eben als Individuum und nicht mehr als Staatsorgan erscheint, und daher für jede Verletzung nicht als Obrigkeit, sondern nur strafrechtlich als Ur- heber betrachtet werden kann. Die genaue Gränze der persönlichen Verantwortlichkeit muß dann nach den allgemeinen Grundsätzen des Strafrechts in jedem einzelnen Falle bestimmt werden.
e) Jener Pflicht des bürgerlichen Gehorsams steht nun das Recht desselben gegenüber. Dieses Recht besteht darin, daß der Einzelne auf Grund seiner Auffassung das Recht der vollziehenden Gewalt zu der betreffenden Verordnung läugnet, und dieselbe daher als eine für sich unverbindliche erklärt. Hat er das gethan, so folgt, daß die Unter- lassung derjenigen von der Verordnung vorgeschriebenen Handlungen, die er für ungerecht erklärt hat, nicht als ein Unrecht angesehen werden kann; denn diese Unterlassung erscheint von seiner Seite ja als eine Befolgung eines von ihm als vorhanden angenommenen, wenn auch viel- leicht nicht vorhandenen gesetzlichen Rechts, das eben das Recht der Verordnung aufhebt. Den Ungehorsam gegen eine solche Verordnung im Namen eines Gesetzes nennt man den passiven Widerstand. Das Recht zum passiven Widerstand ist daher ein verfassungsmäßiges, aber nur unter der Voraussetzung der Berufung auf ein Gesetz. Diesem Rechte entspricht eben so unzweifelhaft das Recht der Exekution und zwar auf Kosten des Ungehorsamen. Sowie dagegen dieser passive Widerstand zur wirklichen Widersetzlichkeit durch die That übergeht, so entsteht ein sogenannter aktiver Widerstand, und es kann vernünftiger Weise gar kein Zweifel sein, daß der aktive Widerstand auch gegen eine scheinbar unzweifelhaft gesetzwidrige Verordnung an und für sich straf- bar ist, weil das Urtheil des Widersetzlichen über diese Gesetzwidrigkeit immer als ein subjektives erscheint, und die Zulassung einer Geltung der subjektiven Mei[ - 1 Zeichen fehlt]ung den gesammten öffentlichen Rechtszustand zuletzt auf lauter individuelle Ansichten zurückführen und damit auflösen würde. Das Wesen der verfassungsmäßigen Verwaltung fordert daher, daß der Einzelne seinen Streit mit der Verordnungsgewalt durch den vom Staate selbst zur Lösung desselben organisirten Proceß, das Klag- oder Beschwerderecht, löse, wenn er nicht mit der Exekution gegen seinen passiven Widerstand zufrieden ist; eine Widersetzlichkeit von Seiten des Einzelnen gegen die Verordnung oder der aktive Ungehorsam ist eben derselbe Widerspruch, der in den Privatverhältnissen in der Selbsthülfe liegt. Und dieser Grundsatz, den Zweifel an der Verpflichtung zum Ge- horsam durch den verfassungsmäßigen Proceß der Klage oder Beschwerde zur Entscheidung zu bringen, statt durch aktiven Widerstand, ist der eigent- liche verfassungsmäßige Gehorsam.
Soll aber derselbe nicht ein leeres Wort bleiben, oder zu tiefern
eben als Individuum und nicht mehr als Staatsorgan erſcheint, und daher für jede Verletzung nicht als Obrigkeit, ſondern nur ſtrafrechtlich als Ur- heber betrachtet werden kann. Die genaue Gränze der perſönlichen Verantwortlichkeit muß dann nach den allgemeinen Grundſätzen des Strafrechts in jedem einzelnen Falle beſtimmt werden.
e) Jener Pflicht des bürgerlichen Gehorſams ſteht nun das Recht deſſelben gegenüber. Dieſes Recht beſteht darin, daß der Einzelne auf Grund ſeiner Auffaſſung das Recht der vollziehenden Gewalt zu der betreffenden Verordnung läugnet, und dieſelbe daher als eine für ſich unverbindliche erklärt. Hat er das gethan, ſo folgt, daß die Unter- laſſung derjenigen von der Verordnung vorgeſchriebenen Handlungen, die er für ungerecht erklärt hat, nicht als ein Unrecht angeſehen werden kann; denn dieſe Unterlaſſung erſcheint von ſeiner Seite ja als eine Befolgung eines von ihm als vorhanden angenommenen, wenn auch viel- leicht nicht vorhandenen geſetzlichen Rechts, das eben das Recht der Verordnung aufhebt. Den Ungehorſam gegen eine ſolche Verordnung im Namen eines Geſetzes nennt man den paſſiven Widerſtand. Das Recht zum paſſiven Widerſtand iſt daher ein verfaſſungsmäßiges, aber nur unter der Vorausſetzung der Berufung auf ein Geſetz. Dieſem Rechte entſpricht eben ſo unzweifelhaft das Recht der Exekution und zwar auf Koſten des Ungehorſamen. Sowie dagegen dieſer paſſive Widerſtand zur wirklichen Widerſetzlichkeit durch die That übergeht, ſo entſteht ein ſogenannter aktiver Widerſtand, und es kann vernünftiger Weiſe gar kein Zweifel ſein, daß der aktive Widerſtand auch gegen eine ſcheinbar unzweifelhaft geſetzwidrige Verordnung an und für ſich ſtraf- bar iſt, weil das Urtheil des Widerſetzlichen über dieſe Geſetzwidrigkeit immer als ein ſubjektives erſcheint, und die Zulaſſung einer Geltung der ſubjektiven Mei[ – 1 Zeichen fehlt]ung den geſammten öffentlichen Rechtszuſtand zuletzt auf lauter individuelle Anſichten zurückführen und damit auflöſen würde. Das Weſen der verfaſſungsmäßigen Verwaltung fordert daher, daß der Einzelne ſeinen Streit mit der Verordnungsgewalt durch den vom Staate ſelbſt zur Löſung deſſelben organiſirten Proceß, das Klag- oder Beſchwerderecht, löſe, wenn er nicht mit der Exekution gegen ſeinen paſſiven Widerſtand zufrieden iſt; eine Widerſetzlichkeit von Seiten des Einzelnen gegen die Verordnung oder der aktive Ungehorſam iſt eben derſelbe Widerſpruch, der in den Privatverhältniſſen in der Selbſthülfe liegt. Und dieſer Grundſatz, den Zweifel an der Verpflichtung zum Ge- horſam durch den verfaſſungsmäßigen Proceß der Klage oder Beſchwerde zur Entſcheidung zu bringen, ſtatt durch aktiven Widerſtand, iſt der eigent- liche verfaſſungsmäßige Gehorſam.
Soll aber derſelbe nicht ein leeres Wort bleiben, oder zu tiefern
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eben als Individuum und nicht mehr als Staatsorgan erſcheint, und daher
für jede Verletzung nicht als Obrigkeit, ſondern nur ſtrafrechtlich als Ur-
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Verantwortlichkeit muß dann nach den allgemeinen Grundſätzen des
Strafrechts in jedem einzelnen Falle beſtimmt werden.
e) Jener Pflicht des bürgerlichen Gehorſams ſteht nun das Recht
deſſelben gegenüber. Dieſes Recht beſteht darin, daß der Einzelne auf
Grund ſeiner Auffaſſung das Recht der vollziehenden Gewalt zu der
betreffenden Verordnung läugnet, und dieſelbe daher als eine für
ſich unverbindliche erklärt. Hat er das gethan, ſo folgt, daß die Unter-
laſſung derjenigen von der Verordnung vorgeſchriebenen Handlungen, die
er für ungerecht erklärt hat, nicht als ein Unrecht angeſehen werden
kann; denn dieſe Unterlaſſung erſcheint von ſeiner Seite ja als eine
Befolgung eines von ihm als vorhanden angenommenen, wenn auch viel-
leicht nicht vorhandenen geſetzlichen Rechts, das eben das Recht der
Verordnung aufhebt. Den Ungehorſam gegen eine ſolche Verordnung
im Namen eines Geſetzes nennt man den paſſiven Widerſtand.
Das Recht zum paſſiven Widerſtand iſt daher ein verfaſſungsmäßiges,
aber nur unter der Vorausſetzung der Berufung auf ein Geſetz.
Dieſem Rechte entſpricht eben ſo unzweifelhaft das Recht der Exekution
und zwar auf Koſten des Ungehorſamen. Sowie dagegen dieſer paſſive
Widerſtand zur wirklichen Widerſetzlichkeit durch die That übergeht, ſo
entſteht ein ſogenannter aktiver Widerſtand, und es kann vernünftiger
Weiſe gar kein Zweifel ſein, daß der aktive Widerſtand auch gegen eine
ſcheinbar unzweifelhaft geſetzwidrige Verordnung an und für ſich ſtraf-
bar iſt, weil das Urtheil des Widerſetzlichen über dieſe Geſetzwidrigkeit
immer als ein ſubjektives erſcheint, und die Zulaſſung einer Geltung der
ſubjektiven Mei_ung den geſammten öffentlichen Rechtszuſtand zuletzt
auf lauter individuelle Anſichten zurückführen und damit auflöſen würde.
Das Weſen der verfaſſungsmäßigen Verwaltung fordert daher, daß der
Einzelne ſeinen Streit mit der Verordnungsgewalt durch den vom
Staate ſelbſt zur Löſung deſſelben organiſirten Proceß, das Klag- oder
Beſchwerderecht, löſe, wenn er nicht mit der Exekution gegen ſeinen
paſſiven Widerſtand zufrieden iſt; eine Widerſetzlichkeit von Seiten des
Einzelnen gegen die Verordnung oder der aktive Ungehorſam iſt eben
derſelbe Widerſpruch, der in den Privatverhältniſſen in der Selbſthülfe
liegt. Und dieſer Grundſatz, den Zweifel an der Verpflichtung zum Ge-
horſam durch den verfaſſungsmäßigen Proceß der Klage oder Beſchwerde
zur Entſcheidung zu bringen, ſtatt durch aktiven Widerſtand, iſt der eigent-
liche verfaſſungsmäßige Gehorſam.
Soll aber derſelbe nicht ein leeres Wort bleiben, oder zu tiefern
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/133>, abgerufen am 24.11.2024.
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