Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

Bild:
<< vorherige Seite

dessen Selbständigkeit nicht bezweifelt, und die demselben um so weniger
ohne weiteres genommen werden konnte, als sie meistens mit bedeu-
tenden Einnahmen für dieselben verbunden waren. Das Princip der
französischen Revolution brach hier allerdings Bahn, indem die Rhein-
bundsakte Art. 27 den Grundsatz aufstellte, daß ihre Rechte als Privat-
rechte angesehen werden sollten; das deutsche Rechtsbewußtsein jedoch
erzeugte daneben den Satz, daß ihre künftigen Verhältnisse durch eigene
Gesetze zu regeln seien. Dieß nun geschah, meistens aber vor der
Entwicklung der Landgemeindeordnungen und der Grundentlastungen.
So entstand hier eine neue, eigenthümliche Gruppe von Rechtsverhält-
nissen, welche sich den Landgemeindeordnungen um so weniger einfach
unterwerfen konnten, als dieselben als jura quaesita der Standesherren
erschienen, die der neuen Gesetzgebung gegenüber als begründete Privat-
rechte dastanden. Unter diesen Gegensätzen war es klar, daß bei aller
Einfachheit des Princips des Gemeindewesens und seiner vollen Geltung
in den Städten die wirkliche Gestalt desselben auf dem Lande keines-
wegs eine gleichartige werden konnte. Um jene Widersprüche, die ja
im Grunde Gegensätze der ständischen und der staatsbürgerlichen Gesell-
schaft waren, zu heben, mußte ein neuer Weg eingeschlagen werden.

Zunächst wird es sich nun aus dem Obigen erklären, wie es ge-
kommen, daß trotz der Anerkennung des Princips der Gemeindeselbst-
verwaltung und der verhältnißmäßig rasch entstehenden Stadtgemeinde-
ordnungen die Landgemeindeordnungen so langsam entstanden sind. Es
ist ferner die zweite, wichtige Thatsache damit erklärt, daß die ländliche
Selbstverwaltung in jedem Staate verschieden ist, denn die Ordnung
und Einführung derselben hing theils wie schon gesagt von dem Stande
der Grundentlastung, theils von der Vertheilung und Größe des ehe-
maligen herrschaftlichen oder Großgrundbesitzers, theils von dem Vorhan-
densein und den während der Neubildung der Bundesstaaten anerkann-
ten Rechten der Standesherren ab, theils endlich waren viele deutsche
Staaten selber im Grunde nur souverän gebliebene Standesherrschaften.
Eine unmittelbare Vergleichung mit Frankreich und England war nicht
möglich; ein deutsches Landgemeindewesen war vor der Hand nicht
denkbar.

Dennoch lag der natürliche Ausweg nahe, um aus diesen Gegen-
sätzen herauszukommen, und die Natur der Dinge hat denselben weit
mehr angebahnt als das theoretische Verständniß. Da Deutschlands
ländliche Selbstverwaltung noch immer in seiner schließlichen Bildung
begriffen ist, so scheint es uns von doppelter Wichtigkeit, denselben zu
bezeichnen.

Offenbar lag der erste und bedeutendste Widerspruch in dieser

deſſen Selbſtändigkeit nicht bezweifelt, und die demſelben um ſo weniger
ohne weiteres genommen werden konnte, als ſie meiſtens mit bedeu-
tenden Einnahmen für dieſelben verbunden waren. Das Princip der
franzöſiſchen Revolution brach hier allerdings Bahn, indem die Rhein-
bundsakte Art. 27 den Grundſatz aufſtellte, daß ihre Rechte als Privat-
rechte angeſehen werden ſollten; das deutſche Rechtsbewußtſein jedoch
erzeugte daneben den Satz, daß ihre künftigen Verhältniſſe durch eigene
Geſetze zu regeln ſeien. Dieß nun geſchah, meiſtens aber vor der
Entwicklung der Landgemeindeordnungen und der Grundentlaſtungen.
So entſtand hier eine neue, eigenthümliche Gruppe von Rechtsverhält-
niſſen, welche ſich den Landgemeindeordnungen um ſo weniger einfach
unterwerfen konnten, als dieſelben als jura quaesita der Standesherren
erſchienen, die der neuen Geſetzgebung gegenüber als begründete Privat-
rechte daſtanden. Unter dieſen Gegenſätzen war es klar, daß bei aller
Einfachheit des Princips des Gemeindeweſens und ſeiner vollen Geltung
in den Städten die wirkliche Geſtalt deſſelben auf dem Lande keines-
wegs eine gleichartige werden konnte. Um jene Widerſprüche, die ja
im Grunde Gegenſätze der ſtändiſchen und der ſtaatsbürgerlichen Geſell-
ſchaft waren, zu heben, mußte ein neuer Weg eingeſchlagen werden.

Zunächſt wird es ſich nun aus dem Obigen erklären, wie es ge-
kommen, daß trotz der Anerkennung des Princips der Gemeindeſelbſt-
verwaltung und der verhältnißmäßig raſch entſtehenden Stadtgemeinde-
ordnungen die Landgemeindeordnungen ſo langſam entſtanden ſind. Es
iſt ferner die zweite, wichtige Thatſache damit erklärt, daß die ländliche
Selbſtverwaltung in jedem Staate verſchieden iſt, denn die Ordnung
und Einführung derſelben hing theils wie ſchon geſagt von dem Stande
der Grundentlaſtung, theils von der Vertheilung und Größe des ehe-
maligen herrſchaftlichen oder Großgrundbeſitzers, theils von dem Vorhan-
denſein und den während der Neubildung der Bundesſtaaten anerkann-
ten Rechten der Standesherren ab, theils endlich waren viele deutſche
Staaten ſelber im Grunde nur ſouverän gebliebene Standesherrſchaften.
Eine unmittelbare Vergleichung mit Frankreich und England war nicht
möglich; ein deutſches Landgemeindeweſen war vor der Hand nicht
denkbar.

Dennoch lag der natürliche Ausweg nahe, um aus dieſen Gegen-
ſätzen herauszukommen, und die Natur der Dinge hat denſelben weit
mehr angebahnt als das theoretiſche Verſtändniß. Da Deutſchlands
ländliche Selbſtverwaltung noch immer in ſeiner ſchließlichen Bildung
begriffen iſt, ſo ſcheint es uns von doppelter Wichtigkeit, denſelben zu
bezeichnen.

Offenbar lag der erſte und bedeutendſte Widerſpruch in dieſer

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p><pb facs="#f0523" n="499"/>
de&#x017F;&#x017F;en Selb&#x017F;tändigkeit nicht bezweifelt, und die dem&#x017F;elben um &#x017F;o weniger<lb/>
ohne weiteres genommen werden konnte, als &#x017F;ie mei&#x017F;tens mit bedeu-<lb/>
tenden Einnahmen für die&#x017F;elben verbunden waren. Das Princip der<lb/>
franzö&#x017F;i&#x017F;chen Revolution brach hier allerdings Bahn, indem die Rhein-<lb/>
bundsakte Art. 27 den Grund&#x017F;atz auf&#x017F;tellte, daß ihre Rechte als Privat-<lb/>
rechte ange&#x017F;ehen werden &#x017F;ollten; das deut&#x017F;che Rechtsbewußt&#x017F;ein jedoch<lb/>
erzeugte daneben den Satz, daß ihre künftigen Verhältni&#x017F;&#x017F;e durch eigene<lb/>
Ge&#x017F;etze zu regeln &#x017F;eien. Dieß nun ge&#x017F;chah, mei&#x017F;tens aber <hi rendition="#g">vor</hi> der<lb/>
Entwicklung der Landgemeindeordnungen und der Grundentla&#x017F;tungen.<lb/>
So ent&#x017F;tand hier eine neue, eigenthümliche Gruppe von Rechtsverhält-<lb/>
ni&#x017F;&#x017F;en, welche &#x017F;ich den Landgemeindeordnungen um &#x017F;o weniger einfach<lb/>
unterwerfen konnten, als die&#x017F;elben als <hi rendition="#aq">jura quaesita</hi> der Standesherren<lb/>
er&#x017F;chienen, die der neuen Ge&#x017F;etzgebung gegenüber als begründete Privat-<lb/>
rechte da&#x017F;tanden. Unter die&#x017F;en Gegen&#x017F;ätzen war es klar, daß bei aller<lb/>
Einfachheit des Princips des Gemeindewe&#x017F;ens und &#x017F;einer vollen Geltung<lb/>
in den Städten die wirkliche Ge&#x017F;talt de&#x017F;&#x017F;elben auf dem Lande keines-<lb/>
wegs eine gleichartige werden konnte. Um jene Wider&#x017F;prüche, die ja<lb/>
im Grunde Gegen&#x017F;ätze der &#x017F;tändi&#x017F;chen und der &#x017F;taatsbürgerlichen Ge&#x017F;ell-<lb/>
&#x017F;chaft waren, zu heben, mußte ein neuer Weg einge&#x017F;chlagen werden.</p><lb/>
                  <p>Zunäch&#x017F;t wird es &#x017F;ich nun aus dem Obigen erklären, wie es ge-<lb/>
kommen, daß trotz der Anerkennung des Princips der Gemeinde&#x017F;elb&#x017F;t-<lb/>
verwaltung und der verhältnißmäßig ra&#x017F;ch ent&#x017F;tehenden Stadtgemeinde-<lb/>
ordnungen die Landgemeindeordnungen &#x017F;o lang&#x017F;am ent&#x017F;tanden &#x017F;ind. Es<lb/>
i&#x017F;t ferner die zweite, wichtige That&#x017F;ache damit erklärt, daß die ländliche<lb/>
Selb&#x017F;tverwaltung in jedem Staate <hi rendition="#g">ver&#x017F;chieden</hi> i&#x017F;t, denn die Ordnung<lb/>
und Einführung der&#x017F;elben hing theils wie &#x017F;chon ge&#x017F;agt von dem Stande<lb/>
der Grundentla&#x017F;tung, theils von der Vertheilung und Größe des ehe-<lb/>
maligen herr&#x017F;chaftlichen oder Großgrundbe&#x017F;itzers, theils von dem Vorhan-<lb/>
den&#x017F;ein und den während der Neubildung der Bundes&#x017F;taaten anerkann-<lb/>
ten Rechten der Standesherren ab, theils endlich waren viele deut&#x017F;che<lb/>
Staaten &#x017F;elber im Grunde nur &#x017F;ouverän gebliebene Standesherr&#x017F;chaften.<lb/>
Eine unmittelbare Vergleichung mit Frankreich und England war nicht<lb/>
möglich; ein deut&#x017F;ches Landgemeindewe&#x017F;en war vor der Hand nicht<lb/>
denkbar.</p><lb/>
                  <p>Dennoch lag der natürliche Ausweg nahe, um aus die&#x017F;en Gegen-<lb/>
&#x017F;ätzen herauszukommen, und die Natur der Dinge hat den&#x017F;elben weit<lb/>
mehr angebahnt als das theoreti&#x017F;che Ver&#x017F;tändniß. Da Deut&#x017F;chlands<lb/>
ländliche Selb&#x017F;tverwaltung noch immer in &#x017F;einer &#x017F;chließlichen Bildung<lb/>
begriffen i&#x017F;t, &#x017F;o &#x017F;cheint es uns von doppelter Wichtigkeit, den&#x017F;elben zu<lb/>
bezeichnen.</p><lb/>
                  <p>Offenbar lag der er&#x017F;te und bedeutend&#x017F;te Wider&#x017F;pruch in die&#x017F;er<lb/></p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[499/0523] deſſen Selbſtändigkeit nicht bezweifelt, und die demſelben um ſo weniger ohne weiteres genommen werden konnte, als ſie meiſtens mit bedeu- tenden Einnahmen für dieſelben verbunden waren. Das Princip der franzöſiſchen Revolution brach hier allerdings Bahn, indem die Rhein- bundsakte Art. 27 den Grundſatz aufſtellte, daß ihre Rechte als Privat- rechte angeſehen werden ſollten; das deutſche Rechtsbewußtſein jedoch erzeugte daneben den Satz, daß ihre künftigen Verhältniſſe durch eigene Geſetze zu regeln ſeien. Dieß nun geſchah, meiſtens aber vor der Entwicklung der Landgemeindeordnungen und der Grundentlaſtungen. So entſtand hier eine neue, eigenthümliche Gruppe von Rechtsverhält- niſſen, welche ſich den Landgemeindeordnungen um ſo weniger einfach unterwerfen konnten, als dieſelben als jura quaesita der Standesherren erſchienen, die der neuen Geſetzgebung gegenüber als begründete Privat- rechte daſtanden. Unter dieſen Gegenſätzen war es klar, daß bei aller Einfachheit des Princips des Gemeindeweſens und ſeiner vollen Geltung in den Städten die wirkliche Geſtalt deſſelben auf dem Lande keines- wegs eine gleichartige werden konnte. Um jene Widerſprüche, die ja im Grunde Gegenſätze der ſtändiſchen und der ſtaatsbürgerlichen Geſell- ſchaft waren, zu heben, mußte ein neuer Weg eingeſchlagen werden. Zunächſt wird es ſich nun aus dem Obigen erklären, wie es ge- kommen, daß trotz der Anerkennung des Princips der Gemeindeſelbſt- verwaltung und der verhältnißmäßig raſch entſtehenden Stadtgemeinde- ordnungen die Landgemeindeordnungen ſo langſam entſtanden ſind. Es iſt ferner die zweite, wichtige Thatſache damit erklärt, daß die ländliche Selbſtverwaltung in jedem Staate verſchieden iſt, denn die Ordnung und Einführung derſelben hing theils wie ſchon geſagt von dem Stande der Grundentlaſtung, theils von der Vertheilung und Größe des ehe- maligen herrſchaftlichen oder Großgrundbeſitzers, theils von dem Vorhan- denſein und den während der Neubildung der Bundesſtaaten anerkann- ten Rechten der Standesherren ab, theils endlich waren viele deutſche Staaten ſelber im Grunde nur ſouverän gebliebene Standesherrſchaften. Eine unmittelbare Vergleichung mit Frankreich und England war nicht möglich; ein deutſches Landgemeindeweſen war vor der Hand nicht denkbar. Dennoch lag der natürliche Ausweg nahe, um aus dieſen Gegen- ſätzen herauszukommen, und die Natur der Dinge hat denſelben weit mehr angebahnt als das theoretiſche Verſtändniß. Da Deutſchlands ländliche Selbſtverwaltung noch immer in ſeiner ſchließlichen Bildung begriffen iſt, ſo ſcheint es uns von doppelter Wichtigkeit, denſelben zu bezeichnen. Offenbar lag der erſte und bedeutendſte Widerſpruch in dieſer

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/523
Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 499. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/523>, abgerufen am 02.05.2024.