Gegensatze zu England und Deutschland, auf zwei Elementen. Einer- seits war sie die Aufgabe selbständiger Armencorporationen mit eigenem Besitz oder selbstverwalteten Armenstiftungen, andererseits er- schien sie als eine rein christliche und freie Pflicht des Einzelnen, die durch freie Beiträge erfüllt ward. Dieser Unterschied war es, der der Armenpflege ihre noch bis jetzt gültige Gestalt gegeben hat. Jene Armenstiftungen waren nämlich fast ausnahmslos nicht für Erwerbslose oder für die wirthschaftliche Armuth, sondern für Erwerbsunfähige, oder für die persönliche Armuth, also für Kranke und Gebrechliche be- stimmt, und zwar wie alle rein kirchlichen Armenanstalten, ohne Rücksicht auf die Angehörigkeit an eine bestimmte Gemeinde. Sie hatte daher vermöge dieser ihrer kirchlichen Natur den rein staatlichen, allge- meinen Charakter. Der bloß Erwerbslose hatte somit zwar kein Recht auf eine Armenunterstützung vermöge eines Gesetzes wie England, und das Heimathsrecht für ihn besaß daher keinen Werth, allein der Kranke wurde vermöge jener Natur der Armenstiftungen aufgenommen, ohne daß er dagegen die Verpflichtung gehabt hätte, für die Hülfe in jenen Stiftungen, namentlich in den Krankenhäusern, eine Gemeindeange- hörigkeit oder ein Heimathsrecht nachzuweisen. So viel man nun auch von der tiefen Umgestaltung des Armenwesens durch die franzö- sische Revolution geredet hat (neulich noch Bitzer, der in ihr eine "ent- schieden andere Richtung" findet, S. 32), so ist doch das Armenrecht der letzteren nur eine systematischere Durchführung der obigen Verhält- nisse. Allerdings zog die Revolution die Güter dieser Stiftungen theils ein, theils stellte sie dieselben unter die Aufsicht der Ortsbehörden, und erklärte deßhalb die Unterhaltung der Armen für eine "Nationalschuld," allein in der That war das doch nur ein anderer Ausdruck für das obige Verhältniß. Das Gesetz vom 24. vend. an II. führte ein allge- meines Heimathsrecht ein, indem jeder Arme, also nicht bloß die Kranken und Gebrechlichen (persönlich Armen), durch einjährigen Wohnsitz das Recht auf Unterstützung gewinnen sollte. Indeß beruhte dieß Gesetz trotz aller schönen Reden der Convention am Ende auf der Confiscation der Güter der Hopitaux und Hospices. Das Gesetz vom 16. vend. an V. (September 1796) gab den Armenstiftungen ihr Vermögen zurück, hob die Pflicht der Heimathsgemeinde zur Unterstützung der wirthschaft- lichen Armen dagegen auf, und indem es diese Unterstützung wieder zu einer freien Pflicht machte, die auf rein sittlichen Momenten und nicht auf einer administrativen Verpflichtung beruhte, machte es das im Jahre 1793 aufgestellte allgemeine Heimathsrecht ganz inhaltslos. Es stellte vielmehr die gesammte Armenunterstützung wesentlich auf den Standpunkt, den sie vor der Revolution inne hatte, und dieses
Gegenſatze zu England und Deutſchland, auf zwei Elementen. Einer- ſeits war ſie die Aufgabe ſelbſtändiger Armencorporationen mit eigenem Beſitz oder ſelbſtverwalteten Armenſtiftungen, andererſeits er- ſchien ſie als eine rein chriſtliche und freie Pflicht des Einzelnen, die durch freie Beiträge erfüllt ward. Dieſer Unterſchied war es, der der Armenpflege ihre noch bis jetzt gültige Geſtalt gegeben hat. Jene Armenſtiftungen waren nämlich faſt ausnahmslos nicht für Erwerbsloſe oder für die wirthſchaftliche Armuth, ſondern für Erwerbsunfähige, oder für die perſönliche Armuth, alſo für Kranke und Gebrechliche be- ſtimmt, und zwar wie alle rein kirchlichen Armenanſtalten, ohne Rückſicht auf die Angehörigkeit an eine beſtimmte Gemeinde. Sie hatte daher vermöge dieſer ihrer kirchlichen Natur den rein ſtaatlichen, allge- meinen Charakter. Der bloß Erwerbsloſe hatte ſomit zwar kein Recht auf eine Armenunterſtützung vermöge eines Geſetzes wie England, und das Heimathsrecht für ihn beſaß daher keinen Werth, allein der Kranke wurde vermöge jener Natur der Armenſtiftungen aufgenommen, ohne daß er dagegen die Verpflichtung gehabt hätte, für die Hülfe in jenen Stiftungen, namentlich in den Krankenhäuſern, eine Gemeindeange- hörigkeit oder ein Heimathsrecht nachzuweiſen. So viel man nun auch von der tiefen Umgeſtaltung des Armenweſens durch die franzö- ſiſche Revolution geredet hat (neulich noch Bitzer, der in ihr eine „ent- ſchieden andere Richtung“ findet, S. 32), ſo iſt doch das Armenrecht der letzteren nur eine ſyſtematiſchere Durchführung der obigen Verhält- niſſe. Allerdings zog die Revolution die Güter dieſer Stiftungen theils ein, theils ſtellte ſie dieſelben unter die Aufſicht der Ortsbehörden, und erklärte deßhalb die Unterhaltung der Armen für eine „Nationalſchuld,“ allein in der That war das doch nur ein anderer Ausdruck für das obige Verhältniß. Das Geſetz vom 24. vend. an II. führte ein allge- meines Heimathsrecht ein, indem jeder Arme, alſo nicht bloß die Kranken und Gebrechlichen (perſönlich Armen), durch einjährigen Wohnſitz das Recht auf Unterſtützung gewinnen ſollte. Indeß beruhte dieß Geſetz trotz aller ſchönen Reden der Convention am Ende auf der Confiscation der Güter der Hôpitaux und Hospices. Das Geſetz vom 16. vend. an V. (September 1796) gab den Armenſtiftungen ihr Vermögen zurück, hob die Pflicht der Heimathsgemeinde zur Unterſtützung der wirthſchaft- lichen Armen dagegen auf, und indem es dieſe Unterſtützung wieder zu einer freien Pflicht machte, die auf rein ſittlichen Momenten und nicht auf einer adminiſtrativen Verpflichtung beruhte, machte es das im Jahre 1793 aufgeſtellte allgemeine Heimathsrecht ganz inhaltslos. Es ſtellte vielmehr die geſammte Armenunterſtützung weſentlich auf den Standpunkt, den ſie vor der Revolution inne hatte, und dieſes
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Gegenſatze zu England und Deutſchland, auf zwei Elementen. Einer-
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ſchien ſie als eine rein chriſtliche und freie Pflicht des Einzelnen, die
durch freie Beiträge erfüllt ward. Dieſer Unterſchied war es, der der
Armenpflege ihre noch bis jetzt gültige Geſtalt gegeben hat. Jene
Armenſtiftungen waren nämlich faſt ausnahmslos nicht für Erwerbsloſe
oder für die wirthſchaftliche Armuth, ſondern für Erwerbsunfähige,
oder für die perſönliche Armuth, alſo für Kranke und Gebrechliche be-
ſtimmt, und zwar wie alle rein kirchlichen Armenanſtalten, ohne
Rückſicht auf die Angehörigkeit an eine beſtimmte Gemeinde. Sie hatte
daher vermöge dieſer ihrer kirchlichen Natur den rein ſtaatlichen, allge-
meinen Charakter. Der bloß Erwerbsloſe hatte ſomit zwar kein Recht
auf eine Armenunterſtützung vermöge eines Geſetzes wie England, und
das Heimathsrecht für ihn beſaß daher keinen Werth, allein der Kranke
wurde vermöge jener Natur der Armenſtiftungen aufgenommen, ohne
daß er dagegen die Verpflichtung gehabt hätte, für die Hülfe in jenen
Stiftungen, namentlich in den Krankenhäuſern, eine Gemeindeange-
hörigkeit oder ein Heimathsrecht nachzuweiſen. So viel man nun
auch von der tiefen Umgeſtaltung des Armenweſens durch die franzö-
ſiſche Revolution geredet hat (neulich noch Bitzer, der in ihr eine „ent-
ſchieden andere Richtung“ findet, S. 32), ſo iſt doch das Armenrecht
der letzteren nur eine ſyſtematiſchere Durchführung der obigen Verhält-
niſſe. Allerdings zog die Revolution die Güter dieſer Stiftungen theils
ein, theils ſtellte ſie dieſelben unter die Aufſicht der Ortsbehörden, und
erklärte deßhalb die Unterhaltung der Armen für eine „Nationalſchuld,“
allein in der That war das doch nur ein anderer Ausdruck für das
obige Verhältniß. Das Geſetz vom 24. vend. an II. führte ein allge-
meines Heimathsrecht ein, indem jeder Arme, alſo nicht bloß die
Kranken und Gebrechlichen (perſönlich Armen), durch einjährigen Wohnſitz
das Recht auf Unterſtützung gewinnen ſollte. Indeß beruhte dieß Geſetz
trotz aller ſchönen Reden der Convention am Ende auf der Confiscation
der Güter der Hôpitaux und Hospices. Das Geſetz vom 16. vend.
an V. (September 1796) gab den Armenſtiftungen ihr Vermögen zurück,
hob die Pflicht der Heimathsgemeinde zur Unterſtützung der wirthſchaft-
lichen Armen dagegen auf, und indem es dieſe Unterſtützung wieder zu
einer freien Pflicht machte, die auf rein ſittlichen Momenten und
nicht auf einer adminiſtrativen Verpflichtung beruhte, machte es das im
Jahre 1793 aufgeſtellte allgemeine Heimathsrecht ganz inhaltslos. Es
ſtellte vielmehr die geſammte Armenunterſtützung weſentlich auf den
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 304. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/326>, abgerufen am 24.11.2024.
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