Die Lehre von der vollziehenden Gewalt. Wesen der vollziehenden Gewalt.
Die Lehre von der vollziehenden Gewalt ist nur dann ihrem ganzen Inhalte nach darzustellen, wenn man dieselbe nunmehr von dem höhern von uns aufgestellten Standpunkte betrachtet.
Das was wir die vollziehende Gewalt nennen, erscheint jetzt näm- lich nicht etwa bloß als diejenige Thätigkeit, welche nur die Funktion hat, den Willen des Staats äußerlich zu verwirklichen; sie ist im Gegentheil die That des Staats in höchster und weitester Bedeutung. Sie soll daher das Wesen des Staats zur Verwirklichung bringen, und zwar innerhalb der Welt der äußern Thatsachen. Sie ist daher nicht nur kein isolirtes, und noch weniger ein untergeordnetes Glied. Sie umfaßt nicht bloß äußerlich das Staatsleben auf allen Punkten mit ihren materiellen Wirkungen, sie ist nicht bloß allgegenwärtig in dem- selben, allgegenwärtiger sogar als der bestimmte Wille des Staats, das Gesetz; sie reicht nicht bloß vom Staatsoberhaupt bis zum untersten Staatsdiener wie eine große organische und doch einheitliche Macht, sondern sie ist zuletzt das Organ der gesammten positiven Verwirklichung der Staatsidee. Sie kann darum ihrer wahren Aufgabe nicht durch einen mechanischen Dienst gegenüber dem Gesetze genügen; sie muß viel- mehr von dem Wesen, von den Forderungen, von den Zielen der Staats- idee innerlich durchdrungen sein, immer eben so sehr, oft noch lebendi- ger als die Gesetzgebung, weil sie die Staatsidee mitten unter den Verschiedenheiten örtlicher und zeitlicher Zustände festhalten soll; ja sie muß beständig das Gesetz ersetzen, über dasselbe hinausgehen, es im Grunde noch breiter auffassen als die Gesetzgebung selbst, denn wo das Gesetz mangelt, da ist sie selbst die höchste Gewalt. Es ist daher nichts unverständiger, als von einer Unterordnung der Vollziehung unter das Gesetz zu reden, denn das Gesetz ist ja selbst nur ein formeller Ausdruck dieser Staatsidee in einem einzelnen Gebiete, eine Seele, welcher erst
Die Lehre von der vollziehenden Gewalt. Weſen der vollziehenden Gewalt.
Die Lehre von der vollziehenden Gewalt iſt nur dann ihrem ganzen Inhalte nach darzuſtellen, wenn man dieſelbe nunmehr von dem höhern von uns aufgeſtellten Standpunkte betrachtet.
Das was wir die vollziehende Gewalt nennen, erſcheint jetzt näm- lich nicht etwa bloß als diejenige Thätigkeit, welche nur die Funktion hat, den Willen des Staats äußerlich zu verwirklichen; ſie iſt im Gegentheil die That des Staats in höchſter und weiteſter Bedeutung. Sie ſoll daher das Weſen des Staats zur Verwirklichung bringen, und zwar innerhalb der Welt der äußern Thatſachen. Sie iſt daher nicht nur kein iſolirtes, und noch weniger ein untergeordnetes Glied. Sie umfaßt nicht bloß äußerlich das Staatsleben auf allen Punkten mit ihren materiellen Wirkungen, ſie iſt nicht bloß allgegenwärtig in dem- ſelben, allgegenwärtiger ſogar als der beſtimmte Wille des Staats, das Geſetz; ſie reicht nicht bloß vom Staatsoberhaupt bis zum unterſten Staatsdiener wie eine große organiſche und doch einheitliche Macht, ſondern ſie iſt zuletzt das Organ der geſammten poſitiven Verwirklichung der Staatsidee. Sie kann darum ihrer wahren Aufgabe nicht durch einen mechaniſchen Dienſt gegenüber dem Geſetze genügen; ſie muß viel- mehr von dem Weſen, von den Forderungen, von den Zielen der Staats- idee innerlich durchdrungen ſein, immer eben ſo ſehr, oft noch lebendi- ger als die Geſetzgebung, weil ſie die Staatsidee mitten unter den Verſchiedenheiten örtlicher und zeitlicher Zuſtände feſthalten ſoll; ja ſie muß beſtändig das Geſetz erſetzen, über daſſelbe hinausgehen, es im Grunde noch breiter auffaſſen als die Geſetzgebung ſelbſt, denn wo das Geſetz mangelt, da iſt ſie ſelbſt die höchſte Gewalt. Es iſt daher nichts unverſtändiger, als von einer Unterordnung der Vollziehung unter das Geſetz zu reden, denn das Geſetz iſt ja ſelbſt nur ein formeller Ausdruck dieſer Staatsidee in einem einzelnen Gebiete, eine Seele, welcher erſt
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[[31]/0055]
Die Lehre von der vollziehenden Gewalt.
Weſen der vollziehenden Gewalt.
Die Lehre von der vollziehenden Gewalt iſt nur dann ihrem ganzen
Inhalte nach darzuſtellen, wenn man dieſelbe nunmehr von dem höhern
von uns aufgeſtellten Standpunkte betrachtet.
Das was wir die vollziehende Gewalt nennen, erſcheint jetzt näm-
lich nicht etwa bloß als diejenige Thätigkeit, welche nur die Funktion
hat, den Willen des Staats äußerlich zu verwirklichen; ſie iſt im
Gegentheil die That des Staats in höchſter und weiteſter Bedeutung.
Sie ſoll daher das Weſen des Staats zur Verwirklichung bringen, und
zwar innerhalb der Welt der äußern Thatſachen. Sie iſt daher nicht
nur kein iſolirtes, und noch weniger ein untergeordnetes Glied. Sie
umfaßt nicht bloß äußerlich das Staatsleben auf allen Punkten mit
ihren materiellen Wirkungen, ſie iſt nicht bloß allgegenwärtig in dem-
ſelben, allgegenwärtiger ſogar als der beſtimmte Wille des Staats, das
Geſetz; ſie reicht nicht bloß vom Staatsoberhaupt bis zum unterſten
Staatsdiener wie eine große organiſche und doch einheitliche Macht,
ſondern ſie iſt zuletzt das Organ der geſammten poſitiven Verwirklichung
der Staatsidee. Sie kann darum ihrer wahren Aufgabe nicht durch
einen mechaniſchen Dienſt gegenüber dem Geſetze genügen; ſie muß viel-
mehr von dem Weſen, von den Forderungen, von den Zielen der Staats-
idee innerlich durchdrungen ſein, immer eben ſo ſehr, oft noch lebendi-
ger als die Geſetzgebung, weil ſie die Staatsidee mitten unter den
Verſchiedenheiten örtlicher und zeitlicher Zuſtände feſthalten ſoll; ja ſie
muß beſtändig das Geſetz erſetzen, über daſſelbe hinausgehen, es im
Grunde noch breiter auffaſſen als die Geſetzgebung ſelbſt, denn wo das
Geſetz mangelt, da iſt ſie ſelbſt die höchſte Gewalt. Es iſt daher nichts
unverſtändiger, als von einer Unterordnung der Vollziehung unter das
Geſetz zu reden, denn das Geſetz iſt ja ſelbſt nur ein formeller Ausdruck
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. [31]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/55>, abgerufen am 28.11.2024.
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