herzustellen, und dadurch die großen Principien des verfassungsmäßigen Regierungsrechts bei sich zur Anwendung zu bringen. In diesem Sinne ist die Gemeinde die Erzieherin des Einzelnen zum staatsbürger- lichen Leben. Die Gemeinde hat daher ihr Oberhaupt, ihre Verfassung und ihre Verwaltung; sie soll wenigstens die Organe dieser Funktionen in Bürgermeister, Gemeinderath (Magistrat) und Gemeindevertretung; sie sollte in den Magistratsräthen das Analogon der Minister haben, um das System der Verantwortlichkeit und Haftung ausbilden zu können. Eben darum ist das Gemeindewesen der Kern aller Selbstver- waltung, die Gemeinde die Heimath der freien Verwaltung, und ein Volk ohne freie Gemeinde trotz aller freien Verfassung ein nicht freies, sondern administrativ unfreies Volk. Deßhalb sagen wir, daß die Ver- fassung nur der erste, die freie Verwaltung in der Gemeinde aber der zweite Schritt zur Freiheit des Volkes sei. Und die Geschichte des Ge- meindewesens beweist zu allen Zeiten und in allen Völkern, daß in ihm der Maßstab der inneren Freiheit gegeben ist.
So lange nun das Gemeindewesen allein auf historisch entstandenen Ortsgemeinden beruht, ist eine organisch entwickelte Selbstverwal- tung nicht möglich, weil die Ortsgemeinden bei gleichen Aufgaben und gleichen Rechten so verschieden in Umfang und Kraft sind, daß der bei weitem größte Theil derselben unfähig erscheint, die Organe der Verfassung und Verwaltung bei sich auszubilden. Die Zukunft des Gemeindewesens liegt daher in der Bildung von Verwaltungsgemein- den, für deren Beschlüsse die Ortsgemeinde das vollziehende Organ ist. Die bisherigen Versuche der Kreis- und Bezirksgemeinden sind nur noch der erste Beginn dieser höheren Organisation, da sie meist entweder bloß Rathskörper an der Seite der Beamteten, wie namentlich in Frankreich (Arrondissements und Sousprefets) oder Verbände mit einer einzelnen Aufgabe sind, wie in England. Deutschland wird die Arbeit und die Ehre haben, die Verwaltungsgemeinde aus der Orts- gemeinde zu erschaffen, und damit das wahre System der Selbstver- waltung zu verwirklichen.
Die Corporationen endlich sind Selbstverwaltungskörper für einen bestimmten einzelnen Zweck auf Grundlage eines eigenen Ver- mögens. Sie sind wieder entweder Körperschaften, welche die ein- heitliche, öffentliche Organisation einer Berufsthätigkeit enthalten, oder Stiftungen, deren Mittel für einen socialen Zweck verwaltet werden. Die Organisation der ersteren beruht daher meistens auf ständischen Prin- cipien, die des zweiten auf den individuellen Vorschriften der Stifter. Beide gehen in Staatsanstalten über, wenn der Staat ihnen für die wachsende Bedeutung ihrer Aufgabe die Mittel aus seiner Verwaltung
herzuſtellen, und dadurch die großen Principien des verfaſſungsmäßigen Regierungsrechts bei ſich zur Anwendung zu bringen. In dieſem Sinne iſt die Gemeinde die Erzieherin des Einzelnen zum ſtaatsbürger- lichen Leben. Die Gemeinde hat daher ihr Oberhaupt, ihre Verfaſſung und ihre Verwaltung; ſie ſoll wenigſtens die Organe dieſer Funktionen in Bürgermeiſter, Gemeinderath (Magiſtrat) und Gemeindevertretung; ſie ſollte in den Magiſtratsräthen das Analogon der Miniſter haben, um das Syſtem der Verantwortlichkeit und Haftung ausbilden zu können. Eben darum iſt das Gemeindeweſen der Kern aller Selbſtver- waltung, die Gemeinde die Heimath der freien Verwaltung, und ein Volk ohne freie Gemeinde trotz aller freien Verfaſſung ein nicht freies, ſondern adminiſtrativ unfreies Volk. Deßhalb ſagen wir, daß die Ver- faſſung nur der erſte, die freie Verwaltung in der Gemeinde aber der zweite Schritt zur Freiheit des Volkes ſei. Und die Geſchichte des Ge- meindeweſens beweist zu allen Zeiten und in allen Völkern, daß in ihm der Maßſtab der inneren Freiheit gegeben iſt.
So lange nun das Gemeindeweſen allein auf hiſtoriſch entſtandenen Ortsgemeinden beruht, iſt eine organiſch entwickelte Selbſtverwal- tung nicht möglich, weil die Ortsgemeinden bei gleichen Aufgaben und gleichen Rechten ſo verſchieden in Umfang und Kraft ſind, daß der bei weitem größte Theil derſelben unfähig erſcheint, die Organe der Verfaſſung und Verwaltung bei ſich auszubilden. Die Zukunft des Gemeindeweſens liegt daher in der Bildung von Verwaltungsgemein- den, für deren Beſchlüſſe die Ortsgemeinde das vollziehende Organ iſt. Die bisherigen Verſuche der Kreis- und Bezirksgemeinden ſind nur noch der erſte Beginn dieſer höheren Organiſation, da ſie meiſt entweder bloß Rathskörper an der Seite der Beamteten, wie namentlich in Frankreich (Arrondissements und Souspréfets) oder Verbände mit einer einzelnen Aufgabe ſind, wie in England. Deutſchland wird die Arbeit und die Ehre haben, die Verwaltungsgemeinde aus der Orts- gemeinde zu erſchaffen, und damit das wahre Syſtem der Selbſtver- waltung zu verwirklichen.
Die Corporationen endlich ſind Selbſtverwaltungskörper für einen beſtimmten einzelnen Zweck auf Grundlage eines eigenen Ver- mögens. Sie ſind wieder entweder Körperſchaften, welche die ein- heitliche, öffentliche Organiſation einer Berufsthätigkeit enthalten, oder Stiftungen, deren Mittel für einen ſocialen Zweck verwaltet werden. Die Organiſation der erſteren beruht daher meiſtens auf ſtändiſchen Prin- cipien, die des zweiten auf den individuellen Vorſchriften der Stifter. Beide gehen in Staatsanſtalten über, wenn der Staat ihnen für die wachſende Bedeutung ihrer Aufgabe die Mittel aus ſeiner Verwaltung
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[27/0051]
herzuſtellen, und dadurch die großen Principien des verfaſſungsmäßigen
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Sinne iſt die Gemeinde die Erzieherin des Einzelnen zum ſtaatsbürger-
lichen Leben. Die Gemeinde hat daher ihr Oberhaupt, ihre Verfaſſung
und ihre Verwaltung; ſie ſoll wenigſtens die Organe dieſer Funktionen
in Bürgermeiſter, Gemeinderath (Magiſtrat) und Gemeindevertretung;
ſie ſollte in den Magiſtratsräthen das Analogon der Miniſter haben,
um das Syſtem der Verantwortlichkeit und Haftung ausbilden zu
können. Eben darum iſt das Gemeindeweſen der Kern aller Selbſtver-
waltung, die Gemeinde die Heimath der freien Verwaltung, und ein
Volk ohne freie Gemeinde trotz aller freien Verfaſſung ein nicht freies,
ſondern adminiſtrativ unfreies Volk. Deßhalb ſagen wir, daß die Ver-
faſſung nur der erſte, die freie Verwaltung in der Gemeinde aber der
zweite Schritt zur Freiheit des Volkes ſei. Und die Geſchichte des Ge-
meindeweſens beweist zu allen Zeiten und in allen Völkern, daß in ihm
der Maßſtab der inneren Freiheit gegeben iſt.
So lange nun das Gemeindeweſen allein auf hiſtoriſch entſtandenen
Ortsgemeinden beruht, iſt eine organiſch entwickelte Selbſtverwal-
tung nicht möglich, weil die Ortsgemeinden bei gleichen Aufgaben
und gleichen Rechten ſo verſchieden in Umfang und Kraft ſind, daß
der bei weitem größte Theil derſelben unfähig erſcheint, die Organe der
Verfaſſung und Verwaltung bei ſich auszubilden. Die Zukunft des
Gemeindeweſens liegt daher in der Bildung von Verwaltungsgemein-
den, für deren Beſchlüſſe die Ortsgemeinde das vollziehende Organ iſt.
Die bisherigen Verſuche der Kreis- und Bezirksgemeinden ſind nur noch
der erſte Beginn dieſer höheren Organiſation, da ſie meiſt entweder
bloß Rathskörper an der Seite der Beamteten, wie namentlich in
Frankreich (Arrondissements und Souspréfets) oder Verbände mit
einer einzelnen Aufgabe ſind, wie in England. Deutſchland wird die
Arbeit und die Ehre haben, die Verwaltungsgemeinde aus der Orts-
gemeinde zu erſchaffen, und damit das wahre Syſtem der Selbſtver-
waltung zu verwirklichen.
Die Corporationen endlich ſind Selbſtverwaltungskörper für
einen beſtimmten einzelnen Zweck auf Grundlage eines eigenen Ver-
mögens. Sie ſind wieder entweder Körperſchaften, welche die ein-
heitliche, öffentliche Organiſation einer Berufsthätigkeit enthalten, oder
Stiftungen, deren Mittel für einen ſocialen Zweck verwaltet werden.
Die Organiſation der erſteren beruht daher meiſtens auf ſtändiſchen Prin-
cipien, die des zweiten auf den individuellen Vorſchriften der Stifter.
Beide gehen in Staatsanſtalten über, wenn der Staat ihnen für die
wachſende Bedeutung ihrer Aufgabe die Mittel aus ſeiner Verwaltung
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Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/51>, abgerufen am 24.11.2024.
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