Eine freie Gemeindeverfassung war und blieb das nächste Ziel der frei- heitlichen Bestrebungen. Dazu kam, daß die Neugestaltung des deutschen Reiches eine Unzahl von früher selbständigen Gemeinden in die neuen Staaten eingereiht hatte, die deßhalb einer neuen Ordnung bedurften. Die große Verfassungsbewegung begann daher mit den neuen Gemeinde- verfassungen; bei einigen Staaten, namentlich den Elbstaaten, kam es auch dazu nicht, bei andern wie in Preußen, blieb man dabei stehen, aber bei einigen, wie namentlich im Süden, wurden diese Gemeinde- verfassungen integrirende Theile der Staatsverfassung. Aber seit 1808, wo die erste verfassungsmäßige Gemeindeordnung in Preußen erschien, glaubte man mit der Frage nach dem Gemeinderecht die wesentlichste Seite der Verfassung erfüllt oder doch vorbereitet zu haben.
Das war nun recht gut. Allein indem man das forderte, übersah man gänzlich, daß man eigentlich gar keinen Begriff von der Gemeinde habe, und daher auch unfähig war, selbst bei voll- kommenster Freiheit der Gesetzgebung, sich eine wirklich eigenthümliche und genügende Verfassung der Gemeinden zu schaffen. Wir haben in der vollziehenden Gewalt dargelegt, daß dieser Begriff, der nicht so gar einfach und nicht mit dem vieldeutigen und unklaren Wort "Ge- meinde" schon gegeben ist, auch jetzt noch nicht existirt. Anstatt nun zu fragen, was denn eigentlich eine Gemeinde als Selbstverwaltungs- körper sei oder sein solle, ergriff man den nächstliegenden Weg, und nahm die deutsche historische Ortsgemeinde für die wahre Gemeinde, indem man alle im Wesen der Gemeinde liegenden organischen Begriffe und Rechte ohne weiteres auf diese thatsächliche, historisch gewordene Ortsgemeinde übertrug. Man kann nicht nachdrücklich genug diese große historische Thatsache hervorheben, denn sie ist es, welche dem deutschen Gemeindewesen und allem was sich an sie schließt, namentlich auch der Verwaltungsordnung der Bevölkerung, ihre ganze gegenwärtige Gestalt, all ihre Einseitigkeiten und Verschieden- heiten, all ihr nur zu oft fühlbares Ungenügen gegeben hat. Denn vermöge dieser Uebertragung des Begriffs der Gemeinde und der freien örtlichen Selbstverwaltung auf die historische Ortsgemeinde wollte man das gesammte Gemeindewesen der Staaten auf die gleichen Kategorien der Verfassung und Verwaltung reduciren, obwohl man zugleich die Ortsgemeinde als historisch berechtigten, mit seinen Gränzen gegebenen Körper annahm. Dieß war ein unlösbarer Widerspruch, und dieser Widerspruch zeigte bald seine Folgen; Folgen, die zu übersehen die ganze Einseitigkeit der deutschen Publicistik nicht immer ausreichte.
Um nämlich die örtliche freie Selbstverwaltung als Gemeinde her- zustellen, bedarf es zweier unbedingter Voraussetzungen. Zuerst muß
Eine freie Gemeindeverfaſſung war und blieb das nächſte Ziel der frei- heitlichen Beſtrebungen. Dazu kam, daß die Neugeſtaltung des deutſchen Reiches eine Unzahl von früher ſelbſtändigen Gemeinden in die neuen Staaten eingereiht hatte, die deßhalb einer neuen Ordnung bedurften. Die große Verfaſſungsbewegung begann daher mit den neuen Gemeinde- verfaſſungen; bei einigen Staaten, namentlich den Elbſtaaten, kam es auch dazu nicht, bei andern wie in Preußen, blieb man dabei ſtehen, aber bei einigen, wie namentlich im Süden, wurden dieſe Gemeinde- verfaſſungen integrirende Theile der Staatsverfaſſung. Aber ſeit 1808, wo die erſte verfaſſungsmäßige Gemeindeordnung in Preußen erſchien, glaubte man mit der Frage nach dem Gemeinderecht die weſentlichſte Seite der Verfaſſung erfüllt oder doch vorbereitet zu haben.
Das war nun recht gut. Allein indem man das forderte, überſah man gänzlich, daß man eigentlich gar keinen Begriff von der Gemeinde habe, und daher auch unfähig war, ſelbſt bei voll- kommenſter Freiheit der Geſetzgebung, ſich eine wirklich eigenthümliche und genügende Verfaſſung der Gemeinden zu ſchaffen. Wir haben in der vollziehenden Gewalt dargelegt, daß dieſer Begriff, der nicht ſo gar einfach und nicht mit dem vieldeutigen und unklaren Wort „Ge- meinde“ ſchon gegeben iſt, auch jetzt noch nicht exiſtirt. Anſtatt nun zu fragen, was denn eigentlich eine Gemeinde als Selbſtverwaltungs- körper ſei oder ſein ſolle, ergriff man den nächſtliegenden Weg, und nahm die deutſche hiſtoriſche Ortsgemeinde für die wahre Gemeinde, indem man alle im Weſen der Gemeinde liegenden organiſchen Begriffe und Rechte ohne weiteres auf dieſe thatſächliche, hiſtoriſch gewordene Ortsgemeinde übertrug. Man kann nicht nachdrücklich genug dieſe große hiſtoriſche Thatſache hervorheben, denn ſie iſt es, welche dem deutſchen Gemeindeweſen und allem was ſich an ſie ſchließt, namentlich auch der Verwaltungsordnung der Bevölkerung, ihre ganze gegenwärtige Geſtalt, all ihre Einſeitigkeiten und Verſchieden- heiten, all ihr nur zu oft fühlbares Ungenügen gegeben hat. Denn vermöge dieſer Uebertragung des Begriffs der Gemeinde und der freien örtlichen Selbſtverwaltung auf die hiſtoriſche Ortsgemeinde wollte man das geſammte Gemeindeweſen der Staaten auf die gleichen Kategorien der Verfaſſung und Verwaltung reduciren, obwohl man zugleich die Ortsgemeinde als hiſtoriſch berechtigten, mit ſeinen Gränzen gegebenen Körper annahm. Dieß war ein unlösbarer Widerſpruch, und dieſer Widerſpruch zeigte bald ſeine Folgen; Folgen, die zu überſehen die ganze Einſeitigkeit der deutſchen Publiciſtik nicht immer ausreichte.
Um nämlich die örtliche freie Selbſtverwaltung als Gemeinde her- zuſtellen, bedarf es zweier unbedingter Vorausſetzungen. Zuerſt muß
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Eine freie Gemeindeverfaſſung war und blieb das nächſte Ziel der frei-
heitlichen Beſtrebungen. Dazu kam, daß die Neugeſtaltung des deutſchen
Reiches eine Unzahl von früher ſelbſtändigen Gemeinden in die neuen
Staaten eingereiht hatte, die deßhalb einer neuen Ordnung bedurften.
Die große Verfaſſungsbewegung begann daher mit den neuen Gemeinde-
verfaſſungen; bei einigen Staaten, namentlich den Elbſtaaten, kam es
auch dazu nicht, bei andern wie in Preußen, blieb man dabei ſtehen,
aber bei einigen, wie namentlich im Süden, wurden dieſe Gemeinde-
verfaſſungen integrirende Theile der Staatsverfaſſung. Aber ſeit 1808,
wo die erſte verfaſſungsmäßige Gemeindeordnung in Preußen erſchien,
glaubte man mit der Frage nach dem Gemeinderecht die weſentlichſte
Seite der Verfaſſung erfüllt oder doch vorbereitet zu haben.
Das war nun recht gut. Allein indem man das forderte, überſah
man gänzlich, daß man eigentlich gar keinen Begriff von der
Gemeinde habe, und daher auch unfähig war, ſelbſt bei voll-
kommenſter Freiheit der Geſetzgebung, ſich eine wirklich eigenthümliche
und genügende Verfaſſung der Gemeinden zu ſchaffen. Wir haben
in der vollziehenden Gewalt dargelegt, daß dieſer Begriff, der nicht ſo
gar einfach und nicht mit dem vieldeutigen und unklaren Wort „Ge-
meinde“ ſchon gegeben iſt, auch jetzt noch nicht exiſtirt. Anſtatt nun
zu fragen, was denn eigentlich eine Gemeinde als Selbſtverwaltungs-
körper ſei oder ſein ſolle, ergriff man den nächſtliegenden Weg, und
nahm die deutſche hiſtoriſche Ortsgemeinde für die wahre
Gemeinde, indem man alle im Weſen der Gemeinde liegenden
organiſchen Begriffe und Rechte ohne weiteres auf dieſe thatſächliche,
hiſtoriſch gewordene Ortsgemeinde übertrug. Man kann nicht
nachdrücklich genug dieſe große hiſtoriſche Thatſache hervorheben, denn
ſie iſt es, welche dem deutſchen Gemeindeweſen und allem was ſich an
ſie ſchließt, namentlich auch der Verwaltungsordnung der Bevölkerung,
ihre ganze gegenwärtige Geſtalt, all ihre Einſeitigkeiten und Verſchieden-
heiten, all ihr nur zu oft fühlbares Ungenügen gegeben hat. Denn
vermöge dieſer Uebertragung des Begriffs der Gemeinde und der freien
örtlichen Selbſtverwaltung auf die hiſtoriſche Ortsgemeinde wollte man
das geſammte Gemeindeweſen der Staaten auf die gleichen Kategorien
der Verfaſſung und Verwaltung reduciren, obwohl man zugleich die
Ortsgemeinde als hiſtoriſch berechtigten, mit ſeinen Gränzen gegebenen
Körper annahm. Dieß war ein unlösbarer Widerſpruch, und dieſer
Widerſpruch zeigte bald ſeine Folgen; Folgen, die zu überſehen die
ganze Einſeitigkeit der deutſchen Publiciſtik nicht immer ausreichte.
Um nämlich die örtliche freie Selbſtverwaltung als Gemeinde her-
zuſtellen, bedarf es zweier unbedingter Vorausſetzungen. Zuerſt muß
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 330. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/352>, abgerufen am 16.02.2025.
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