die Verantwortlichkeit der höchsten verordnenden Gewalt, zweitens aber und weit sicherer durch das streng gesetzliche und zum Theil öffentliche Verfahren der höchsten entscheidenden Behörde bei jeder Beschwerde. Frankreichs Jurisdiction administrative muß daher als ein Muster für das ganze europäische System des Beschwerdesystems aufgestellt werden, sowie man derselben grundsätzlich das Gebiet des Klagrechts -- also den Fall des Widerspruches zwischen Ge- setz und Verordnung -- entzieht, und es auf das eigentliche Ge- biet des Verordnungsrechts zurückführt.
Das Verordnungsrecht in Deutschland. Die sogenannten Justiz- und Administrativsachen.
Nachdem die Frage nach dem Rechte der Verordnung und der Verwaltung gegenüber dem gesetzlichen Recht, namentlich unter dem bekannten Gegensatz der Justiz- und Administrativsachen; eine vollständige Bibliothek von Schriften her- vorgerufen hat, ohne doch zur Klarheit und zum Abschluß zu gelangen, müssen wir es für eine ziemlich nutzlose Mühe halten, auf die Ansichten der Theorie hier weiter einzugehen, und vielmehr uns zur Aufgabe machen, auf Grundlage des Unterschiedes von Gesetz und Verordnung einerseits, und Klage und Be- schwerde andererseits eben nur den gegenwärtigen Zustand der beinahe hoff- nungslosen Verwirrung zu erklären, in dem sich die deutsche Theorie, und den der großen Verschiedenheit und Unklarheit, in dem sich die deutsche Gesetzgebung befindet.
Zum Grunde legen muß man dabei den obigen Unterschied zwischen Justiz- und Administrativsachen. Unter Justizsachen versteht man nämlich bekanntlich jeden Streit, der vor das Gericht gehört, also in welchem nach unserm Begriff das Klagrecht Platz greift; unter Administrativsachen jeden Fall, in welchem die Zuständigkeit der Gerichte ausgeschlossen ist, und die Entscheidung von der Verwaltungsbehörde abhängt, d. i. wo ein Beschwerderecht eintritt.
Diese Unterscheidung, an sich schon wichtig genug, wird es nun doppelt, sobald der Proceß der innern Staatsbildung lebendig wird und die gesetz- gebende Gewalt gegenüber der vollziehenden sich zur Geltung zu bringen trachtet. Die Gränze zwischen beiden bezeichnet alsdann offenbar die Linie, innerhalb welcher die Vollziehung sich frei bewegt, und jenseits derer das geltende Recht ihrem Eingreifen eine feste Schranke setzt. Daß bei einer Entwicklung des Staatslebens, in der wie in Frankreich nicht eben die gesetzgebende Gewalt die verfassungsmäßige Ordnung selbst herstellt, sondern wie in Deutschland diese Verfassung eigentlich von dem Haupte der vollziehenden Gewalt ge- geben wird, in der also, wie wir gesehen, der Begriff des Gesetzes nicht feststeht, sondern beständig mit dem der Verordnung verschmolzen ist, eben jene Gränze doppelt wichtig, und demnach doppelt schwer zu ziehen sein wird, ist einleuchtend. Die deutsche Theorie, der ein so großer Theil an der Bildung des öffentlichen Rechtes zugefallen ist, hat die Wichtigkeit und Schwierig- keit der Sache gefühlt. Da ihr aber der Begriff des Gesetzes und der Ver- ordnung fehlte, so gelangte sie nicht dazu, die Begriffe von Klagrecht und Be- schwerderecht festzustellen. Sie verstand daher eben so wenig das englische Recht,
die Verantwortlichkeit der höchſten verordnenden Gewalt, zweitens aber und weit ſicherer durch das ſtreng geſetzliche und zum Theil öffentliche Verfahren der höchſten entſcheidenden Behörde bei jeder Beſchwerde. Frankreichs Jurisdiction administrative muß daher als ein Muſter für das ganze europäiſche Syſtem des Beſchwerdeſyſtems aufgeſtellt werden, ſowie man derſelben grundſätzlich das Gebiet des Klagrechts — alſo den Fall des Widerſpruches zwiſchen Ge- ſetz und Verordnung — entzieht, und es auf das eigentliche Ge- biet des Verordnungsrechts zurückführt.
Das Verordnungsrecht in Deutſchland. Die ſogenannten Juſtiz- und Adminiſtrativſachen.
Nachdem die Frage nach dem Rechte der Verordnung und der Verwaltung gegenüber dem geſetzlichen Recht, namentlich unter dem bekannten Gegenſatz der Juſtiz- und Adminiſtrativſachen; eine vollſtändige Bibliothek von Schriften her- vorgerufen hat, ohne doch zur Klarheit und zum Abſchluß zu gelangen, müſſen wir es für eine ziemlich nutzloſe Mühe halten, auf die Anſichten der Theorie hier weiter einzugehen, und vielmehr uns zur Aufgabe machen, auf Grundlage des Unterſchiedes von Geſetz und Verordnung einerſeits, und Klage und Be- ſchwerde andererſeits eben nur den gegenwärtigen Zuſtand der beinahe hoff- nungsloſen Verwirrung zu erklären, in dem ſich die deutſche Theorie, und den der großen Verſchiedenheit und Unklarheit, in dem ſich die deutſche Geſetzgebung befindet.
Zum Grunde legen muß man dabei den obigen Unterſchied zwiſchen Juſtiz- und Adminiſtrativſachen. Unter Juſtizſachen verſteht man nämlich bekanntlich jeden Streit, der vor das Gericht gehört, alſo in welchem nach unſerm Begriff das Klagrecht Platz greift; unter Adminiſtrativſachen jeden Fall, in welchem die Zuſtändigkeit der Gerichte ausgeſchloſſen iſt, und die Entſcheidung von der Verwaltungsbehörde abhängt, d. i. wo ein Beſchwerderecht eintritt.
Dieſe Unterſcheidung, an ſich ſchon wichtig genug, wird es nun doppelt, ſobald der Proceß der innern Staatsbildung lebendig wird und die geſetz- gebende Gewalt gegenüber der vollziehenden ſich zur Geltung zu bringen trachtet. Die Gränze zwiſchen beiden bezeichnet alsdann offenbar die Linie, innerhalb welcher die Vollziehung ſich frei bewegt, und jenſeits derer das geltende Recht ihrem Eingreifen eine feſte Schranke ſetzt. Daß bei einer Entwicklung des Staatslebens, in der wie in Frankreich nicht eben die geſetzgebende Gewalt die verfaſſungsmäßige Ordnung ſelbſt herſtellt, ſondern wie in Deutſchland dieſe Verfaſſung eigentlich von dem Haupte der vollziehenden Gewalt ge- geben wird, in der alſo, wie wir geſehen, der Begriff des Geſetzes nicht feſtſteht, ſondern beſtändig mit dem der Verordnung verſchmolzen iſt, eben jene Gränze doppelt wichtig, und demnach doppelt ſchwer zu ziehen ſein wird, iſt einleuchtend. Die deutſche Theorie, der ein ſo großer Theil an der Bildung des öffentlichen Rechtes zugefallen iſt, hat die Wichtigkeit und Schwierig- keit der Sache gefühlt. Da ihr aber der Begriff des Geſetzes und der Ver- ordnung fehlte, ſo gelangte ſie nicht dazu, die Begriffe von Klagrecht und Be- ſchwerderecht feſtzuſtellen. Sie verſtand daher eben ſo wenig das engliſche Recht,
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der höchſten entſcheidenden Behörde bei jeder Beſchwerde. Frankreichs Jurisdiction
administrative muß daher als ein Muſter für das ganze europäiſche Syſtem
des Beſchwerdeſyſtems aufgeſtellt werden, ſowie man derſelben grundſätzlich das
Gebiet des Klagrechts — alſo den Fall des Widerſpruches zwiſchen Ge-
ſetz und Verordnung — entzieht, und es auf das eigentliche Ge-
biet des Verordnungsrechts zurückführt.
Das Verordnungsrecht in Deutſchland. Die ſogenannten
Juſtiz- und Adminiſtrativſachen.
Nachdem die Frage nach dem Rechte der Verordnung und der Verwaltung
gegenüber dem geſetzlichen Recht, namentlich unter dem bekannten Gegenſatz der
Juſtiz- und Adminiſtrativſachen; eine vollſtändige Bibliothek von Schriften her-
vorgerufen hat, ohne doch zur Klarheit und zum Abſchluß zu gelangen, müſſen
wir es für eine ziemlich nutzloſe Mühe halten, auf die Anſichten der Theorie
hier weiter einzugehen, und vielmehr uns zur Aufgabe machen, auf Grundlage
des Unterſchiedes von Geſetz und Verordnung einerſeits, und Klage und Be-
ſchwerde andererſeits eben nur den gegenwärtigen Zuſtand der beinahe hoff-
nungsloſen Verwirrung zu erklären, in dem ſich die deutſche Theorie, und den der
großen Verſchiedenheit und Unklarheit, in dem ſich die deutſche Geſetzgebung
befindet.
Zum Grunde legen muß man dabei den obigen Unterſchied zwiſchen Juſtiz-
und Adminiſtrativſachen. Unter Juſtizſachen verſteht man nämlich bekanntlich
jeden Streit, der vor das Gericht gehört, alſo in welchem nach unſerm Begriff
das Klagrecht Platz greift; unter Adminiſtrativſachen jeden Fall, in welchem
die Zuſtändigkeit der Gerichte ausgeſchloſſen iſt, und die Entſcheidung von der
Verwaltungsbehörde abhängt, d. i. wo ein Beſchwerderecht eintritt.
Dieſe Unterſcheidung, an ſich ſchon wichtig genug, wird es nun doppelt,
ſobald der Proceß der innern Staatsbildung lebendig wird und die geſetz-
gebende Gewalt gegenüber der vollziehenden ſich zur Geltung zu bringen trachtet.
Die Gränze zwiſchen beiden bezeichnet alsdann offenbar die Linie, innerhalb
welcher die Vollziehung ſich frei bewegt, und jenſeits derer das geltende Recht
ihrem Eingreifen eine feſte Schranke ſetzt. Daß bei einer Entwicklung des
Staatslebens, in der wie in Frankreich nicht eben die geſetzgebende Gewalt
die verfaſſungsmäßige Ordnung ſelbſt herſtellt, ſondern wie in Deutſchland
dieſe Verfaſſung eigentlich von dem Haupte der vollziehenden Gewalt ge-
geben wird, in der alſo, wie wir geſehen, der Begriff des Geſetzes
nicht feſtſteht, ſondern beſtändig mit dem der Verordnung verſchmolzen iſt,
eben jene Gränze doppelt wichtig, und demnach doppelt ſchwer zu ziehen ſein
wird, iſt einleuchtend. Die deutſche Theorie, der ein ſo großer Theil an der
Bildung des öffentlichen Rechtes zugefallen iſt, hat die Wichtigkeit und Schwierig-
keit der Sache gefühlt. Da ihr aber der Begriff des Geſetzes und der Ver-
ordnung fehlte, ſo gelangte ſie nicht dazu, die Begriffe von Klagrecht und Be-
ſchwerderecht feſtzuſtellen. Sie verſtand daher eben ſo wenig das engliſche Recht,
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/164>, abgerufen am 24.11.2024.
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