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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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hartnäckiger an die Theorie von den einzelnen Fällen anklammern, in denen
man eine Anklage aufstellen kann, und darin die Sicherheit der Freiheit suchen.
Der Drang, diese Fälle so viel als möglich zu vermindern, erzeugte aber natur-
gemäß den Gegendruck der vollziehenden Gewalten; die Regierungen reagirten
gegen ein Recht, das in seiner letzten Consequenz die Vollziehung zur bloßen
Dienerin der Gesetzgebung gemacht hätte, und das Princip der Verantwort-
lichkeit, das dazu bestimmt war, das Vertrauen durch die Bestrafung des
Mißbrauchs zu befestigen, ward zu einer systematischen Entwicklung des Miß-
trauens gegen das Regieren an und für sich, die unglückliche Entfremdung
zwischen Volksvertretung und Regierung förmlich und gesetzlich organisirend,
das Selbstvertrauen der thätigen Elemente des Staatslebens mit der bestän-
digen Drohung strafrechtlicher Anklage lähmend -- ein unerfreulicher Zustand!
Am weitesten ging das deutsche Bewußtsein da, wo es einmal ganz sein eigener
Herr war, in dem Entwurf des Gesetzes über die Verantwortlichkeit der Reichs-
minister vom 18. August 1848 -- außer der "allgemeinen Verantwortlichkeit
für jede Handlung und Unterlassung, welche die Sicherheit und Wohlfahrt des
deutschen Bundesstaates beeinträchtigt" -- noch zehn Anklagegebiete! Und
das in einem Augenblick, wo das Schicksal Deutschlands in der frischen, selbst-
bewußten That seiner leitenden Organe lag! Da darf man sich dann freilich
kaum wundern, wenn die Regierungen der großen Staaten sich sträubten, durch
solche Auffassungen sich zu bloßen Beamten machen zu lassen, die noch dazu
bei größeren Verpflichtungen zu geringerer Selbstthätigkeit verurtheilt werden
sollten. Auf dieser Basis konnte freilich weder ein Reichsministerium, noch
ein anderes bestehen. Das war auch der Grund, weßhalb Preußen den Art. 61
seiner Verfassung von 1850 noch immer nicht ausgeführt hat, Rönne (Preu-
ßisches Staatsrecht I. §. 188. S. 630), und vielleicht auch der Grund, weßhalb
seit Mohl (Verantwortlichkeit der Minister, 1837) dem auch kein anderes, als
das juristische Verständniß der Sache geworden ist, die ganze deutsche Literatur
über dieses Gebiet schweigt, während die sogenannten deutschen Staatsrechte,
namentlich Zöpfl (II. §. 402 ff.) mit der ganzen lebendigen Frage in die
geist- und principlose Methode paragraphenweiser Sammlung des Materials
zurückgefallen sind. -- Eben darum hoffen wir, daß diese ganze Kindheitsepoche
in der Auffassung der Verantwortlichkeit überwunden sein wird. Eine Ver-
fassung bedarf nicht mehr, als des einfachen Satzes der Constitutionen von
1818--1820, daß der Verletzung des verfassungsmäßigen Verwaltungsrechts
das Anklagerecht gegenübersteht, daß das Unterhaus die Anklage zu erheben
und das Oberhaus zu richten hat, während jede Verletzung einzelner Rechte dem
Klagrecht zugewiesen werden muß. Nimmt man der Regierung in unserer
Gegenwart das Recht, selbstthätig aufzutreten, und soll ihr die Formel des
Verantwortlichkeitsgesetzes zum höheren, staatlichen Gewissen werden, so wird
niemals ein kräftiges und gesundes Leben des Staats entstehen können. Wenn
der Zweifel Princip ist, wird der Widerspruch Regel. Liegt die Verantwort-
lichkeit nicht in der lebendigen Kraft der Verfassung, aus den Artikeln ihres
Gesetzes wird sie schwerlich lebendig werden.


hartnäckiger an die Theorie von den einzelnen Fällen anklammern, in denen
man eine Anklage aufſtellen kann, und darin die Sicherheit der Freiheit ſuchen.
Der Drang, dieſe Fälle ſo viel als möglich zu vermindern, erzeugte aber natur-
gemäß den Gegendruck der vollziehenden Gewalten; die Regierungen reagirten
gegen ein Recht, das in ſeiner letzten Conſequenz die Vollziehung zur bloßen
Dienerin der Geſetzgebung gemacht hätte, und das Princip der Verantwort-
lichkeit, das dazu beſtimmt war, das Vertrauen durch die Beſtrafung des
Mißbrauchs zu befeſtigen, ward zu einer ſyſtematiſchen Entwicklung des Miß-
trauens gegen das Regieren an und für ſich, die unglückliche Entfremdung
zwiſchen Volksvertretung und Regierung förmlich und geſetzlich organiſirend,
das Selbſtvertrauen der thätigen Elemente des Staatslebens mit der beſtän-
digen Drohung ſtrafrechtlicher Anklage lähmend — ein unerfreulicher Zuſtand!
Am weiteſten ging das deutſche Bewußtſein da, wo es einmal ganz ſein eigener
Herr war, in dem Entwurf des Geſetzes über die Verantwortlichkeit der Reichs-
miniſter vom 18. Auguſt 1848 — außer der „allgemeinen Verantwortlichkeit
für jede Handlung und Unterlaſſung, welche die Sicherheit und Wohlfahrt des
deutſchen Bundesſtaates beeinträchtigt“ — noch zehn Anklagegebiete! Und
das in einem Augenblick, wo das Schickſal Deutſchlands in der friſchen, ſelbſt-
bewußten That ſeiner leitenden Organe lag! Da darf man ſich dann freilich
kaum wundern, wenn die Regierungen der großen Staaten ſich ſträubten, durch
ſolche Auffaſſungen ſich zu bloßen Beamten machen zu laſſen, die noch dazu
bei größeren Verpflichtungen zu geringerer Selbſtthätigkeit verurtheilt werden
ſollten. Auf dieſer Baſis konnte freilich weder ein Reichsminiſterium, noch
ein anderes beſtehen. Das war auch der Grund, weßhalb Preußen den Art. 61
ſeiner Verfaſſung von 1850 noch immer nicht ausgeführt hat, Rönne (Preu-
ßiſches Staatsrecht I. §. 188. S. 630), und vielleicht auch der Grund, weßhalb
ſeit Mohl (Verantwortlichkeit der Miniſter, 1837) dem auch kein anderes, als
das juriſtiſche Verſtändniß der Sache geworden iſt, die ganze deutſche Literatur
über dieſes Gebiet ſchweigt, während die ſogenannten deutſchen Staatsrechte,
namentlich Zöpfl (II. §. 402 ff.) mit der ganzen lebendigen Frage in die
geiſt- und principloſe Methode paragraphenweiſer Sammlung des Materials
zurückgefallen ſind. — Eben darum hoffen wir, daß dieſe ganze Kindheitsepoche
in der Auffaſſung der Verantwortlichkeit überwunden ſein wird. Eine Ver-
faſſung bedarf nicht mehr, als des einfachen Satzes der Conſtitutionen von
1818—1820, daß der Verletzung des verfaſſungsmäßigen Verwaltungsrechts
das Anklagerecht gegenüberſteht, daß das Unterhaus die Anklage zu erheben
und das Oberhaus zu richten hat, während jede Verletzung einzelner Rechte dem
Klagrecht zugewieſen werden muß. Nimmt man der Regierung in unſerer
Gegenwart das Recht, ſelbſtthätig aufzutreten, und ſoll ihr die Formel des
Verantwortlichkeitsgeſetzes zum höheren, ſtaatlichen Gewiſſen werden, ſo wird
niemals ein kräftiges und geſundes Leben des Staats entſtehen können. Wenn
der Zweifel Princip iſt, wird der Widerſpruch Regel. Liegt die Verantwort-
lichkeit nicht in der lebendigen Kraft der Verfaſſung, aus den Artikeln ihres
Geſetzes wird ſie ſchwerlich lebendig werden.


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[104/0128] hartnäckiger an die Theorie von den einzelnen Fällen anklammern, in denen man eine Anklage aufſtellen kann, und darin die Sicherheit der Freiheit ſuchen. Der Drang, dieſe Fälle ſo viel als möglich zu vermindern, erzeugte aber natur- gemäß den Gegendruck der vollziehenden Gewalten; die Regierungen reagirten gegen ein Recht, das in ſeiner letzten Conſequenz die Vollziehung zur bloßen Dienerin der Geſetzgebung gemacht hätte, und das Princip der Verantwort- lichkeit, das dazu beſtimmt war, das Vertrauen durch die Beſtrafung des Mißbrauchs zu befeſtigen, ward zu einer ſyſtematiſchen Entwicklung des Miß- trauens gegen das Regieren an und für ſich, die unglückliche Entfremdung zwiſchen Volksvertretung und Regierung förmlich und geſetzlich organiſirend, das Selbſtvertrauen der thätigen Elemente des Staatslebens mit der beſtän- digen Drohung ſtrafrechtlicher Anklage lähmend — ein unerfreulicher Zuſtand! Am weiteſten ging das deutſche Bewußtſein da, wo es einmal ganz ſein eigener Herr war, in dem Entwurf des Geſetzes über die Verantwortlichkeit der Reichs- miniſter vom 18. Auguſt 1848 — außer der „allgemeinen Verantwortlichkeit für jede Handlung und Unterlaſſung, welche die Sicherheit und Wohlfahrt des deutſchen Bundesſtaates beeinträchtigt“ — noch zehn Anklagegebiete! Und das in einem Augenblick, wo das Schickſal Deutſchlands in der friſchen, ſelbſt- bewußten That ſeiner leitenden Organe lag! Da darf man ſich dann freilich kaum wundern, wenn die Regierungen der großen Staaten ſich ſträubten, durch ſolche Auffaſſungen ſich zu bloßen Beamten machen zu laſſen, die noch dazu bei größeren Verpflichtungen zu geringerer Selbſtthätigkeit verurtheilt werden ſollten. Auf dieſer Baſis konnte freilich weder ein Reichsminiſterium, noch ein anderes beſtehen. Das war auch der Grund, weßhalb Preußen den Art. 61 ſeiner Verfaſſung von 1850 noch immer nicht ausgeführt hat, Rönne (Preu- ßiſches Staatsrecht I. §. 188. S. 630), und vielleicht auch der Grund, weßhalb ſeit Mohl (Verantwortlichkeit der Miniſter, 1837) dem auch kein anderes, als das juriſtiſche Verſtändniß der Sache geworden iſt, die ganze deutſche Literatur über dieſes Gebiet ſchweigt, während die ſogenannten deutſchen Staatsrechte, namentlich Zöpfl (II. §. 402 ff.) mit der ganzen lebendigen Frage in die geiſt- und principloſe Methode paragraphenweiſer Sammlung des Materials zurückgefallen ſind. — Eben darum hoffen wir, daß dieſe ganze Kindheitsepoche in der Auffaſſung der Verantwortlichkeit überwunden ſein wird. Eine Ver- faſſung bedarf nicht mehr, als des einfachen Satzes der Conſtitutionen von 1818—1820, daß der Verletzung des verfaſſungsmäßigen Verwaltungsrechts das Anklagerecht gegenüberſteht, daß das Unterhaus die Anklage zu erheben und das Oberhaus zu richten hat, während jede Verletzung einzelner Rechte dem Klagrecht zugewieſen werden muß. Nimmt man der Regierung in unſerer Gegenwart das Recht, ſelbſtthätig aufzutreten, und ſoll ihr die Formel des Verantwortlichkeitsgeſetzes zum höheren, ſtaatlichen Gewiſſen werden, ſo wird niemals ein kräftiges und geſundes Leben des Staats entſtehen können. Wenn der Zweifel Princip iſt, wird der Widerſpruch Regel. Liegt die Verantwort- lichkeit nicht in der lebendigen Kraft der Verfaſſung, aus den Artikeln ihres Geſetzes wird ſie ſchwerlich lebendig werden.

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/128>, abgerufen am 21.11.2024.