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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866.

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sehr untergeordneter Körper der Selbstverwaltung. Mit demselben
aber tritt sofort der Widerspruch auf, daß die meisten Ortsgemeinden
gar nicht dazu im Stande sind. Jene Beschränkung des Gemeinde-
begriffes und der Gemeindeordnungen auf die historische Ortsgemeinde
zeigt daher auch auf diesem Punkte die Unfertigkeit des ganzen deutschen
Gemeindewesens.

Die erste Folge derselben war nämlich die Beibehaltung der histo-
rischen Begriffe und Rechte von Schutzbürgern, Beisassen u. s. w. im
neuen Gemeinderecht. Daß dieselben einen sehr guten Sinn hatten, als
die Landgemeinde als Herrschaft unfrei, die Stadtgemeinde frei war, ist
wohl klar. Sehr schwer dagegen ist zu sagen, was es in heutiger Zeit
bedeuten soll, wenn einige Gemeindeordnungen das Schutzbürgerthum
auf das Recht, von der Gemeinde Schutz zu verlangen, oder den
Satz, daß der Beisasse unter dem "Schutz der Gemeinde" stehe, be-
ziehen. Denn der Schutz und das Gericht, welche derselbe von der
Gemeinde zu verlangen hat, beruhen eben gar nicht auf seinem Schutz-,
sondern auf seinem Staatsbürgerthum. Er hat nicht mehr
und nicht weniger Schutz, als jeder Reisende und Fremde in der Ge-
meinde. Die ganze Vorstellung vom sogenannten Schutzbürgerthum
bedeutet jetzt vielmehr etwas anderes. Es soll das Rechtsverhältniß
des Ankömmlings von dem Augenblick seiner ersten Niederlassung bis
zur "Aufnahme" in das Gemeindebürgerthum, oder das Rechtsverhältniß
des Erwerbens des letzteren bezeichnen. Das hat nur dann einen
Sinn, so lange es erstens noch eine solche Aufnahme gibt, und zweitens
in so fern eine gewisse Dauer des Aufenthalts nothwendig ist, um das
Heimathsrecht zu gewinnen. Ein "Schutzbürger" ist daher ein Ein-
wohner, der noch kein Heimathsrecht an dem Orte seiner Niederlassung
gewonnen hat. In jeder andern Beziehung ist er dem Heimath-
berechtigten gleich. In diesem Sinne aber gehört wieder das sogenannte
Schutzbürgerthum daher überhaupt nicht in das Gemeinderecht, sondern
in das Heimathsrecht. Denkt man sich aber unter dem Schutz-
bürgerthum die Gemeindeangehörigkeit ohne Theilnahme an Wähler-
recht und Wahlfähigkeit, so ist jeder Angehörige ein Schutzbürger, auch
der Heimathberechtigte seit Generationen, ja der reiche Unmündige, und
selbst der oberste Beamte eines Kreises, unter dem die Verwaltung der
Gemeinde steht, ist Schutzbürger dieser von ihm verwalteten Gemeinde.
Man sieht, daß nur die, sogleich zu erwähnende Verschmelzung von
Gemeindeangehörigkeit und Heimathsrecht diesem sonst nur historisch er-
klärbaren Wort einen Sinn gibt. Es ist kein Zweifel, daß das ganze
Verhältniß verschwinden wird, sowie sich eine wahre Gemeindeverfassung
aus den gegenwärtigen Zuständen entwickelt.

ſehr untergeordneter Körper der Selbſtverwaltung. Mit demſelben
aber tritt ſofort der Widerſpruch auf, daß die meiſten Ortsgemeinden
gar nicht dazu im Stande ſind. Jene Beſchränkung des Gemeinde-
begriffes und der Gemeindeordnungen auf die hiſtoriſche Ortsgemeinde
zeigt daher auch auf dieſem Punkte die Unfertigkeit des ganzen deutſchen
Gemeindeweſens.

Die erſte Folge derſelben war nämlich die Beibehaltung der hiſto-
riſchen Begriffe und Rechte von Schutzbürgern, Beiſaſſen u. ſ. w. im
neuen Gemeinderecht. Daß dieſelben einen ſehr guten Sinn hatten, als
die Landgemeinde als Herrſchaft unfrei, die Stadtgemeinde frei war, iſt
wohl klar. Sehr ſchwer dagegen iſt zu ſagen, was es in heutiger Zeit
bedeuten ſoll, wenn einige Gemeindeordnungen das Schutzbürgerthum
auf das Recht, von der Gemeinde Schutz zu verlangen, oder den
Satz, daß der Beiſaſſe unter dem „Schutz der Gemeinde“ ſtehe, be-
ziehen. Denn der Schutz und das Gericht, welche derſelbe von der
Gemeinde zu verlangen hat, beruhen eben gar nicht auf ſeinem Schutz-,
ſondern auf ſeinem Staatsbürgerthum. Er hat nicht mehr
und nicht weniger Schutz, als jeder Reiſende und Fremde in der Ge-
meinde. Die ganze Vorſtellung vom ſogenannten Schutzbürgerthum
bedeutet jetzt vielmehr etwas anderes. Es ſoll das Rechtsverhältniß
des Ankömmlings von dem Augenblick ſeiner erſten Niederlaſſung bis
zur „Aufnahme“ in das Gemeindebürgerthum, oder das Rechtsverhältniß
des Erwerbens des letzteren bezeichnen. Das hat nur dann einen
Sinn, ſo lange es erſtens noch eine ſolche Aufnahme gibt, und zweitens
in ſo fern eine gewiſſe Dauer des Aufenthalts nothwendig iſt, um das
Heimathsrecht zu gewinnen. Ein „Schutzbürger“ iſt daher ein Ein-
wohner, der noch kein Heimathsrecht an dem Orte ſeiner Niederlaſſung
gewonnen hat. In jeder andern Beziehung iſt er dem Heimath-
berechtigten gleich. In dieſem Sinne aber gehört wieder das ſogenannte
Schutzbürgerthum daher überhaupt nicht in das Gemeinderecht, ſondern
in das Heimathsrecht. Denkt man ſich aber unter dem Schutz-
bürgerthum die Gemeindeangehörigkeit ohne Theilnahme an Wähler-
recht und Wahlfähigkeit, ſo iſt jeder Angehörige ein Schutzbürger, auch
der Heimathberechtigte ſeit Generationen, ja der reiche Unmündige, und
ſelbſt der oberſte Beamte eines Kreiſes, unter dem die Verwaltung der
Gemeinde ſteht, iſt Schutzbürger dieſer von ihm verwalteten Gemeinde.
Man ſieht, daß nur die, ſogleich zu erwähnende Verſchmelzung von
Gemeindeangehörigkeit und Heimathsrecht dieſem ſonſt nur hiſtoriſch er-
klärbaren Wort einen Sinn gibt. Es iſt kein Zweifel, daß das ganze
Verhältniß verſchwinden wird, ſowie ſich eine wahre Gemeindeverfaſſung
aus den gegenwärtigen Zuſtänden entwickelt.

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[334/0356] ſehr untergeordneter Körper der Selbſtverwaltung. Mit demſelben aber tritt ſofort der Widerſpruch auf, daß die meiſten Ortsgemeinden gar nicht dazu im Stande ſind. Jene Beſchränkung des Gemeinde- begriffes und der Gemeindeordnungen auf die hiſtoriſche Ortsgemeinde zeigt daher auch auf dieſem Punkte die Unfertigkeit des ganzen deutſchen Gemeindeweſens. Die erſte Folge derſelben war nämlich die Beibehaltung der hiſto- riſchen Begriffe und Rechte von Schutzbürgern, Beiſaſſen u. ſ. w. im neuen Gemeinderecht. Daß dieſelben einen ſehr guten Sinn hatten, als die Landgemeinde als Herrſchaft unfrei, die Stadtgemeinde frei war, iſt wohl klar. Sehr ſchwer dagegen iſt zu ſagen, was es in heutiger Zeit bedeuten ſoll, wenn einige Gemeindeordnungen das Schutzbürgerthum auf das Recht, von der Gemeinde Schutz zu verlangen, oder den Satz, daß der Beiſaſſe unter dem „Schutz der Gemeinde“ ſtehe, be- ziehen. Denn der Schutz und das Gericht, welche derſelbe von der Gemeinde zu verlangen hat, beruhen eben gar nicht auf ſeinem Schutz-, ſondern auf ſeinem Staatsbürgerthum. Er hat nicht mehr und nicht weniger Schutz, als jeder Reiſende und Fremde in der Ge- meinde. Die ganze Vorſtellung vom ſogenannten Schutzbürgerthum bedeutet jetzt vielmehr etwas anderes. Es ſoll das Rechtsverhältniß des Ankömmlings von dem Augenblick ſeiner erſten Niederlaſſung bis zur „Aufnahme“ in das Gemeindebürgerthum, oder das Rechtsverhältniß des Erwerbens des letzteren bezeichnen. Das hat nur dann einen Sinn, ſo lange es erſtens noch eine ſolche Aufnahme gibt, und zweitens in ſo fern eine gewiſſe Dauer des Aufenthalts nothwendig iſt, um das Heimathsrecht zu gewinnen. Ein „Schutzbürger“ iſt daher ein Ein- wohner, der noch kein Heimathsrecht an dem Orte ſeiner Niederlaſſung gewonnen hat. In jeder andern Beziehung iſt er dem Heimath- berechtigten gleich. In dieſem Sinne aber gehört wieder das ſogenannte Schutzbürgerthum daher überhaupt nicht in das Gemeinderecht, ſondern in das Heimathsrecht. Denkt man ſich aber unter dem Schutz- bürgerthum die Gemeindeangehörigkeit ohne Theilnahme an Wähler- recht und Wahlfähigkeit, ſo iſt jeder Angehörige ein Schutzbürger, auch der Heimathberechtigte ſeit Generationen, ja der reiche Unmündige, und ſelbſt der oberſte Beamte eines Kreiſes, unter dem die Verwaltung der Gemeinde ſteht, iſt Schutzbürger dieſer von ihm verwalteten Gemeinde. Man ſieht, daß nur die, ſogleich zu erwähnende Verſchmelzung von Gemeindeangehörigkeit und Heimathsrecht dieſem ſonſt nur hiſtoriſch er- klärbaren Wort einen Sinn gibt. Es iſt kein Zweifel, daß das ganze Verhältniß verſchwinden wird, ſowie ſich eine wahre Gemeindeverfaſſung aus den gegenwärtigen Zuſtänden entwickelt.

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 334. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/356>, abgerufen am 22.11.2024.