Verfaſſung von 1819 beſtimmt §. 61, 63, daß „jeder Staatsbürger einer Gemeinde als Bürger oder Beiſitzer angehören müſſe.“ Die Aufnahme in das Staatsbürgerrecht wird dann in der allgemeinen deutſchen, halb feudalen, halb freien Auffaſſung durch Beſitz, Gewerbe, formelle Auf- nahme und ein Eintrittsgeld normirt; die zweite wichtige Frage blieb nach dem Erwerb der Armenzuſtändigkeit, die auch in Württemberg den eigentlichen Inhalt des Beiſitzerrechts bildet. Bitzer (S. 226—241) hat die Berathungen und Geſetze, die daraus entſtanden, ſehr gut dar- geſtellt — merkwürdiger Weiſe ohne Mohl zu benützen, wie er freilich bei Bayern auch Pözl nicht anführt, und bei Sachſen Funke nicht zu kennen ſcheint. Offenbar nun ſtehen das Verwaltungsedict vom

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 347. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/369>, abgerufen am 07.05.2024.