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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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und spezielle, meist processualische Verfügungen hinein. Die Nothwendig-
keit ein gleiches Recht zu haben und die Unmöglichkeit, Rechtsgesetzliches
durch das ganze Volk berathen und beschließen zu lassen, machen diese
Gesetzgebung durch das Königthum auch auf dem Gebiete des Rechts
in der Form von Verordnungen nothwendig. Da von einer vollziehen-
den Gewalt außerhalb des richterlichen Urtheils noch nicht die Rede
ist, so wird auch das Bedürfniß nicht empfunden, ein Recht der Gesetze
dem Recht der Verordnung entgegenzustellen. Die Vorstellung von dem
Recht des römischen Kaisers, Verordnungen zu erlassen mit voller Gül-
tigkeit (constitutiones quae legis habent vigorem) geht in dieser Weise
auf die Carolinger über. Alle Unterschiede verwischen sich daher in
dem Begriff des "geltenden Rechts," das aus den Volksrechten und den
königlichen Verordnungen zugleich besteht, ohne daß man von einer
Verschiedenheit ihres Rechts reden konnte. Das ist die Zeit der Capi-
tularien und der ihnen mit gleichem Recht zur Seite stehenden leges
barbarorum
.

Ganz anders gestaltet sich das Verhältniß zur Zeit des Lehens-
wesens. Das Lehenswesen beruht auf dem Begriff des Eigenthums
an den staatlichen Rechten, welche mit dem Grundbesitz verschmolzen
sind. Dieser Begriff schließt jede andere Form der Verwaltung als die
der Rechtspflege aus. Es gibt daher hier gar keine allgemeine Gesetz-
gebung, gar kein gemeingültiges Gesetz mehr; denn das Volk ist in zwei
Stände aufgelöst, und jedes Mitglied des herrschenden Standes ist auf
seinem Grund und Boden souverain. Jeder Lehensherr hat daher jetzt
für seinen Besitz das Recht der Staatsgewalt auf Gesetzgebung und
Verordnung zugleich; der König aber ist ein oberster Lehensherr. Er
hat daher keine andere vollziehende Gewalt als jeder Lehensherr, d. h.
für seinen eigenen Besitz. Der Staat hat seinen Inhalt verloren;
er ist in örtliche Selbstherrlichkeiten aufgelöst; Gesetz und Verordnung
sind nicht eben vermischt, sondern sie sind eigentlich geradezu verloren.

Aus diesem Verhältniß tritt der Staat nun zuerst hinaus durch
die Hoheitsrechte. Die Hoheitsrechte, Regalien, bilden sich als
das Gebiet der Rechte und Pflichten des Staats gegenüber der Sou-
veränetät der Grundherrlichkeit; da aber der Staat in der Person des
Königs noch getrennt vom Volksleben dasteht, so erscheinen die Regalien
gleichfalls unter dem Grundbegriffe des öffentlichen Rechts im Lehen-
wesen, dem lehensherrlichen Eigenthum des Königs. Es folgt, daß
diese Regalien sich der Bestimmung durch den Volkswillen -- der Ge-
setzgebung -- gleich bei ihrem Entstehen entziehen; sie sind Rechte des
Königthums, und damit ist auch der Satz unbezweifelt, daß sie und
ihre Ordnung nur der Verordnungsgewalt unterliegen.


und ſpezielle, meiſt proceſſualiſche Verfügungen hinein. Die Nothwendig-
keit ein gleiches Recht zu haben und die Unmöglichkeit, Rechtsgeſetzliches
durch das ganze Volk berathen und beſchließen zu laſſen, machen dieſe
Geſetzgebung durch das Königthum auch auf dem Gebiete des Rechts
in der Form von Verordnungen nothwendig. Da von einer vollziehen-
den Gewalt außerhalb des richterlichen Urtheils noch nicht die Rede
iſt, ſo wird auch das Bedürfniß nicht empfunden, ein Recht der Geſetze
dem Recht der Verordnung entgegenzuſtellen. Die Vorſtellung von dem
Recht des römiſchen Kaiſers, Verordnungen zu erlaſſen mit voller Gül-
tigkeit (constitutiones quae legis habent vigorem) geht in dieſer Weiſe
auf die Carolinger über. Alle Unterſchiede verwiſchen ſich daher in
dem Begriff des „geltenden Rechts,“ das aus den Volksrechten und den
königlichen Verordnungen zugleich beſteht, ohne daß man von einer
Verſchiedenheit ihres Rechts reden konnte. Das iſt die Zeit der Capi-
tularien und der ihnen mit gleichem Recht zur Seite ſtehenden leges
barbarorum
.

Ganz anders geſtaltet ſich das Verhältniß zur Zeit des Lehens-
weſens. Das Lehensweſen beruht auf dem Begriff des Eigenthums
an den ſtaatlichen Rechten, welche mit dem Grundbeſitz verſchmolzen
ſind. Dieſer Begriff ſchließt jede andere Form der Verwaltung als die
der Rechtspflege aus. Es gibt daher hier gar keine allgemeine Geſetz-
gebung, gar kein gemeingültiges Geſetz mehr; denn das Volk iſt in zwei
Stände aufgelöst, und jedes Mitglied des herrſchenden Standes iſt auf
ſeinem Grund und Boden ſouverain. Jeder Lehensherr hat daher jetzt
für ſeinen Beſitz das Recht der Staatsgewalt auf Geſetzgebung und
Verordnung zugleich; der König aber iſt ein oberſter Lehensherr. Er
hat daher keine andere vollziehende Gewalt als jeder Lehensherr, d. h.
für ſeinen eigenen Beſitz. Der Staat hat ſeinen Inhalt verloren;
er iſt in örtliche Selbſtherrlichkeiten aufgelöst; Geſetz und Verordnung
ſind nicht eben vermiſcht, ſondern ſie ſind eigentlich geradezu verloren.

Aus dieſem Verhältniß tritt der Staat nun zuerſt hinaus durch
die Hoheitsrechte. Die Hoheitsrechte, Regalien, bilden ſich als
das Gebiet der Rechte und Pflichten des Staats gegenüber der Sou-
veränetät der Grundherrlichkeit; da aber der Staat in der Perſon des
Königs noch getrennt vom Volksleben daſteht, ſo erſcheinen die Regalien
gleichfalls unter dem Grundbegriffe des öffentlichen Rechts im Lehen-
weſen, dem lehensherrlichen Eigenthum des Königs. Es folgt, daß
dieſe Regalien ſich der Beſtimmung durch den Volkswillen — der Ge-
ſetzgebung — gleich bei ihrem Entſtehen entziehen; ſie ſind Rechte des
Königthums, und damit iſt auch der Satz unbezweifelt, daß ſie und
ihre Ordnung nur der Verordnungsgewalt unterliegen.


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[56/0080] und ſpezielle, meiſt proceſſualiſche Verfügungen hinein. Die Nothwendig- keit ein gleiches Recht zu haben und die Unmöglichkeit, Rechtsgeſetzliches durch das ganze Volk berathen und beſchließen zu laſſen, machen dieſe Geſetzgebung durch das Königthum auch auf dem Gebiete des Rechts in der Form von Verordnungen nothwendig. Da von einer vollziehen- den Gewalt außerhalb des richterlichen Urtheils noch nicht die Rede iſt, ſo wird auch das Bedürfniß nicht empfunden, ein Recht der Geſetze dem Recht der Verordnung entgegenzuſtellen. Die Vorſtellung von dem Recht des römiſchen Kaiſers, Verordnungen zu erlaſſen mit voller Gül- tigkeit (constitutiones quae legis habent vigorem) geht in dieſer Weiſe auf die Carolinger über. Alle Unterſchiede verwiſchen ſich daher in dem Begriff des „geltenden Rechts,“ das aus den Volksrechten und den königlichen Verordnungen zugleich beſteht, ohne daß man von einer Verſchiedenheit ihres Rechts reden konnte. Das iſt die Zeit der Capi- tularien und der ihnen mit gleichem Recht zur Seite ſtehenden leges barbarorum. Ganz anders geſtaltet ſich das Verhältniß zur Zeit des Lehens- weſens. Das Lehensweſen beruht auf dem Begriff des Eigenthums an den ſtaatlichen Rechten, welche mit dem Grundbeſitz verſchmolzen ſind. Dieſer Begriff ſchließt jede andere Form der Verwaltung als die der Rechtspflege aus. Es gibt daher hier gar keine allgemeine Geſetz- gebung, gar kein gemeingültiges Geſetz mehr; denn das Volk iſt in zwei Stände aufgelöst, und jedes Mitglied des herrſchenden Standes iſt auf ſeinem Grund und Boden ſouverain. Jeder Lehensherr hat daher jetzt für ſeinen Beſitz das Recht der Staatsgewalt auf Geſetzgebung und Verordnung zugleich; der König aber iſt ein oberſter Lehensherr. Er hat daher keine andere vollziehende Gewalt als jeder Lehensherr, d. h. für ſeinen eigenen Beſitz. Der Staat hat ſeinen Inhalt verloren; er iſt in örtliche Selbſtherrlichkeiten aufgelöst; Geſetz und Verordnung ſind nicht eben vermiſcht, ſondern ſie ſind eigentlich geradezu verloren. Aus dieſem Verhältniß tritt der Staat nun zuerſt hinaus durch die Hoheitsrechte. Die Hoheitsrechte, Regalien, bilden ſich als das Gebiet der Rechte und Pflichten des Staats gegenüber der Sou- veränetät der Grundherrlichkeit; da aber der Staat in der Perſon des Königs noch getrennt vom Volksleben daſteht, ſo erſcheinen die Regalien gleichfalls unter dem Grundbegriffe des öffentlichen Rechts im Lehen- weſen, dem lehensherrlichen Eigenthum des Königs. Es folgt, daß dieſe Regalien ſich der Beſtimmung durch den Volkswillen — der Ge- ſetzgebung — gleich bei ihrem Entſtehen entziehen; ſie ſind Rechte des Königthums, und damit iſt auch der Satz unbezweifelt, daß ſie und ihre Ordnung nur der Verordnungsgewalt unterliegen.

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/80>, abgerufen am 26.11.2024.