Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

Bild:
<< vorherige Seite

es war eine Macht, welche in allen Ländern gleichmäßig wirkte;
wer ihr angehörte, hatte mit seinen Lehrern und Schülern, mit
seinen Bestrebungen und Erfolgen die ganze europäische Welt vor
sich; gelang ihm etwas, so war er gewiß, jenseits wie diesseits
des Rheins, jenseits wie diesseits der Alpen gehört zu werden; und
wohl mußte es ein erhebendes Bewußtsein genannt werden, an
dieser gewaltigen, das ganze Leben Europa's umfassenden Arbeit
Theil zu nehmen.

Diese Zeit ist hin. Die französische Codifikation hat die ge-
sammte romanische Welt von dieser römischen Rechtsbildung getrennt,
leider nicht bloß äußerlich, sondern auch innerlich, der Mutter fast
vergessend, der sie im Grunde alles verdankt. Die französischen
Codes haben einen siegreichen Kampf begonnen mit dem Corpus
Juris.
In Frankreich, Spanien, Italien, Belgien haben sie es
überwunden; selbst das alte, seiner Klassizität so stolze Holland ist
der neuen Codifikation verfallen; dem englischen und skandinavischen
Rechtsleben ist jenes Erbtheil des alten römischen Reiches ferner
gerückt als je, und die Frage tritt uns nahe genug, wenn es ein-
mal ein europäisches Rechtsleben wieder geben soll, wie es dasselbe
einst gab, worin wird es bestehen?

Nur Deutschland blieb die feste Burg des Corpus Juris, der
Institutionen und Pandekten. Aber auch das deutsche Rechtsleben
vermochten sie nicht mehr ganz zu erfüllen. Die französische Re-
volution hatte nicht bloß das römische Recht in Deutschland, es
hatte die deutsche Volksthümlichkeit selbst in Frage gestellt. Da griff
das deutsche Volksbewußtsein, das unter allen Völkern das am
meisten organische ist, in seine Vergangenheit zurück, um aus seinen
Wurzeln einen neuen Keim zu treiben. Das deutsche Privatrecht,
bisher ein Nebengebiet der Rechtswissenschaft und kaum sich des
rein lokalen Charakters erwehrend, gestaltete sich nun zur deutschen
Reichs- und Rechtsgeschichte. Die deutsche Reichs- und Rechts-
geschichte ward ein lebendiger Theil der deutschen Jurisprudenz;
sie war nicht eine Formel-Wissenschaft; sie hatte nicht mit dem bloß
Vergangenen zu thun; sie wollte nicht alte Dokumente vor dem
Verderben bewahren, und die römische Casuistik auf die unklaren
Worte der leges barbarorum oder den Sachsen- und Schwaben-
spiegel anwenden, um ein trefflicher Advokat auch vor dem lange

es war eine Macht, welche in allen Ländern gleichmäßig wirkte;
wer ihr angehörte, hatte mit ſeinen Lehrern und Schülern, mit
ſeinen Beſtrebungen und Erfolgen die ganze europäiſche Welt vor
ſich; gelang ihm etwas, ſo war er gewiß, jenſeits wie dieſſeits
des Rheins, jenſeits wie dieſſeits der Alpen gehört zu werden; und
wohl mußte es ein erhebendes Bewußtſein genannt werden, an
dieſer gewaltigen, das ganze Leben Europa’s umfaſſenden Arbeit
Theil zu nehmen.

Dieſe Zeit iſt hin. Die franzöſiſche Codifikation hat die ge-
ſammte romaniſche Welt von dieſer römiſchen Rechtsbildung getrennt,
leider nicht bloß äußerlich, ſondern auch innerlich, der Mutter faſt
vergeſſend, der ſie im Grunde alles verdankt. Die franzöſiſchen
Codes haben einen ſiegreichen Kampf begonnen mit dem Corpus
Juris.
In Frankreich, Spanien, Italien, Belgien haben ſie es
überwunden; ſelbſt das alte, ſeiner Klaſſizität ſo ſtolze Holland iſt
der neuen Codifikation verfallen; dem engliſchen und ſkandinaviſchen
Rechtsleben iſt jenes Erbtheil des alten römiſchen Reiches ferner
gerückt als je, und die Frage tritt uns nahe genug, wenn es ein-
mal ein europäiſches Rechtsleben wieder geben ſoll, wie es daſſelbe
einſt gab, worin wird es beſtehen?

Nur Deutſchland blieb die feſte Burg des Corpus Juris, der
Inſtitutionen und Pandekten. Aber auch das deutſche Rechtsleben
vermochten ſie nicht mehr ganz zu erfüllen. Die franzöſiſche Re-
volution hatte nicht bloß das römiſche Recht in Deutſchland, es
hatte die deutſche Volksthümlichkeit ſelbſt in Frage geſtellt. Da griff
das deutſche Volksbewußtſein, das unter allen Völkern das am
meiſten organiſche iſt, in ſeine Vergangenheit zurück, um aus ſeinen
Wurzeln einen neuen Keim zu treiben. Das deutſche Privatrecht,
bisher ein Nebengebiet der Rechtswiſſenſchaft und kaum ſich des
rein lokalen Charakters erwehrend, geſtaltete ſich nun zur deutſchen
Reichs- und Rechtsgeſchichte. Die deutſche Reichs- und Rechts-
geſchichte ward ein lebendiger Theil der deutſchen Jurisprudenz;
ſie war nicht eine Formel-Wiſſenſchaft; ſie hatte nicht mit dem bloß
Vergangenen zu thun; ſie wollte nicht alte Dokumente vor dem
Verderben bewahren, und die römiſche Caſuiſtik auf die unklaren
Worte der leges barbarorum oder den Sachſen- und Schwaben-
ſpiegel anwenden, um ein trefflicher Advokat auch vor dem lange

<TEI>
  <text>
    <front>
      <div type="dedication">
        <p><pb facs="#f0012" n="VI"/>
es war eine Macht, welche in allen Ländern gleichmäßig wirkte;<lb/>
wer ihr angehörte, hatte mit &#x017F;einen Lehrern und Schülern, mit<lb/>
&#x017F;einen Be&#x017F;trebungen und Erfolgen die ganze europäi&#x017F;che Welt vor<lb/>
&#x017F;ich; gelang ihm etwas, &#x017F;o war er gewiß, jen&#x017F;eits wie die&#x017F;&#x017F;eits<lb/>
des Rheins, jen&#x017F;eits wie die&#x017F;&#x017F;eits der Alpen gehört zu werden; und<lb/>
wohl mußte es ein erhebendes Bewußt&#x017F;ein genannt werden, an<lb/>
die&#x017F;er gewaltigen, das ganze Leben Europa&#x2019;s umfa&#x017F;&#x017F;enden Arbeit<lb/>
Theil zu nehmen.</p><lb/>
        <p>Die&#x017F;e Zeit i&#x017F;t hin. Die franzö&#x017F;i&#x017F;che Codifikation hat die ge-<lb/>
&#x017F;ammte romani&#x017F;che Welt von die&#x017F;er römi&#x017F;chen Rechtsbildung getrennt,<lb/>
leider nicht bloß äußerlich, &#x017F;ondern auch innerlich, der Mutter fa&#x017F;t<lb/>
verge&#x017F;&#x017F;end, der &#x017F;ie im Grunde alles verdankt. Die franzö&#x017F;i&#x017F;chen<lb/><hi rendition="#aq">Codes</hi> haben einen &#x017F;iegreichen Kampf begonnen mit dem <hi rendition="#aq">Corpus<lb/>
Juris.</hi> In Frankreich, Spanien, Italien, Belgien haben &#x017F;ie es<lb/>
überwunden; &#x017F;elb&#x017F;t das alte, &#x017F;einer Kla&#x017F;&#x017F;izität &#x017F;o &#x017F;tolze Holland i&#x017F;t<lb/>
der neuen Codifikation verfallen; dem engli&#x017F;chen und &#x017F;kandinavi&#x017F;chen<lb/>
Rechtsleben i&#x017F;t jenes Erbtheil des alten römi&#x017F;chen Reiches ferner<lb/>
gerückt als je, und die Frage tritt uns nahe genug, <hi rendition="#g">wenn</hi> es ein-<lb/>
mal ein europäi&#x017F;ches Rechtsleben wieder geben &#x017F;oll, wie es da&#x017F;&#x017F;elbe<lb/>
ein&#x017F;t gab, worin wird es be&#x017F;tehen?</p><lb/>
        <p>Nur Deut&#x017F;chland blieb die fe&#x017F;te Burg des <hi rendition="#aq">Corpus Juris,</hi> der<lb/>
In&#x017F;titutionen und Pandekten. Aber auch das deut&#x017F;che Rechtsleben<lb/>
vermochten &#x017F;ie nicht mehr ganz zu erfüllen. Die franzö&#x017F;i&#x017F;che Re-<lb/>
volution hatte nicht bloß das römi&#x017F;che Recht in Deut&#x017F;chland, es<lb/>
hatte die deut&#x017F;che Volksthümlichkeit &#x017F;elb&#x017F;t in Frage ge&#x017F;tellt. Da griff<lb/>
das deut&#x017F;che Volksbewußt&#x017F;ein, das unter allen Völkern das am<lb/>
mei&#x017F;ten organi&#x017F;che i&#x017F;t, in &#x017F;eine Vergangenheit zurück, um aus &#x017F;einen<lb/>
Wurzeln einen neuen Keim zu treiben. Das deut&#x017F;che Privatrecht,<lb/>
bisher ein Nebengebiet der Rechtswi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft und kaum &#x017F;ich des<lb/>
rein lokalen Charakters erwehrend, ge&#x017F;taltete &#x017F;ich nun zur deut&#x017F;chen<lb/>
Reichs- und Rechtsge&#x017F;chichte. Die deut&#x017F;che Reichs- und Rechts-<lb/>
ge&#x017F;chichte ward ein lebendiger Theil der deut&#x017F;chen Jurisprudenz;<lb/>
&#x017F;ie war nicht eine Formel-Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft; &#x017F;ie hatte nicht mit dem bloß<lb/>
Vergangenen zu thun; &#x017F;ie wollte nicht alte Dokumente vor dem<lb/>
Verderben bewahren, und die römi&#x017F;che Ca&#x017F;ui&#x017F;tik auf die unklaren<lb/>
Worte der <hi rendition="#aq">leges barbarorum</hi> oder den Sach&#x017F;en- und Schwaben-<lb/>
&#x017F;piegel anwenden, um ein trefflicher Advokat auch vor dem lange<lb/></p>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[VI/0012] es war eine Macht, welche in allen Ländern gleichmäßig wirkte; wer ihr angehörte, hatte mit ſeinen Lehrern und Schülern, mit ſeinen Beſtrebungen und Erfolgen die ganze europäiſche Welt vor ſich; gelang ihm etwas, ſo war er gewiß, jenſeits wie dieſſeits des Rheins, jenſeits wie dieſſeits der Alpen gehört zu werden; und wohl mußte es ein erhebendes Bewußtſein genannt werden, an dieſer gewaltigen, das ganze Leben Europa’s umfaſſenden Arbeit Theil zu nehmen. Dieſe Zeit iſt hin. Die franzöſiſche Codifikation hat die ge- ſammte romaniſche Welt von dieſer römiſchen Rechtsbildung getrennt, leider nicht bloß äußerlich, ſondern auch innerlich, der Mutter faſt vergeſſend, der ſie im Grunde alles verdankt. Die franzöſiſchen Codes haben einen ſiegreichen Kampf begonnen mit dem Corpus Juris. In Frankreich, Spanien, Italien, Belgien haben ſie es überwunden; ſelbſt das alte, ſeiner Klaſſizität ſo ſtolze Holland iſt der neuen Codifikation verfallen; dem engliſchen und ſkandinaviſchen Rechtsleben iſt jenes Erbtheil des alten römiſchen Reiches ferner gerückt als je, und die Frage tritt uns nahe genug, wenn es ein- mal ein europäiſches Rechtsleben wieder geben ſoll, wie es daſſelbe einſt gab, worin wird es beſtehen? Nur Deutſchland blieb die feſte Burg des Corpus Juris, der Inſtitutionen und Pandekten. Aber auch das deutſche Rechtsleben vermochten ſie nicht mehr ganz zu erfüllen. Die franzöſiſche Re- volution hatte nicht bloß das römiſche Recht in Deutſchland, es hatte die deutſche Volksthümlichkeit ſelbſt in Frage geſtellt. Da griff das deutſche Volksbewußtſein, das unter allen Völkern das am meiſten organiſche iſt, in ſeine Vergangenheit zurück, um aus ſeinen Wurzeln einen neuen Keim zu treiben. Das deutſche Privatrecht, bisher ein Nebengebiet der Rechtswiſſenſchaft und kaum ſich des rein lokalen Charakters erwehrend, geſtaltete ſich nun zur deutſchen Reichs- und Rechtsgeſchichte. Die deutſche Reichs- und Rechts- geſchichte ward ein lebendiger Theil der deutſchen Jurisprudenz; ſie war nicht eine Formel-Wiſſenſchaft; ſie hatte nicht mit dem bloß Vergangenen zu thun; ſie wollte nicht alte Dokumente vor dem Verderben bewahren, und die römiſche Caſuiſtik auf die unklaren Worte der leges barbarorum oder den Sachſen- und Schwaben- ſpiegel anwenden, um ein trefflicher Advokat auch vor dem lange

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/12
Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. VI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/12>, abgerufen am 24.11.2024.