Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Lehre von der vollziehenden Gewalt.
Wesen der vollziehenden Gewalt.

Die Lehre von der vollziehenden Gewalt ist nur dann ihrem ganzen
Inhalte nach darzustellen, wenn man dieselbe nunmehr von dem höhern
von uns aufgestellten Standpunkte betrachtet.

Das was wir die vollziehende Gewalt nennen, erscheint jetzt näm-
lich nicht etwa bloß als diejenige Thätigkeit, welche nur die Funktion
hat, den Willen des Staats äußerlich zu verwirklichen; sie ist im
Gegentheil die That des Staats in höchster und weitester Bedeutung.
Sie soll daher das Wesen des Staats zur Verwirklichung bringen, und
zwar innerhalb der Welt der äußern Thatsachen. Sie ist daher nicht
nur kein isolirtes, und noch weniger ein untergeordnetes Glied. Sie
umfaßt nicht bloß äußerlich das Staatsleben auf allen Punkten mit
ihren materiellen Wirkungen, sie ist nicht bloß allgegenwärtig in dem-
selben, allgegenwärtiger sogar als der bestimmte Wille des Staats, das
Gesetz; sie reicht nicht bloß vom Staatsoberhaupt bis zum untersten
Staatsdiener wie eine große organische und doch einheitliche Macht,
sondern sie ist zuletzt das Organ der gesammten positiven Verwirklichung
der Staatsidee. Sie kann darum ihrer wahren Aufgabe nicht durch
einen mechanischen Dienst gegenüber dem Gesetze genügen; sie muß viel-
mehr von dem Wesen, von den Forderungen, von den Zielen der Staats-
idee innerlich durchdrungen sein, immer eben so sehr, oft noch lebendi-
ger als die Gesetzgebung, weil sie die Staatsidee mitten unter den
Verschiedenheiten örtlicher und zeitlicher Zustände festhalten soll; ja sie
muß beständig das Gesetz ersetzen, über dasselbe hinausgehen, es im
Grunde noch breiter auffassen als die Gesetzgebung selbst, denn wo das
Gesetz mangelt, da ist sie selbst die höchste Gewalt. Es ist daher nichts
unverständiger, als von einer Unterordnung der Vollziehung unter das
Gesetz zu reden, denn das Gesetz ist ja selbst nur ein formeller Ausdruck
dieser Staatsidee in einem einzelnen Gebiete, eine Seele, welcher erst

Die Lehre von der vollziehenden Gewalt.
Weſen der vollziehenden Gewalt.

Die Lehre von der vollziehenden Gewalt iſt nur dann ihrem ganzen
Inhalte nach darzuſtellen, wenn man dieſelbe nunmehr von dem höhern
von uns aufgeſtellten Standpunkte betrachtet.

Das was wir die vollziehende Gewalt nennen, erſcheint jetzt näm-
lich nicht etwa bloß als diejenige Thätigkeit, welche nur die Funktion
hat, den Willen des Staats äußerlich zu verwirklichen; ſie iſt im
Gegentheil die That des Staats in höchſter und weiteſter Bedeutung.
Sie ſoll daher das Weſen des Staats zur Verwirklichung bringen, und
zwar innerhalb der Welt der äußern Thatſachen. Sie iſt daher nicht
nur kein iſolirtes, und noch weniger ein untergeordnetes Glied. Sie
umfaßt nicht bloß äußerlich das Staatsleben auf allen Punkten mit
ihren materiellen Wirkungen, ſie iſt nicht bloß allgegenwärtig in dem-
ſelben, allgegenwärtiger ſogar als der beſtimmte Wille des Staats, das
Geſetz; ſie reicht nicht bloß vom Staatsoberhaupt bis zum unterſten
Staatsdiener wie eine große organiſche und doch einheitliche Macht,
ſondern ſie iſt zuletzt das Organ der geſammten poſitiven Verwirklichung
der Staatsidee. Sie kann darum ihrer wahren Aufgabe nicht durch
einen mechaniſchen Dienſt gegenüber dem Geſetze genügen; ſie muß viel-
mehr von dem Weſen, von den Forderungen, von den Zielen der Staats-
idee innerlich durchdrungen ſein, immer eben ſo ſehr, oft noch lebendi-
ger als die Geſetzgebung, weil ſie die Staatsidee mitten unter den
Verſchiedenheiten örtlicher und zeitlicher Zuſtände feſthalten ſoll; ja ſie
muß beſtändig das Geſetz erſetzen, über daſſelbe hinausgehen, es im
Grunde noch breiter auffaſſen als die Geſetzgebung ſelbſt, denn wo das
Geſetz mangelt, da iſt ſie ſelbſt die höchſte Gewalt. Es iſt daher nichts
unverſtändiger, als von einer Unterordnung der Vollziehung unter das
Geſetz zu reden, denn das Geſetz iſt ja ſelbſt nur ein formeller Ausdruck
dieſer Staatsidee in einem einzelnen Gebiete, eine Seele, welcher erſt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0055" n="[31]"/>
      <div n="1">
        <head><hi rendition="#b">Die Lehre von der vollziehenden Gewalt.</hi><lb/>
We&#x017F;en der vollziehenden Gewalt.</head><lb/>
        <p>Die Lehre von der vollziehenden Gewalt i&#x017F;t nur dann ihrem ganzen<lb/>
Inhalte nach darzu&#x017F;tellen, wenn man die&#x017F;elbe nunmehr von dem höhern<lb/>
von uns aufge&#x017F;tellten Standpunkte betrachtet.</p><lb/>
        <p>Das was wir die vollziehende Gewalt nennen, er&#x017F;cheint jetzt näm-<lb/>
lich nicht etwa bloß als diejenige Thätigkeit, welche nur die Funktion<lb/>
hat, den Willen des Staats äußerlich zu verwirklichen; &#x017F;ie i&#x017F;t im<lb/>
Gegentheil die That des Staats in höch&#x017F;ter und weite&#x017F;ter Bedeutung.<lb/>
Sie &#x017F;oll daher das We&#x017F;en des Staats zur Verwirklichung bringen, und<lb/>
zwar innerhalb der Welt der äußern That&#x017F;achen. Sie i&#x017F;t daher nicht<lb/>
nur kein i&#x017F;olirtes, und noch weniger ein untergeordnetes Glied. Sie<lb/>
umfaßt nicht bloß äußerlich das Staatsleben auf allen Punkten mit<lb/>
ihren materiellen Wirkungen, &#x017F;ie i&#x017F;t nicht bloß allgegenwärtig in dem-<lb/>
&#x017F;elben, allgegenwärtiger &#x017F;ogar als der be&#x017F;timmte Wille des Staats, das<lb/>
Ge&#x017F;etz; &#x017F;ie reicht nicht bloß vom Staatsoberhaupt bis zum unter&#x017F;ten<lb/>
Staatsdiener wie eine große organi&#x017F;che und doch einheitliche Macht,<lb/>
&#x017F;ondern &#x017F;ie i&#x017F;t zuletzt das Organ der ge&#x017F;ammten po&#x017F;itiven Verwirklichung<lb/>
der Staatsidee. Sie kann darum ihrer wahren Aufgabe nicht durch<lb/>
einen mechani&#x017F;chen Dien&#x017F;t gegenüber dem Ge&#x017F;etze genügen; &#x017F;ie muß viel-<lb/>
mehr von dem We&#x017F;en, von den Forderungen, von den Zielen der Staats-<lb/>
idee innerlich durchdrungen &#x017F;ein, immer eben &#x017F;o &#x017F;ehr, oft noch lebendi-<lb/>
ger als die Ge&#x017F;etzgebung, weil &#x017F;ie die Staatsidee mitten unter den<lb/>
Ver&#x017F;chiedenheiten örtlicher und zeitlicher Zu&#x017F;tände fe&#x017F;thalten &#x017F;oll; ja &#x017F;ie<lb/>
muß be&#x017F;tändig das Ge&#x017F;etz er&#x017F;etzen, über da&#x017F;&#x017F;elbe hinausgehen, es im<lb/>
Grunde noch breiter auffa&#x017F;&#x017F;en als die Ge&#x017F;etzgebung &#x017F;elb&#x017F;t, denn wo das<lb/>
Ge&#x017F;etz mangelt, da i&#x017F;t &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t die höch&#x017F;te Gewalt. Es i&#x017F;t daher nichts<lb/>
unver&#x017F;tändiger, als von einer Unterordnung der Vollziehung unter das<lb/>
Ge&#x017F;etz zu reden, denn das Ge&#x017F;etz i&#x017F;t ja &#x017F;elb&#x017F;t nur ein formeller Ausdruck<lb/>
die&#x017F;er Staatsidee in einem einzelnen Gebiete, eine Seele, welcher er&#x017F;t<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[31]/0055] Die Lehre von der vollziehenden Gewalt. Weſen der vollziehenden Gewalt. Die Lehre von der vollziehenden Gewalt iſt nur dann ihrem ganzen Inhalte nach darzuſtellen, wenn man dieſelbe nunmehr von dem höhern von uns aufgeſtellten Standpunkte betrachtet. Das was wir die vollziehende Gewalt nennen, erſcheint jetzt näm- lich nicht etwa bloß als diejenige Thätigkeit, welche nur die Funktion hat, den Willen des Staats äußerlich zu verwirklichen; ſie iſt im Gegentheil die That des Staats in höchſter und weiteſter Bedeutung. Sie ſoll daher das Weſen des Staats zur Verwirklichung bringen, und zwar innerhalb der Welt der äußern Thatſachen. Sie iſt daher nicht nur kein iſolirtes, und noch weniger ein untergeordnetes Glied. Sie umfaßt nicht bloß äußerlich das Staatsleben auf allen Punkten mit ihren materiellen Wirkungen, ſie iſt nicht bloß allgegenwärtig in dem- ſelben, allgegenwärtiger ſogar als der beſtimmte Wille des Staats, das Geſetz; ſie reicht nicht bloß vom Staatsoberhaupt bis zum unterſten Staatsdiener wie eine große organiſche und doch einheitliche Macht, ſondern ſie iſt zuletzt das Organ der geſammten poſitiven Verwirklichung der Staatsidee. Sie kann darum ihrer wahren Aufgabe nicht durch einen mechaniſchen Dienſt gegenüber dem Geſetze genügen; ſie muß viel- mehr von dem Weſen, von den Forderungen, von den Zielen der Staats- idee innerlich durchdrungen ſein, immer eben ſo ſehr, oft noch lebendi- ger als die Geſetzgebung, weil ſie die Staatsidee mitten unter den Verſchiedenheiten örtlicher und zeitlicher Zuſtände feſthalten ſoll; ja ſie muß beſtändig das Geſetz erſetzen, über daſſelbe hinausgehen, es im Grunde noch breiter auffaſſen als die Geſetzgebung ſelbſt, denn wo das Geſetz mangelt, da iſt ſie ſelbſt die höchſte Gewalt. Es iſt daher nichts unverſtändiger, als von einer Unterordnung der Vollziehung unter das Geſetz zu reden, denn das Geſetz iſt ja ſelbſt nur ein formeller Ausdruck dieſer Staatsidee in einem einzelnen Gebiete, eine Seele, welcher erſt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/55
Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. [31]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/55>, abgerufen am 28.11.2024.