Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

Bild:
<< vorherige Seite

-- so daß es auch "Gesetze" gibt, die ohne diese Zustimmung zu Stande
kommen. Hier muß man daher fragen, ob ein Urtheil des Gerichts
auch in diesem Falle Gesetz und Verordnung zu unterscheiden das
Recht hat.

Wir müssen nun unsererseits gestehen, daß wir gar keinen Grund
sehen, dem Gericht die Entscheidung in diesem Falle abzusprechen.
Allerdings aber ist die Frage selbst in diesem Uebergangsstadium eine
viel ernstere, denn sie ist eine doppelte.

Erstlich handelt es sich darum, ob das Gericht über die Gränze
zu entscheiden habe, innerhalb deren die gesetzgebende Gewalt vom
Staatsoberhaupt ohne Zuziehung der Vertretung ausgeübt werden kann.
Hält man fest, daß das Gericht nicht überhaupt über diese Gränze in
seinem Urtheil zu entscheiden hat (siehe unten), so ist kein Grund vor-
handen, die Competenz des Gerichts, die Gesetzesqualität als Ent-
scheidungsgrund
anzunehmen oder zu verwerfen, zu bezweifeln.
Denn eine Thätigkeit des Gerichts ohne Gesetz ist undenkbar; soll nun
ein öffentlicher Akt ein Gesetz dadurch werden, daß das Staatsoberhaupt
ihn einseitig dafür erklärt, so ist damit ausgesprochen, daß die Gränze
zwischen Gesetz und Verordnung eben nicht mehr in der Verfassung,
sondern in dem Willen desjenigen liegt, der, indem er die Verfassung
gab, eben der Gültigkeit seines Willens jene objektiven verfassungs-
mäßigen Bedingungen vorschrieb: ein Widerspruch, der am letzten Orte
in der Aufhebung der Competenz des Gerichts nichts anders ist, als die
Auflösung der Verfassung selbst. Es ist daher eine Ausschließung der
Competenz des Gerichtes auch hier gar nicht denkbar. Allerdings hat
das eine Reihe von großen Uebelständen und Verwicklungen zur Folge,
die selbst durch die folgenden Grundsätze nicht beseitigt werden können.
Allein es ist durchaus falsch, den Grund derselben in der Competenz
der Gerichte suchen, und ihre Folgen durch Beschränkung der letztern
heben zu wollen. Die Ursache ist keine andere als der Mangel im
verfassungsmäßigen Begriff des Gesetzes selbst
; diesen zu
beseitigen, ist niemandem gegeben als der Verfassung selbst, und die
leere Klage, daß ein Uebergangsstadium etwas Unvollständiges enthalte
und darum Uebelstände erzeuge, ist im Grunde unverständig; sie hat
nur Werth, wenn sie den Weg und das Mittel der Abhülfe bietet.

II. Der Inhalt der Entscheidung des Gerichts.

Steht es demnach fest, daß das Gericht unbedingt competent ist,
bei jeder Klage über einen Privat- wie über einen Verwaltungsakt sich
darüber zu entscheiden, ob der angezogene öffentliche Akt ein Gesetz
oder eine bloße Verordnung ist, so müssen wir jetzt eine zweite Seite
der Sache betrachten.


— ſo daß es auch „Geſetze“ gibt, die ohne dieſe Zuſtimmung zu Stande
kommen. Hier muß man daher fragen, ob ein Urtheil des Gerichts
auch in dieſem Falle Geſetz und Verordnung zu unterſcheiden das
Recht hat.

Wir müſſen nun unſererſeits geſtehen, daß wir gar keinen Grund
ſehen, dem Gericht die Entſcheidung in dieſem Falle abzuſprechen.
Allerdings aber iſt die Frage ſelbſt in dieſem Uebergangsſtadium eine
viel ernſtere, denn ſie iſt eine doppelte.

Erſtlich handelt es ſich darum, ob das Gericht über die Gränze
zu entſcheiden habe, innerhalb deren die geſetzgebende Gewalt vom
Staatsoberhaupt ohne Zuziehung der Vertretung ausgeübt werden kann.
Hält man feſt, daß das Gericht nicht überhaupt über dieſe Gränze in
ſeinem Urtheil zu entſcheiden hat (ſiehe unten), ſo iſt kein Grund vor-
handen, die Competenz des Gerichts, die Geſetzesqualität als Ent-
ſcheidungsgrund
anzunehmen oder zu verwerfen, zu bezweifeln.
Denn eine Thätigkeit des Gerichts ohne Geſetz iſt undenkbar; ſoll nun
ein öffentlicher Akt ein Geſetz dadurch werden, daß das Staatsoberhaupt
ihn einſeitig dafür erklärt, ſo iſt damit ausgeſprochen, daß die Gränze
zwiſchen Geſetz und Verordnung eben nicht mehr in der Verfaſſung,
ſondern in dem Willen desjenigen liegt, der, indem er die Verfaſſung
gab, eben der Gültigkeit ſeines Willens jene objektiven verfaſſungs-
mäßigen Bedingungen vorſchrieb: ein Widerſpruch, der am letzten Orte
in der Aufhebung der Competenz des Gerichts nichts anders iſt, als die
Auflöſung der Verfaſſung ſelbſt. Es iſt daher eine Ausſchließung der
Competenz des Gerichtes auch hier gar nicht denkbar. Allerdings hat
das eine Reihe von großen Uebelſtänden und Verwicklungen zur Folge,
die ſelbſt durch die folgenden Grundſätze nicht beſeitigt werden können.
Allein es iſt durchaus falſch, den Grund derſelben in der Competenz
der Gerichte ſuchen, und ihre Folgen durch Beſchränkung der letztern
heben zu wollen. Die Urſache iſt keine andere als der Mangel im
verfaſſungsmäßigen Begriff des Geſetzes ſelbſt
; dieſen zu
beſeitigen, iſt niemandem gegeben als der Verfaſſung ſelbſt, und die
leere Klage, daß ein Uebergangsſtadium etwas Unvollſtändiges enthalte
und darum Uebelſtände erzeuge, iſt im Grunde unverſtändig; ſie hat
nur Werth, wenn ſie den Weg und das Mittel der Abhülfe bietet.

II. Der Inhalt der Entſcheidung des Gerichts.

Steht es demnach feſt, daß das Gericht unbedingt competent iſt,
bei jeder Klage über einen Privat- wie über einen Verwaltungsakt ſich
darüber zu entſcheiden, ob der angezogene öffentliche Akt ein Geſetz
oder eine bloße Verordnung iſt, ſo müſſen wir jetzt eine zweite Seite
der Sache betrachten.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <p><pb facs="#f0215" n="191"/>
&#x2014; &#x017F;o daß es auch &#x201E;Ge&#x017F;etze&#x201C; gibt, die ohne die&#x017F;e Zu&#x017F;timmung zu Stande<lb/>
kommen. Hier muß man daher fragen, ob ein Urtheil des Gerichts<lb/>
auch in die&#x017F;em Falle Ge&#x017F;etz und Verordnung zu unter&#x017F;cheiden das<lb/>
Recht hat.</p><lb/>
                    <p>Wir mü&#x017F;&#x017F;en nun un&#x017F;erer&#x017F;eits ge&#x017F;tehen, daß wir gar keinen Grund<lb/>
&#x017F;ehen, dem Gericht die Ent&#x017F;cheidung in die&#x017F;em Falle abzu&#x017F;prechen.<lb/>
Allerdings aber i&#x017F;t die Frage &#x017F;elb&#x017F;t in die&#x017F;em Uebergangs&#x017F;tadium eine<lb/>
viel ern&#x017F;tere, denn &#x017F;ie i&#x017F;t eine doppelte.</p><lb/>
                    <p>Er&#x017F;tlich handelt es &#x017F;ich darum, ob das Gericht über die <hi rendition="#g">Gränze</hi><lb/>
zu ent&#x017F;cheiden habe, innerhalb deren die ge&#x017F;etzgebende Gewalt vom<lb/>
Staatsoberhaupt ohne Zuziehung der Vertretung ausgeübt werden kann.<lb/>
Hält man fe&#x017F;t, daß das Gericht nicht überhaupt über die&#x017F;e Gränze in<lb/>
&#x017F;einem Urtheil zu ent&#x017F;cheiden hat (&#x017F;iehe unten), &#x017F;o i&#x017F;t kein Grund vor-<lb/>
handen, die Competenz des Gerichts, die Ge&#x017F;etzesqualität als <hi rendition="#g">Ent-<lb/>
&#x017F;cheidungsgrund</hi> anzunehmen oder zu verwerfen, zu bezweifeln.<lb/>
Denn eine Thätigkeit des Gerichts ohne Ge&#x017F;etz i&#x017F;t undenkbar; &#x017F;oll nun<lb/>
ein öffentlicher Akt ein Ge&#x017F;etz dadurch werden, daß das Staatsoberhaupt<lb/>
ihn ein&#x017F;eitig dafür erklärt, &#x017F;o i&#x017F;t damit ausge&#x017F;prochen, daß die Gränze<lb/>
zwi&#x017F;chen Ge&#x017F;etz und Verordnung eben nicht mehr in der Verfa&#x017F;&#x017F;ung,<lb/>
&#x017F;ondern in dem Willen desjenigen liegt, der, indem er die Verfa&#x017F;&#x017F;ung<lb/>
gab, eben der Gültigkeit &#x017F;eines Willens jene objektiven verfa&#x017F;&#x017F;ungs-<lb/>
mäßigen Bedingungen vor&#x017F;chrieb: ein Wider&#x017F;pruch, der am letzten Orte<lb/>
in der Aufhebung der Competenz des Gerichts nichts anders i&#x017F;t, als die<lb/>
Auflö&#x017F;ung der Verfa&#x017F;&#x017F;ung &#x017F;elb&#x017F;t. Es i&#x017F;t daher eine Aus&#x017F;chließung der<lb/>
Competenz des Gerichtes auch hier gar nicht denkbar. Allerdings hat<lb/>
das eine Reihe von großen Uebel&#x017F;tänden und Verwicklungen zur Folge,<lb/>
die &#x017F;elb&#x017F;t durch die folgenden Grund&#x017F;ätze nicht be&#x017F;eitigt werden können.<lb/>
Allein es i&#x017F;t durchaus fal&#x017F;ch, den Grund der&#x017F;elben in der Competenz<lb/>
der Gerichte &#x017F;uchen, und ihre Folgen durch Be&#x017F;chränkung der letztern<lb/>
heben zu wollen. Die Ur&#x017F;ache i&#x017F;t keine andere als der Mangel <hi rendition="#g">im<lb/>
verfa&#x017F;&#x017F;ungsmäßigen Begriff des Ge&#x017F;etzes &#x017F;elb&#x017F;t</hi>; die&#x017F;en zu<lb/>
be&#x017F;eitigen, i&#x017F;t niemandem gegeben als der Verfa&#x017F;&#x017F;ung &#x017F;elb&#x017F;t, und die<lb/>
leere Klage, daß ein Uebergangs&#x017F;tadium etwas Unvoll&#x017F;tändiges enthalte<lb/>
und darum Uebel&#x017F;tände erzeuge, i&#x017F;t im Grunde unver&#x017F;tändig; &#x017F;ie hat<lb/>
nur Werth, wenn &#x017F;ie den Weg und das Mittel der Abhülfe bietet.</p><lb/>
                    <p><hi rendition="#aq">II.</hi> Der Inhalt der Ent&#x017F;cheidung des Gerichts.</p><lb/>
                    <p>Steht es demnach fe&#x017F;t, daß das Gericht unbedingt competent i&#x017F;t,<lb/>
bei jeder Klage über einen Privat- wie über einen Verwaltungsakt &#x017F;ich<lb/>
darüber zu ent&#x017F;cheiden, ob der angezogene öffentliche Akt ein Ge&#x017F;etz<lb/>
oder eine bloße Verordnung i&#x017F;t, &#x017F;o mü&#x017F;&#x017F;en wir jetzt eine zweite Seite<lb/>
der Sache betrachten.</p><lb/>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[191/0215] — ſo daß es auch „Geſetze“ gibt, die ohne dieſe Zuſtimmung zu Stande kommen. Hier muß man daher fragen, ob ein Urtheil des Gerichts auch in dieſem Falle Geſetz und Verordnung zu unterſcheiden das Recht hat. Wir müſſen nun unſererſeits geſtehen, daß wir gar keinen Grund ſehen, dem Gericht die Entſcheidung in dieſem Falle abzuſprechen. Allerdings aber iſt die Frage ſelbſt in dieſem Uebergangsſtadium eine viel ernſtere, denn ſie iſt eine doppelte. Erſtlich handelt es ſich darum, ob das Gericht über die Gränze zu entſcheiden habe, innerhalb deren die geſetzgebende Gewalt vom Staatsoberhaupt ohne Zuziehung der Vertretung ausgeübt werden kann. Hält man feſt, daß das Gericht nicht überhaupt über dieſe Gränze in ſeinem Urtheil zu entſcheiden hat (ſiehe unten), ſo iſt kein Grund vor- handen, die Competenz des Gerichts, die Geſetzesqualität als Ent- ſcheidungsgrund anzunehmen oder zu verwerfen, zu bezweifeln. Denn eine Thätigkeit des Gerichts ohne Geſetz iſt undenkbar; ſoll nun ein öffentlicher Akt ein Geſetz dadurch werden, daß das Staatsoberhaupt ihn einſeitig dafür erklärt, ſo iſt damit ausgeſprochen, daß die Gränze zwiſchen Geſetz und Verordnung eben nicht mehr in der Verfaſſung, ſondern in dem Willen desjenigen liegt, der, indem er die Verfaſſung gab, eben der Gültigkeit ſeines Willens jene objektiven verfaſſungs- mäßigen Bedingungen vorſchrieb: ein Widerſpruch, der am letzten Orte in der Aufhebung der Competenz des Gerichts nichts anders iſt, als die Auflöſung der Verfaſſung ſelbſt. Es iſt daher eine Ausſchließung der Competenz des Gerichtes auch hier gar nicht denkbar. Allerdings hat das eine Reihe von großen Uebelſtänden und Verwicklungen zur Folge, die ſelbſt durch die folgenden Grundſätze nicht beſeitigt werden können. Allein es iſt durchaus falſch, den Grund derſelben in der Competenz der Gerichte ſuchen, und ihre Folgen durch Beſchränkung der letztern heben zu wollen. Die Urſache iſt keine andere als der Mangel im verfaſſungsmäßigen Begriff des Geſetzes ſelbſt; dieſen zu beſeitigen, iſt niemandem gegeben als der Verfaſſung ſelbſt, und die leere Klage, daß ein Uebergangsſtadium etwas Unvollſtändiges enthalte und darum Uebelſtände erzeuge, iſt im Grunde unverſtändig; ſie hat nur Werth, wenn ſie den Weg und das Mittel der Abhülfe bietet. II. Der Inhalt der Entſcheidung des Gerichts. Steht es demnach feſt, daß das Gericht unbedingt competent iſt, bei jeder Klage über einen Privat- wie über einen Verwaltungsakt ſich darüber zu entſcheiden, ob der angezogene öffentliche Akt ein Geſetz oder eine bloße Verordnung iſt, ſo müſſen wir jetzt eine zweite Seite der Sache betrachten.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/215
Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/215>, abgerufen am 12.10.2024.