zustand noch gar nicht kennt; Zachariä, der in II. §. 153 noch auf dem- selben Standpunkt steht, während er im Belagerungszustand nur einen polizei- lichen Akt sieht, I. S. 142. Mohl (Encyklopädie §. 29) und Bluntschli (Allgemeines Staatsrecht II. 108) fassen das Nothrecht höher auf; sehr gut sagt Mohl: "Man hat sich nicht selten bemüht, wenigstens den Eintritt des Falles durch bestimmte Formen festzustellen; es ist aber einleuchtend, daß dieß eine Folgewidrigkeit und entweder ein schädliches Hemmniß oder eine leere Warnung ist. Wenn die Noth die Beschränkung zu durchbrechen gebietet, so muß es ge- schehen, und ist gerechtfertigt" (S. 217). Das Recht des Belagerungszu- standes in Preußen ist durch das Gesetz vom 4. Juni 1851 bestimmt, das an die Stelle der octroyirten Verordnung vom 10. Mai 1849 getreten ist. Siehe Rönne Preußisches Staatsrecht II. §. 52. S. 217. In Frankreich versprach der Art. 12 der Constitution von 1852 ein Gesetz über den Belagerungszustand; es ist aber keines erschienen, und gilt daher noch immer das Gesetz vom 9. August 1849, nur mit dem Unterschiede, daß nach diesem Gesetz sofort bei Erklärung des Belagerungszustandes die Assemblee nationale sich versammeln mußte, während nach Art. 12 der Kaiser nur darüber an den Senat "berichtet."
Zweites Gebiet. Die Regierungsgewalt und das Regierungsrecht.
Während die vollziehende Staatsgewalt, der eigentlichen Regierungs- gewalt gegenüber selbständig gedacht, demnach es mit den allgemeinsten Formen der Staatsthätigkeit zu thun hat, erscheint die Regierungs- gewalt in den wirklichen Aufgaben der Verwaltung. Hier treten sich daher die beiden Elemente, der gesetzliche und der verwaltende Wille des Staats, concret gegenüber; in der Regierung berühren sie sich im wirk- lichen Leben; und hier wird daher auch das Recht eine bestimmtere und faßbare Gestalt gewinnen. Denn während bei der selbständigen Aktion der vollziehenden Staatsgewalt ein Gegensatz zwischen Wille und That des Staats schwer denkbar ist und fast nur gewaltthätig hervor- gerufen werden kann, greifen bei der Regierungsthätigkeit die wirklichen Lebensverhältnisse so tief in die Gesetze hinein, sie sind so mächtig und zugleich so wechselnd, daß man nicht daran denken darf, die Harmonie zwischen beiden Faktoren durch ein paar einfache Sätze herzustellen. Und dieß um so weniger, als die Regierung selbst nicht als einfache Gewalt erscheint, sondern als ein System von Gewalten, deren jede ihre eigene Funktion hat. Indem wir daher das Rechtsleben der ver- fassungsmäßigen Verwaltung als einen lebendigen Proceß bezeichnen, der in bestimmten rechtlich gültigen Formen jene Harmonie herstellt, wird dieser Proceß zu einem System von Rechtssätzen und zwar
zuſtand noch gar nicht kennt; Zachariä, der in II. §. 153 noch auf dem- ſelben Standpunkt ſteht, während er im Belagerungszuſtand nur einen polizei- lichen Akt ſieht, I. S. 142. Mohl (Encyklopädie §. 29) und Bluntſchli (Allgemeines Staatsrecht II. 108) faſſen das Nothrecht höher auf; ſehr gut ſagt Mohl: „Man hat ſich nicht ſelten bemüht, wenigſtens den Eintritt des Falles durch beſtimmte Formen feſtzuſtellen; es iſt aber einleuchtend, daß dieß eine Folgewidrigkeit und entweder ein ſchädliches Hemmniß oder eine leere Warnung iſt. Wenn die Noth die Beſchränkung zu durchbrechen gebietet, ſo muß es ge- ſchehen, und iſt gerechtfertigt“ (S. 217). Das Recht des Belagerungszu- ſtandes in Preußen iſt durch das Geſetz vom 4. Juni 1851 beſtimmt, das an die Stelle der octroyirten Verordnung vom 10. Mai 1849 getreten iſt. Siehe Rönne Preußiſches Staatsrecht II. §. 52. S. 217. In Frankreich verſprach der Art. 12 der Conſtitution von 1852 ein Geſetz über den Belagerungszuſtand; es iſt aber keines erſchienen, und gilt daher noch immer das Geſetz vom 9. Auguſt 1849, nur mit dem Unterſchiede, daß nach dieſem Geſetz ſofort bei Erklärung des Belagerungszuſtandes die Assemblée nationale ſich verſammeln mußte, während nach Art. 12 der Kaiſer nur darüber an den Senat „berichtet.“
Zweites Gebiet. Die Regierungsgewalt und das Regierungsrecht.
Während die vollziehende Staatsgewalt, der eigentlichen Regierungs- gewalt gegenüber ſelbſtändig gedacht, demnach es mit den allgemeinſten Formen der Staatsthätigkeit zu thun hat, erſcheint die Regierungs- gewalt in den wirklichen Aufgaben der Verwaltung. Hier treten ſich daher die beiden Elemente, der geſetzliche und der verwaltende Wille des Staats, concret gegenüber; in der Regierung berühren ſie ſich im wirk- lichen Leben; und hier wird daher auch das Recht eine beſtimmtere und faßbare Geſtalt gewinnen. Denn während bei der ſelbſtändigen Aktion der vollziehenden Staatsgewalt ein Gegenſatz zwiſchen Wille und That des Staats ſchwer denkbar iſt und faſt nur gewaltthätig hervor- gerufen werden kann, greifen bei der Regierungsthätigkeit die wirklichen Lebensverhältniſſe ſo tief in die Geſetze hinein, ſie ſind ſo mächtig und zugleich ſo wechſelnd, daß man nicht daran denken darf, die Harmonie zwiſchen beiden Faktoren durch ein paar einfache Sätze herzuſtellen. Und dieß um ſo weniger, als die Regierung ſelbſt nicht als einfache Gewalt erſcheint, ſondern als ein Syſtem von Gewalten, deren jede ihre eigene Funktion hat. Indem wir daher das Rechtsleben der ver- faſſungsmäßigen Verwaltung als einen lebendigen Proceß bezeichnen, der in beſtimmten rechtlich gültigen Formen jene Harmonie herſtellt, wird dieſer Proceß zu einem Syſtem von Rechtsſätzen und zwar
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0115"n="91"/>
zuſtand noch gar nicht kennt; <hirendition="#g">Zachariä</hi>, der in <hirendition="#aq">II.</hi> §. 153 noch auf dem-<lb/>ſelben Standpunkt ſteht, während er im Belagerungszuſtand nur einen polizei-<lb/>
lichen Akt ſieht, <hirendition="#aq">I.</hi> S. 142. <hirendition="#g">Mohl</hi> (Encyklopädie §. 29) und <hirendition="#g">Bluntſchli</hi><lb/>
(Allgemeines Staatsrecht <hirendition="#aq">II.</hi> 108) faſſen das Nothrecht höher auf; ſehr gut ſagt<lb/>
Mohl: „Man hat ſich nicht ſelten bemüht, wenigſtens den Eintritt des Falles<lb/>
durch beſtimmte Formen feſtzuſtellen; es iſt aber einleuchtend, daß dieß eine<lb/>
Folgewidrigkeit und entweder ein ſchädliches Hemmniß oder eine leere Warnung<lb/>
iſt. Wenn die Noth die Beſchränkung zu durchbrechen gebietet, ſo muß es ge-<lb/>ſchehen, und iſt gerechtfertigt“ (S. 217). Das Recht des <hirendition="#g">Belagerungszu-<lb/>ſtandes</hi> in Preußen iſt durch das Geſetz vom 4. Juni 1851 beſtimmt, das an<lb/>
die Stelle der octroyirten Verordnung vom 10. Mai 1849 getreten iſt. Siehe<lb/><hirendition="#g">Rönne</hi> Preußiſches Staatsrecht <hirendition="#aq">II.</hi> §. 52. S. 217. In Frankreich verſprach<lb/>
der Art. 12 der Conſtitution von 1852 ein Geſetz über den Belagerungszuſtand;<lb/>
es iſt aber keines erſchienen, und gilt daher noch immer das Geſetz vom<lb/>
9. Auguſt 1849, nur mit dem Unterſchiede, daß nach dieſem Geſetz ſofort bei<lb/>
Erklärung des Belagerungszuſtandes die <hirendition="#aq">Assemblée nationale</hi>ſich verſammeln<lb/>
mußte, während nach Art. 12 der Kaiſer nur darüber an den Senat „berichtet.“</p></div><lb/><divn="3"><head><hirendition="#b">Zweites Gebiet.</hi><lb/><hirendition="#g">Die Regierungsgewalt und das Regierungsrecht</hi>.</head><lb/><p>Während die vollziehende Staatsgewalt, der eigentlichen Regierungs-<lb/>
gewalt gegenüber ſelbſtändig gedacht, demnach es mit den allgemeinſten<lb/>
Formen der Staatsthätigkeit zu thun hat, erſcheint die Regierungs-<lb/>
gewalt in den wirklichen Aufgaben der Verwaltung. Hier treten ſich<lb/>
daher die beiden Elemente, der geſetzliche und der verwaltende Wille des<lb/>
Staats, concret gegenüber; in der Regierung berühren ſie ſich im wirk-<lb/>
lichen Leben; und hier wird daher auch das Recht eine beſtimmtere<lb/>
und faßbare Geſtalt gewinnen. Denn während bei der ſelbſtändigen<lb/>
Aktion der vollziehenden Staatsgewalt ein Gegenſatz zwiſchen Wille und<lb/>
That des Staats ſchwer denkbar iſt und faſt nur gewaltthätig hervor-<lb/>
gerufen werden kann, greifen bei der Regierungsthätigkeit die wirklichen<lb/>
Lebensverhältniſſe ſo tief in die Geſetze hinein, ſie ſind ſo mächtig und<lb/>
zugleich ſo wechſelnd, daß man nicht daran denken darf, die Harmonie<lb/>
zwiſchen beiden Faktoren durch ein paar einfache Sätze herzuſtellen.<lb/>
Und dieß um ſo weniger, als die Regierung ſelbſt nicht als einfache<lb/>
Gewalt erſcheint, ſondern als ein Syſtem von Gewalten, deren jede<lb/>
ihre eigene Funktion hat. Indem wir daher das Rechtsleben der ver-<lb/>
faſſungsmäßigen Verwaltung als einen lebendigen Proceß bezeichnen,<lb/>
der in beſtimmten rechtlich gültigen Formen jene Harmonie herſtellt,<lb/>
wird dieſer Proceß zu einem <hirendition="#g">Syſtem von Rechtsſätzen</hi> und zwar<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[91/0115]
zuſtand noch gar nicht kennt; Zachariä, der in II. §. 153 noch auf dem-
ſelben Standpunkt ſteht, während er im Belagerungszuſtand nur einen polizei-
lichen Akt ſieht, I. S. 142. Mohl (Encyklopädie §. 29) und Bluntſchli
(Allgemeines Staatsrecht II. 108) faſſen das Nothrecht höher auf; ſehr gut ſagt
Mohl: „Man hat ſich nicht ſelten bemüht, wenigſtens den Eintritt des Falles
durch beſtimmte Formen feſtzuſtellen; es iſt aber einleuchtend, daß dieß eine
Folgewidrigkeit und entweder ein ſchädliches Hemmniß oder eine leere Warnung
iſt. Wenn die Noth die Beſchränkung zu durchbrechen gebietet, ſo muß es ge-
ſchehen, und iſt gerechtfertigt“ (S. 217). Das Recht des Belagerungszu-
ſtandes in Preußen iſt durch das Geſetz vom 4. Juni 1851 beſtimmt, das an
die Stelle der octroyirten Verordnung vom 10. Mai 1849 getreten iſt. Siehe
Rönne Preußiſches Staatsrecht II. §. 52. S. 217. In Frankreich verſprach
der Art. 12 der Conſtitution von 1852 ein Geſetz über den Belagerungszuſtand;
es iſt aber keines erſchienen, und gilt daher noch immer das Geſetz vom
9. Auguſt 1849, nur mit dem Unterſchiede, daß nach dieſem Geſetz ſofort bei
Erklärung des Belagerungszuſtandes die Assemblée nationale ſich verſammeln
mußte, während nach Art. 12 der Kaiſer nur darüber an den Senat „berichtet.“
Zweites Gebiet.
Die Regierungsgewalt und das Regierungsrecht.
Während die vollziehende Staatsgewalt, der eigentlichen Regierungs-
gewalt gegenüber ſelbſtändig gedacht, demnach es mit den allgemeinſten
Formen der Staatsthätigkeit zu thun hat, erſcheint die Regierungs-
gewalt in den wirklichen Aufgaben der Verwaltung. Hier treten ſich
daher die beiden Elemente, der geſetzliche und der verwaltende Wille des
Staats, concret gegenüber; in der Regierung berühren ſie ſich im wirk-
lichen Leben; und hier wird daher auch das Recht eine beſtimmtere
und faßbare Geſtalt gewinnen. Denn während bei der ſelbſtändigen
Aktion der vollziehenden Staatsgewalt ein Gegenſatz zwiſchen Wille und
That des Staats ſchwer denkbar iſt und faſt nur gewaltthätig hervor-
gerufen werden kann, greifen bei der Regierungsthätigkeit die wirklichen
Lebensverhältniſſe ſo tief in die Geſetze hinein, ſie ſind ſo mächtig und
zugleich ſo wechſelnd, daß man nicht daran denken darf, die Harmonie
zwiſchen beiden Faktoren durch ein paar einfache Sätze herzuſtellen.
Und dieß um ſo weniger, als die Regierung ſelbſt nicht als einfache
Gewalt erſcheint, ſondern als ein Syſtem von Gewalten, deren jede
ihre eigene Funktion hat. Indem wir daher das Rechtsleben der ver-
faſſungsmäßigen Verwaltung als einen lebendigen Proceß bezeichnen,
der in beſtimmten rechtlich gültigen Formen jene Harmonie herſtellt,
wird dieſer Proceß zu einem Syſtem von Rechtsſätzen und zwar
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/115>, abgerufen am 14.10.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.